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rüh am nächsten Morgen brachen unsere Reisenden
auf. Kodar, der mit den Tränen kämpfte, erklärte ihnen, sein
Väterchen sei in der Nacht gestorben, das
Wiedersehen mit dem alten Freund sei ihm also nicht
mehr vergönnt gewesen. Sauerampfer und Trix sprachen
ihm ihr Beileid aus. Ian und Hallenberry verstanden von
alldem kein Wort, doch Trix wollte sie aus irgendeinem
Grund nicht in die abenteuerliche Geschichte der letzten
Nacht einweihen.
Nachdem sie das Dorf hinter sich gelassen hatten –
wie immer wussten die Bewohner natürlich schon, was
geschehen war –, gelangten sie wieder auf eine ordentliche Straße.
Nach einem Blick auf eine Karte erklärte
Sauerampfer, sie durchquerten jetzt die Ländereien des
Barons Ismund. Als Trix scharf nachdachte, erinnerte er
sich, dass die Vorfahren des Barons Adlige aus Samarschan waren,
die nach dem verlorenen Krieg lieber zu
Gefolgsleuten König Marcels des Vernünftigen geworden waren, statt
voller Schmach in den glutheißen Gebieten ihrer Heimat hocken zu
bleiben. Ian, der sehr stolz
auf seine Ausbildung im Waisenhaus war, wusste zu berichten, dass
das Baronat für seine Rennpferde, Hunderennen, Hahnenkämpfe,
Kampffische, Glücksspiele und
Gladiatorenkämpfe (aber nicht auf Leben und Tod, denn
aus Liebe zu seiner zweiten Frau hatte Marcel der Überraschende es
allen Gladiatoren verboten, sich gegenseitig
in der Arena umzubringen) berühmt war. Sauerampfer
konnte ergänzen, dass die Magie im Reich Ismunds nur
schwach entwickelt war und es keine namhaften Zauberer
hervorgebracht hatte. Hallenberry wollte wissen, ob die Untertanen
des Barons noch die berühmte Samarschaner Halva herstellten oder ob
sie das inzwischen verlernt hatten.
Im Baronat lebten zwar etliche Samarschaner, diese unterschieden
sich heute jedoch kaum noch von anderen Bürgern des Königreichs.
Das bodenlange Gewand war Hemd und Hosen gewichen, die Frauen
versteckten ihren Mund nicht mehr unter einem festen Verband (die
Samarschaner meinten, eine anständige Frau dürfe ihren Mund keinem
Fremden zeigen; wahrscheinlich sorgten die Männer auf diese Weise
aber nur dafür, dass ihre Frauen allen Feierlichkeiten fernblieben
und nicht in Gegenwart Dritter an ihnen herumnörgelten). Man hielt
Hühner, obwohl die Samarschaner sie früher als schmutzige Tiere
verachtet hatten, denn Hühner fraßen Würmer, und Würmer fraßen
Tote, weshalb derjenige, der ein Huhn aß, seine eigenen Vorfahren
verspeiste. Das Einzige, was die Herkunft dieser Leute verriet,
waren die etwas dunklere Haut und die leicht schrägen
Augen.
Da es genügend Dörfer gab, konnten unsere Reisenden drei Nächte
hintereinander in Schenken schlafen. Am vierten Tag jedoch, als sie
in der Ferne schon die Türme Gibeas, der Hauptstadt des Baronats,
sahen, erlebten sie eine schlimme Überraschung.
Zunächst fing es an zu regnen, ein hässlicher Herbstregen, der sich
für den allzu langen Altweibersommer rächte. Die Straßen weichten
im Nu auf. Der edle Hengst des Zauberers stellte sich unvermutet
als Trampeltier heraus: Er rutschte aus und fiel hin, sodass
Sauerampfer in einer Pfütze landete.
Nachdem Radion das dumme Pferd gewaltig ausgeschimpft hatte, redete
er wieder beruhigend auf den Hengst ein und untersuchte sein Bein.
Die Diagnose stimmte ihn nicht gerade heiter.
»Das braucht einen Monat«, sagte er, während er das geschwollene
Bein des Tiers verband. »Veterinärmagie ist nicht meine Stärke. Das
Pferd hinkt. Wenn wir in der Stadt sind, müssen wir es verkaufen.«
Sauerampfer zog einen mageren Beutel aus seiner Tasche, schaute
hinein und fügte traurig hinzu: »Und ein neues kaufen. Auch wenn es
nur zu einer Schindmähre reichen wird.«
Nun, da der Hengst lahmte, musste Sauerampfer den Rest des Weges zu Fuß zurücklegen. Am Stadttor erkundigte er sich nach der Adresse des nächsten Pferdehändlers sowie des nächsten Schlachters. Das Pferd schnaubte erschrocken.
Zum Glück des Tiers nannte der Pferdehändler selbst nach einem Blick auf das verletzte Bein noch einen guten Preis. Damit entfiel der Besuch beim Schlachter. Sauerampfer verkaufte auch noch den Wagen samt Stute, was ihn wieder heiterer stimmte und die nächste Schenke ansteuern ließ. Nachdem er gegessen und eine Flasche Wein getrunken hatte, war der Zauberer ein rundum zufriedener Mann. Für Trix, Ian und Hallenberry hatte er ein Zimmer gemietet, er selbst brach auf, um das »berühmte Nachtleben Gibeas« kennenzulernen.
Trix sollte es recht sein. Die drei Jungen waren so müde, dass sie auf der Stelle ins Bett fielen. Hallenberry schlief sofort ein, Ian zog immerhin vorher die Stiefel aus. Annette sah kurz zum Fenster in den immer stärker werdenden Regen hinaus und kroch dann in die Tasche von Trix’ Umhang.
Auch Trix blieb nicht mehr lange wach. Im Licht
der einzigen Kerze betrachtete er noch das Buch Tiana und kämpfte gegen die Versuchung an, es zu
öffnen und zu lesen. Schließlich schob er es unters Kopfkissen,
blies die Kerze aus und schlief ein.
Am Morgen fanden sie Radion Sauerampfer im Zimmer vor, obwohl Trix
sich genau erinnerte, vor dem Schlafengehen die Tür verriegelt zu
haben. Der Zauberer war mürrisch und einsilbig, anscheinend hatte
die Bekanntschaft mit dem Nachtleben der Stadt ihm keine rechte
Freude gebracht.
»In einer guten Kutsche brauchen wir bis zur Hauptstadt weniger als eine Woche«, erklärte er, ohne sich an jemand Bestimmten zu wenden. »Zu Fuß drei Wochen. Wenn es schneit, noch länger.«
»Hier schneit es nicht oft«, sagte Ian. »Und
was sind schon drei Wochen …«
»Zauberer gehen nicht zu Fuß!«, entgegnete Sauerampfer stolz. »Und
drei Wochen … für dich mag das nichts sein, aber für mich, der ich
nicht mehr jung bin, ist das ein beachtlicher Zeitraum!«
Da Trix wusste, wie viel Sauerampfer gestern für das Pferd und den
Wagen erhalten hatte, erkundigte er sich schüchtern: »Reicht unser
Geld denn nicht, um eine Kutsche zu mieten?«
»Jetzt nicht mehr«, knurrte der Zauberer.
»Dann müssen wir wohl etwas verdienen«, schlug Trix vor.
»Merk dir eins, mein Junge: Mehr als alles andere auf der Welt …
das heißt natürlich, gleich nach dem Zufußgehen … mögen Zauberer es
nicht … zu arbeiten!« Das letzte Wort spie Sauerampfer voller
Verachtung aus. »Wir Magier lieben es, uns Zaubersprüche
auszudenken. Den Wettstreit untereinander! Sogar den Kampf! Aber
arbeiten …« Er verstummte kurz, um dann fortzufahren: »Aber uns
bleibt wohl nichts anderes übrig. Allerdings habe ich nicht die
Absicht, Händlern zu helfen, sich eine goldene Nase zu verdienen.
Wasch dich und bring die Umhänge in Ordnung, wir gehen zu einer
Audienz zum Baron!« »Mein Umhang ist sauber!«, prahlte
Trix.
»Aber meiner nicht!«, fuhr ihn Sauerampfer an. »Und bitte in der
Küche um ein Stück Fett, das wickelst du in einen Lappen ein und
bringst meine Stiefel auf Hochglanz. Halt, Trix, jetzt fällt mir
etwas ein! Kennst du Baron Ismund vielleicht? Oder kannte dein
Vater ihn?«
»Ich glaube nicht«, sagte Trix.
»Er soll ein seltsamer Mann sein, dieser Ismund«, erklärte
Sauerampfer. »Das Volk liebt ihn. Aber alle versichern, dass sich
der Baron auf nichts besser versteht als aufs Glücksspiel. Gut,
mach dich jetzt an die Arbeit!«
Trix brauchte nicht lange, um den Umhang des Zauberers zu säubern
und die Schuhe mit Speck zu polieren. Sauerampfer wusch sich
derweil in einem Zuber und rieb sich mit südlichen Duftwässern ein
(wahrscheinlich als Tribut an die Samarschaner Wurzeln des Barons).
Ian und Hallenberry sollten sich in ihrer Abwesenheit anständig
benehmen, einsame Orte meiden (Sauerampfer deutete an, im nahen
Samarschan würden minderjährige, hellhäutige Sklaven sehr
geschätzt) und zum Abend in die Schenke zurückkehren. Mehr als alle
anderen erschreckte diese Warnung Annette. Sie wollte von Trix
wissen, ob sie gebraucht werde, und bot von sich aus an, ein Auge
auf die Jungen zu haben.
»Eine Blumenseele«, bemerkte Sauerampfer, als er und Trix die
Schenke verließen. »Immer am Schimpfen – aber am Ende macht sie
sich doch Sorgen. Magische Wesen tragen eben nicht immer nur das
Böse in sich.«
»Glaubt Ihr, dass uns der Baron hilft, Herr Zauberer?«, fragte
Trix.
»Was meinst du denn? Was hätte dein Vater gemacht, wenn ein … äh …
ein bekannter und respektierter Zauberer zu ihm gekommen wäre, der
um eine Kutsche gebeten hätte, weil er in einer wichtigen
Angelegenheit zum König in die Hauptstadt muss?«
»Das hätte von seiner Laune abgehangen«, antwortete Trix ehrlich.
»Abends und angeheitert hätte er sie ihm vielleicht gegeben. Aber
morgens und grummelig – da hätte er den Zauberer weggejagt. Oder
ihm irgendein Lügenmärchen aufgetischt.«
»Ismund trinkt keinen Tropfen«, sagte Sauerampfer.
»Dann hängt noch viel von den Hofmagiern ab«, fuhr Trix fort. »Die
halten sich ja alle für die Größten. Wenn mein Vater irgendeinem
anderen Zauberer etwas gegeben hätte, wäre unser Hofmagier sauer
gewesen und hätte auch etwas gewollt.«
»Verstehe«, brummte Sauerampfer.
»Obwohl mein Vater eigentlich gut … war.« Trix verstummte und
wandte den Blick ab.
Eine Zeit lang liefen sie schweigend weiter, bis der Zauberer
schließlich seine Hand auf Trix’ Schulter legte: »Schäme dich
deiner Tränen nicht, mein Schüler. Es ist gut, dass du deine Eltern
liebst! Aber wir alle sterben, früher oder später.«
»Bis auf die Vitamanten«, sagte Trix, der sich seiner Schwäche doch
schämte.
»Hättest du lieber einen Vater wie Ritter Aradan gehabt?«, fragte
Sauerampfer. »Und er war ja noch nicht mal ein wiederbelebter
Toter, sondern ein Lich. Außerdem entgeht am Ende eh niemand dem
Tod!«
»Was kommt eigentlich nach dem Tod?«, fragte Trix.
»Darüber gibt es unterschiedliche Auffassungen«, antwortete
Sauerampfer bereitwillig. »Einige Wissenschaftler behaupten, der
Tod sei das allumfassende Nichts. Was für ein Unsinn! In den Sagas
der Barbaren heißt es, kühne Krieger bekämen nach dem Tod ein
Schloss, jede Menge schöner Frauen, einen Haufen Diener, ein
persönliches Schlachtfeld sowie eine unbegrenzte Zahl von Feinden.
Wenn du mich fragst, ist das ebenso ermüdend wie langweilig. Die
Samarschaner Mystiker glauben daran, dass nach dem Tod die Höchste
Gottheit alle Sünden sammelt und an deine Füße hängt, während sie
aus den guten Taten ein Seil knüpft. An diesem Seil musst du dann
aus der Schlucht der Leiden auf den Berg der Wonnen klettern. Dabei
darf die Höchste Gottheit dich anpusten. Ich erinnere mich leider
nicht mehr, in welchen Fällen von unten und in welchen von oben
…«
Trix, der sich in Fragen der Theologie nicht sonderlich gut
auskannte, war so fasziniert von dem Thema, dass die eines
Zauberers unwürdigen Tränen von selbst auf seinen Wangen
trockneten.
»Unsere Priester glauben, früher hätten siebzehn Götter und
Göttinnen die Welt beherrscht, die aber alle nur unterschiedliche
Aspekte der Persönlichkeit jener Höchsten Gottheit darstellten.
Mach dir mal klar, wie komplex und vielseitig diese sein muss! Es
gab einen Gott des Krieges, einen der Medizin, des Wetters und so
weiter und so fort. Irgendwann langweilte es die Höchste Gottheit
aber, sich von außen mit den Kleinigkeiten der Menschen zu
befassen, und sie beschloss, selbst die Gestalt eines Menschen
anzunehmen, ein Leben voller Schmerzen und Entbehrungen zu
durchleben und auf diese Weise das Menschengeschlecht und die ganze
Welt zum Besseren zu verändern.«
»Hat das geklappt?«
»Auch darüber ist man sich nicht ganz einig«, antwortete
Sauerampfer seufzend. »Die Orthodoxen glauben, ja. Deshalb würden
die Menschen nach dem Tod jetzt auch in eine schöne neue Welt
kommen. Die Häretiker dagegen behaupten, dass die Höchste Gottheit
nach dieser Erfahrung dermaßen von den Menschen enttäuscht war,
dass sie die Welt für immer verlassen und sich der Selbsterkenntnis
verschrieben habe. Ihrer Ansicht nach schweben alle Menschen nach
dem Tod als unsichtbare Geister um die Höchste Gottheit herum und
warten darauf, dass sie mal Zeit für sie habe. Die Medizinmänner in
den Bergen sind wiederum davon überzeugt, dass die Gottheit schlafe
und unsere Welt ihr Albtraum sei. Nach dem Tod würden die Menschen
neu geboren, ohne sich an etwas aus ihrem vergangenen Leben zu
erinnern. Gute Menschen werden klug, schön und reich wiedergeboren,
schlechte als monsterhafte arme Dummköpfe. Deshalb töten die
Bergmenschen normalerweise gleich alle Missgeburten, verkaufen die
Armen als Sklaven und verspotten die Dummen, weil diese Menschen in
ihrem letzten Leben schlimme Fehler begangen haben.«
»Und wer hat nun recht?«, fragte Trix.
»Wer soll das wissen?« Sauerampfer zuckte mit den Achseln. »Ein
paarmal haben große Zauberer versucht, sich mithilfe der Magie mit
der Höchsten Gottheit in Verbindung zu setzen und zu erfahren,
worin der Sinn des Lebens besteht und was nach dem Tod auf uns
wartet. Die Erste Vollversammlung der Zauberer hat zum Beispiel mit
vereinten Kräften einen derart kräftigen Fragezauber zustande
gebracht, dass sie sogar eine Antwort bekamen.«
»Welche?«
»Ein Geranientopf am Fenster ist mit greller Flamme explodiert und
hat drei Tage und drei Nächte gebrannt. Vom Himmel fiel eine
Mohrrübe mitten auf den Tisch, um den die Zauberer saßen. Und alle
verheirateten Magier bekamen grüne Haare.«
»Und was heißt das?«
»Fünf Zauberer haben den Verstand verloren, als sie versuchten,
diese Frage zu beantworten. Die anderen haben daraufhin hübsch die
Finger von der Sache gelassen, die Geranie mit einem Eimer Wasser
gelöscht, die Mohrrübe gegessen und die Haare gefärbt. Es
übersteigt die Kräfte von uns Menschen, zu begreifen, wie und was
jene Gottheit denkt, Trix! … Oh, wir sind da.«
Der Palast von Ismund hatte nichts von einem Samarschaner Schloss,
es war ein strenger Bau mit Säulen am Eingang und einem gewaltigen
Giebeldreieck darüber. Vermutlich unterstrich der Baron damit, dass
er trotz fremder Herkunft treu zum Königreich hielt.
Das Tor in den Palast stand offen, die Wache ließ den Zauberer und
seinen Schüler passieren, ohne eine einzige Frage zu stellen. Dafür
wurde Sauerampfer im Palast sofort von einem älteren, Autorität
ausstrahlenden Mann hinter einem großen Schreibtisch angesprochen.
Er war recht ungewöhnlich gekleidet, trug Lackschuhe, gerade
geschnittene Hosen und einen Gehrock unbequemen Schnitts, beides
schwarz, und ein weißes Hemd. Um den Hals hatte er sich – was auch
immer das sollte – ein knallrotes Band gebunden, das fast bis zum
Bauchnabel hinunterhing. Noch bevor Sauerampfer etwas sagen konnte,
stellte er klar: »Ich bin der Unterzeremonienmeister des Barons.«
Daraufhin reichte er Sauerampfer ein Pergament. »Wer um eine
Audienz ersucht, muss diesen Antrag ausfüllen.«
»Ich bin Zauberer!«
»Sehr schön! Dann könnt Ihr mehr oder weniger fehlerfrei
schreiben.«
»Und was wäre, wenn ich überhaupt nicht lesen und schreiben
könnte?«, fragte Sauerampfer.
»Dann müsstet Ihr Euch einen Schreiber mieten. Sie sitzen auf der
Bank da drüben und warten auf Kundschaft.«
»Und wenn ich kein Geld hätte, um einen Schreiber zu
bezahlen?«
»Wollt Ihr damit andeuten«, erwiderte der Unterzeremonienmeister in
giftigem Ton, »ein ungebildeter und armer Mann dürfe dem Baron die
Zeit stehlen?«
»Verstehe«, sagte der Zauberer mürrisch und schnappte sich das
Pergament.
»Dann bekomme ich von Euch einen Silberling für den Antrag«, teilte
der Unterzeremonienmeister mit.
Sauerampfer grunzte, zahlte aber anstandslos.
»Ich habe schon davon gehört«, sagte er zu Trix. »Das nennt sich
Schreibtischmacht.«
»Schreibtischmacht?«
»Genau. Da werden alle Anliegen entschieden, indem Papiere
ausgefüllt werden, die eine besondere Spezies von Menschen
durchsieht: die Beamten. Das ist natürlich die reinste Idiotie, ich
könnte dem Kerl all das mit Worten fünf Mal schneller erklären.
Aber ich wollte schon lange einmal sehen, wie dieses System
funktioniert. Gute Güte! Vierunddreißig Fragen!«
Sauerampfer setzte sich an einen abseitsstehenden freien Tisch, sah
verächtlich auf die alte, stumpfe Feder, die neben einem Tintenfass
mit eingetrockneter Tinte lag, und entnahm einem wildledernen Etui
einen wunderschönen Silberstift.
»Mal sehen: Antrag auf Inanspruchnahme einer Audienz. Name und
Beiname: Radion Sauerampfer. Frühere Namen und Beinamen, falls
vorhanden. Hm. Hatte ich nie. Alter: Na, sagen wir mal … Geschlecht
… Machen die sich über mich lustig? Männlich! Früheres Geschlecht,
falls vorhanden …« Er sah Trix verblüfft an. »Ich will doch hoffen,
dass diese Fragen irgendeinen Sinn haben!« Während er den Antrag
weiter ausfüllte, brabbelte er immer wieder vor sich hin: »Name des
Vaters. Name der Mutter. Verwandte in Samarschan oder auf den
Kristallenen Inseln. Zustand bei der Geburt: Mensch oder ein
anderes Wesen. Geplante Attentate gegen Königreich und König.
Geplante Attentate gegen den Baron. Wie fürchterlich penibel!
Ausfall des ersten Milchzahns im Alter von …« Diese Frage ließ
Sauerampfer innehalten. »Bestimmt müssen die auch das wissen«,
sagte er. »Aber wozu? Allerdings erinnere ich mich absolut nicht
daran! Wann sind deine Milchzähne ausgefallen?«
»Ich weiß es auch nicht mehr«, sagte Trix. »Wir müssten Hallenberry
danach fragen.«
»Egal, wir schreiben einfach, mit fünf Jahren«, entschied der
Zauberer. »Ich glaube, das müsste in etwa stimmen … In welchem
Alter hörte das nächtliche … Nein, die machen sich wirklich über
uns lustig!«
Die übrigen Fragen beantwortete Sauerampfer meist schweigend, nur
hin und wieder las er noch eine verärgert vor. Bei der letzten
Frage – Ziel des Besuchs – trug er das schöne Wort »Audienz« ein
und begab sich anschließend zum Unterzeremonienmeister.
»Ihr hättet den Antrag mit Tinte ausfüllen müssen«, klärte der
Beamte ihn auf, ohne auf das Papier zu sehen.
»Warum habt Ihr das nicht gleich gesagt?«, blaffte Sauerampfer.
»Oder als Ihr gesehen habt, dass ich mit einem Silberstift
schreibe?«
»Ich bin nicht verpflichtet, darauf zu achten, womit Ihr
schreibt!«, giftete der Unterzeremonienmeister. »Und auch nicht,
allen alles zu erklären. Hättet Ihr gefragt, hätte ich
geantwortet!«
»Gut«, sagte Sauerampfer und schnappte sich das Pergament. »Das
Wort ist das Arbeitsmittel des Magiers, und belanglos ist, womit es
geschrieben ist, mit Silberstift, Tinte oder Herzblut! Das Wort
trägt in sich den Sinn, der sich nicht durch die Form ändert. So
unterwerfen sich die Worte dem Willen des mächtigen Magiers und
verändern auf diesem Pergament ihre äußere Form, verwandeln sich
aus Silberstiftstrichen in Tintenlinien, aus der allerbesten Tinte,
die es auf der Welt gibt, gewonnen aus einem Tiefseetintenfisch und
ausgewählten Alaunen.«
Der Beamte spähte mit einem Anflug von Neugier auf das Pergament.
Die Zeilen schienen jetzt mit Tinte geschrieben.
»Ein Zauberer also«, murmelte er. »So, so. Und Ziel des Besuchs ist
eine Audienz? Das klingt irgendwie seltsam.«
»Warum?«, fragte Sauerampfer.
»Weil … im Antrag gefragt wird, was das Ziel der Audienz ist, und
Ihr antwortet, eine Audienz!«
»Habe ich damit gelogen?«
»Das ist doch wohl keine Antwort!«
»Warum nicht? Wenn ich ›Audienz?‹ geschrieben hätte, mit einem
Fragezeichen, dann wäre es keine Antwort gewesen, sondern eine
Frage. Wenn ich ›Audienz …‹ geschrieben hätte, mit drei Pünktchen,
dann wäre es keine Antwort gewesen, sondern eine Überlegung, was
das Ziel des Besuchs sein könnte. Aber ich habe ›Audienz‹
geschrieben. Und einen Punkt gesetzt. Und damit eine Antwort
gegeben!«
Im Blick des Beamten spiegelte sich ein Anflug von Respekt wider.
»Ihr wollt nicht zufällig in den Staatsdienst eintreten?«, fragte
er. »Der Baron beabsichtigt, die Praxis der Schreibtischmacht in
großem Maßstab im Baronat einzuführen, später sogar im ganzen
Königreich. Ich kann Euch versichern, Ihr hättet hier eine
Zukunft!«
»Meine Zukunft ist die Magie!«, antwortete Sauerampfer.
»Gewiss doch.« Der Beamte lächelte süffisant. »Denkt trotzdem
einmal darüber nach, Ihr seid wie geschaffen für die
Schreibtischmacht. Die Vergütung ist übrigens nicht schlecht,
darüber hinaus zahlt Ihr in Schenken nur den halben Preis und
bekommt in drei Jahren ein Haus aus der Staatskasse. Sobald Ihr
weit genug aufgestiegen seid, habt Ihr das Recht auf eine
Dienstkutsche mit Glöckchen.«
»Mit Glöckchen?«
»Gewiss doch! Wenn das Glöckchen klingelt, müssen Euch alle Platz
machen. Ich versichere Euch, Ihr würdet Eure Entscheidung nicht
bereuen!«
»Ich werde darüber nachdenken«, sagte Sauerampfer giftig.
»Tut das. Und schiebt die Sache nicht auf die lange Bank!«, empfahl
der Beamte. »Ihr müsst die Treppe hinauf, dort zeigt Ihr dem
Wachposten dieses Schriftstück hier, dann wird man Euch in den
Thronsaal vorlassen. Die Audienz beginnt in zehn
Minuten.«
Den von Radion ausgefüllten Antrag ließ der Beamte unbesehen in
einem Fach seines Schreibtischs verschwinden.
»Und wozu habe ich dann den Antrag ausgefüllt?«, fragte
Sauerampfer.
»Der wird zu seiner Zeit geprüft, keine Sorge«, versicherte der
Mann lächelnd. »Beeilt Euch jetzt!«
Nachdenklich und ernst stieg Sauerampfer die Treppe hoch. Erst als
die Wache ihn in den Thronsaal führte, wurde der Zauberer wieder
munter.
Der Thronsaal war wirklich beeindruckend! Er war weiträumig und
rund, der elegante Thron von einer Größe, wie es sich für einen
Baron ziemt. Vor dem Herrscherstuhl stand eine niedrige Bank, auf
dem Boden lag ein prachtvoll gemusterter Teppich, die Kuppeldecke
war mit bunten Bildern ausgemalt: mit Pferden, die leichtfüßig
durch eine Arena stürmten, mit Kampfhunden, die sich gegenseitig in
den Nacken bissen, mit graubärtigen Männern, die sich über schwer
zu durchschauende Spiele beugten, und mit Gladiatoren, die mit
funkelnden Schwertern um sich schlugen.
»Scheint zu stimmen, was über ihn behauptet wird«, murmelte
Sauerampfer, den Kopf in den Nacken gelegt. »Ein Glücksspieler
…«
»Ist das schlecht?«, fragte Trix.
»Was? Nein, nein. Das ist nicht schlecht. Alle Zauberer lieben das
Glücksspiel …«
Eine der in den Saal führenden Türen wurde aufgerissen und der
Herold verkündete feierlich: »Seine Hochwohlgeboren, der edle Baron
Ismund, fürsorglicher Schutzherr seines Volkes und treuer Diener
der Krone!«
Sauerampfer und Trix verbeugten sich. Schmerzlich schoss Trix der
Gedanke durch den Kopf, dass sich eigentlich der Baron Ismund vor
ihm, dem Co-Herzog, hätte verbeugen müssen. Er schob den Gedanken
jedoch beiseite und führte die Verbeugung sogar etwas tiefer aus,
als die Etikette es verlangte.
»Gäste! Wunderbar! Wie ich mich über Gäste freue! Vor allem über
Reisende! Vor allem über Zauberer!«, rief der Baron. »So richtet
Euch doch auf, richtet Euch auf! Lassen wir die Zeremonien der
Vergangenheit, seien wir modern!«
Der Baron war recht klein, füllig und hatte ein frisch rasiertes
Gesicht, verschmitzte Augen und ein breites Lächeln, mit dem er
gesunde weiße Zähne entblößte. Er war leger angezogen, mit einem
gewissen Samarschaner Touch, der sich in weiten Pluderhosen und
einem lockeren Hemd darüber zeigte. Vielleicht liebte er aber auch
nur weite Kleidung – wie die meisten Dicken.
»Radion Sauerampfer«, stellte sich der Zauberer vor. »Mein Schüler
Trix Solier.«
»Solier?«, hakte der Baron nach. »Womöglich ein Verwandter des
seligen Co-Herzogs?«
»Sein Sohn«, antwortete der Zauberer.
»Wie furchtbar!«, rief der Baron aus. »Der Thronerbe ist gezwungen,
durch die Lande zu streifen und seinen Lebensunterhalt mit Magie zu
verdienen! Ist der Zauberer auch gut zu dir, mein Junge?«
Trix nickte.
»Wunderbar«, sagte der Baron. »Was führt Euch zu mir, Herr
Sauerampfer?«
»Wir wollen zu Seiner Majestät dem König«, erklärte der Zauberer
feierlich.
»Vermutlich, um Gerechtigkeit zu fordern?«, fragte der Baron. »Sehr
vernünftig, das kann ich nur gutheißen!« Er rieb sich die Hände und
setzte sich auf die Kante des Throns. Nach kurzem Schweigen wollte
er wissen: »Aber was führt Euch da zu mir?«
»Die betrüblichen Umstände der Reise«, sagte Sauerampfer. Sofort
setzte der Baron eine traurige Miene auf. »Mein Pferd hat sich das
Bein gebrochen.«
»Ein Albtraum!«, rief der Baron aus. »Wie leid mir das tut, dass
sich Euer Pferd das Bein gebrochen hat!«
»Genauer gesagt nicht gebrochen, sondern verletzt«, präzisierte
Sauerampfer. »Dennoch musste ich es verkaufen. Doch der Weg in die
Hauptstadt ist lang …«
»Ihr wollt Geld«, folgerte der Baron seufzend. »Geld …« Er erhob
sich und lief vor dem Thron auf und ab. »Oh, glaubt nicht, wir
hätten kein Geld. Wir haben es, sogar mehr als genug. Und dem
berühmten Zauberer Sauerkohl …«
»Sauerampfer!«, platzte der Zauberer heraus.
»Oh, verzeiht!« Der Baron winkte ab. »Botanik war nie meine Stärke.
Einem Zauberer zu helfen ist jedenfalls die Pflicht eines jeden
Staatsmannes. Schließlich geht Ihr stets bereitwillig auf unsere
bescheidenen Bitten ein, tragt gemeinsam mit uns die Last der
Staatsangelegenheiten, obendrein völlig selbstlos …«
Sauerampfer trippelte unbehaglich von einem Fuß auf den
anderen.
»Schweigt, schweigt!«, rief der Baron aus. »Auf Komplimente bin ich
nicht erpicht, das sind nur leere Worte. Ihr müsst verstehen, worum
es geht, mein Freund! Es wäre nicht richtig, wenn der Baron sein
Geld einfach so hergeben würde. Während die Kinder in den
Elendsvierteln hungern, während Handwerksmeister in jämmerlichen
Hütten hausen, während die Goldstickerinnen um ein neues
Geburtshaus flehen. Was werden sie über ihren Baron sagen, wenn
dieser sein Geld mir nichts, dir nichts an Fremde gibt?«
»Ich würde mich glücklich schätzen, Euer Hochwohlgeboren meine …
unsere Dienste anzubieten«, presste Sauerampfer hervor.
»Was genau meint Ihr?«, wollte der Baron wissen. »Gold?
Unsterblichkeit? Die Wettervorhersage?«
»Das sind Bereiche, in denen die Magie nichts auszurichten vermag«,
nuschelte Sauerampfer.
»Wohl wahr! Ihr Magier liebt es, Feuerkugeln zu schleudern, Städte
in Asche zu verwandeln und Monster herbeizurufen«, sagte der Baron.
»Gut. In dem Fall schlage ich vor, wir spielen um die Hilfe. Soll
der Zufall entscheiden!«
»Schach?«, fragte Sauerampfer voller Hoffnung. »Oder
Karten?«
»Oh nein!« Der Baron winkte ab und zeigte auf drei Türen, die aus
dem Saal herausführten. »Das ist mein Lieblingsspiel«, sagte er.
»Hinter diesen Türen … he, Herold, kümmert Euch darum! Hinter zwei
Türen hat eine Ziege zu stehen, hinter der dritten eine Kutsche.
Gut, keine richtige Kutsche, sondern ein Rad. Bringt das Rad,
geschwind! Ihr zeigt auf eine der Türen. Wenn dahinter eine Ziege
steht, müsst Ihr ein Jahr bei mir bleiben und mir dienen. Wenn
dahinter eine Kutsche ist …«
»Genauer ein Rad«, fiel ihm Sauerampfer ins Wort.
»Kluge Anmerkung!«, lobte der Baron. »Wenn dahinter ein Rad ist,
überlasse ich Euch meine private goldene Kutsche samt Garde und
Koch mit Lebensmittelvorräten. Ja, ich gebe Euch sogar Wein
mit!«
»Ich fürchte, Herr Baron, auf diese Bedingungen …«, setzte
Sauerampfer an.
»Meine Güte verwirrt Euch!«, rief der Baron. »Aber natürlich würdet
Ihr es nie wagen, mich durch eine Ablehnung zu
beleidigen!«
Daraufhin sagte Sauerampfer kein Wort. Der Baron zerfloss in einem
strahlenden Lächeln.
Trix schluckte, denn seine Kehle war auf einmal ganz trocken, und
trat vor. »Euer Hochwohlgeboren!«
»Nenn mich einfach ›mein Baron‹«, sagte Ismund. »Du und ich, wir
sind doch beide von Adel.«
»Mein Baron, überlasst mir die Wahl«, bat Trix. »Für Herrn
Sauerampfer ist das eine allzu leichte Probe, es wäre nicht fair
von unserer Seite, wenn er die Wahl übernähme.«
Sauerampfer riss die Augen auf, sagte jedoch kein Wort.
»Von mir aus«, willigte der Baron sofort ein. »Aber bedenke eins,
junger Mann: keine Magie! Meine Zauberer werden den Verlauf des
Spiels genau verfolgen. Ehrlich gesagt beobachten sie uns schon
geraume Zeit durch geheime Öffnungen in den Wänden und der
Decke.«
»Keine Magie«, versprach Trix. »Aber ich schlage vor, die
Bedingungen leicht abzuändern.«
»Wie?«, fragte der Baron neugierig.
»Der blinde Zufall soll unser Spiel nicht entscheiden. Lasst mich
zehnmal … nein, neunmal, damit wir ein Unentschieden von vornherein
ausschließen, wählen. Wenn ich öfter eine Ziege erwische, dienen
wir Euch ein Jahr. Wenn öfter das Rad kommt, kriegen wir die
Kutsche.«
»Mit neun Versuchen?« Der Baron brach in schallendes Gelächter aus.
»Zu gern, mein Junge!«
Sauerampfer drehte sich Trix zu, drückte ihn an sich, rang sich ein
Lächeln ab und flüsterte ihm ins Ohr: »Du hast den Verstand
verloren! Unsere Chancen, zu gewinnen, stehen ohnehin nur eins zu
drei! Bei neun Versuchen verlieren wir garantiert! Das ist
elementare Mathematik!«
»Dankt mir nicht, mein Lehrer!«, sagte Trix laut und befreite sich
aus den kräftigen Armen Sauerampfers. »Und noch ein Vorschlag, Herr
Ismund. Wenn ich mir eine Tür ausgesucht habe, bleiben noch zwei
Türen übrig, stimmt’s?«
»Ja.«
»Könnte nicht eine dieser beiden Türen geöffnet werden? Und zwar
eine, hinter der eine Ziege ist. Danach darf ich noch einmal
überlegen und meine Wahl unter Umständen ändern.«
»Was soll das bringen?«, fragte Ismund.
Trix antwortete nicht.
»Also …« Der Baron dachte nach. »Du führst doch was im Schilde …
Genau bedacht … Ha, du bist mir ein Schlauberger! Wenn du eine von
drei Türen wählst, stehen deine Chancen eins zu drei. Aber wenn ich
eine Tür öffne, hinter der eine Ziege steht, dann stehen deine
Chancen eins zu zwei. Das heißt, unsere Chancen sind gleich. Du
bist wahrlich ein Junge der Zahl!« Er lachte.
Trix schwieg bescheiden.
»Gut«, sagte der Baron, »ich nehme deinen Vorschlag an. Diese
Kenntnisse der Arithmetik gehören belohnt. Aber vielleicht sollen
wir uns nicht mehr Mühe machen als nötig. Warum nehmen wir nicht
gleich nur zwei Türen? Eine Ziege und eine Kutsche.«
»Machen wir uns ruhig ein bisschen Mühe«, erwiderte Trix.
»Das gefällt mir«, sagte der Baron. »Ein echter Spieler strebt
nicht nach schnellem Gewinn! Im Spiel wie in der Liebe ist
schließlich nicht das Tempo entscheidend!«
Der Herold trat an den Baron heran und flüsterte ihm etwas
zu.
»Man hat ein Rad abmontiert und hergebracht.« Der Baron rieb sich
die Hände. »Wohlan! Fangen wir an!«
»Du hast trotzdem den Verstand verloren«, raunte Sauerampfer.
»Unsere Chancen stehen eins zu zwei. Wir gehen besser zu
Fuß.«
»Vertraut mir, Herr Zauberer!«, flüsterte Trix.
Sauerampfer seufzte.
»Nun denn! Die Bedingungen sind klar!«, sagte Ismund fröhlich.
»Alles ist absolut ehrlich! Keine fiesen Tricks! Pan oder Pleite,
Goldkutsche oder Geiß! Ach, ich liebe solche Spiele!
Wähle!«
»Die!« Trix zeigte auf die linke Tür.
»Herrlich!«, sagte der Baron. »Mal sehen …«
Er ging zu den Türen, schaute hinter jede von ihnen und öffnete die
mittlere. »Lässt du die Tür oder wechselst du?«, fragte
er.
»Ich wechsle«, sagte Trix. »Die rechte!«
Der Baron öffnete die rechte Tür. Dahinter lag das Rad. »Glück
gehabt!«, sagte er. »Doch hättest du dein Glück nicht herausfordern
und es bei einem Spiel belassen sollen. He, tauscht die
Plätze!«
Hinter den geschlossenen Türen war ein Rumoren zu hören.
»Welche Tür nimmst du?«
»Wieder die linke«, sagte Trix.
Und wieder schaute der Baron hinter alle Türen, um dann die rechte
zu öffnen.
»Wechsel auf die mittlere«, sagte Trix.
Dahinter lag das Rad.
»Du hast Glück«, sagte der Baron.
Nachdem der Baron zum dritten Mal verloren hatte, dachte er kurz
nach. »Du liest in meinem Gesicht«, sagte er. »Ich habe schon von
geschickten Physiognomikern gehört!«
»Dann verbindet mir die Augen, mein Baron!«, schlug Trix
vor.
Der Baron verband Trix eigenhändig die Augen, danach begann das
Spiel von Neuem.
»Wechsel«, antwortete Trix ein ums andere Mal. »Wechsel. Und noch
mal. Und auch diesmal!«
Als es sechs zu drei für Trix stand, rief der Baron den Herold.
»Bring Wein«, befahl er. »Uns stehen lange und schwierige Spiele
bevor.«
»Aber wir haben doch schon neun …«, setzte Trix an.
»Bin ich dir entgegengekommen?«, ereiferte sich der Baron. »Eben!
Also komm du auch mir jetzt entgegen! Wir starten eine Serie von
hundert Versuchen.«
Hinter einer der Türen stieß jemand einen schweren Seufzer
aus.
»Schon verstanden! Gras für die Ziegen! Die Peitsche für die
Diener!«, brüllte der Baron. »Nein, tauscht die Diener aus! Und
sorgt nach jedem zehnten Versuch für neue!«
Nach weiteren zwanzig Versuchen rief Ismund seine Zauberer und
befahl ihnen, Sauerampfer und Trix genau im Auge zu behalten.
(Nebenbei bemerkt: Der Unglauben auf Sauerampfers Gesicht war
völlig echt.)
»Und wieder Wechsel!«, rief Trix zum hundertsten Mal aus.
»Siebenundsechzig Mal das Rad, dreiunddreißig Mal die Ziege«,
verkündete Radion Sauerampfer das Ergebnis. »Wir haben gewonnen,
Euer Hochwohlgeboren!«
Ismund versank in tiefe Grübeleien. »Das kann nicht sein«, sagte er
schließlich. »Und trotzdem ist es geschehen. Gut. Wie? Ich habe ein
Spiel vorgeschlagen, wobei ich eine Chance von drei zu eins auf den
Sieg hatte. Das verstehe ich. Der Junge …«
»Nennt mich einfach ›junger Soufflöticus‹«, sagte Trix.
»Der junge Soufflöticus«, griff Ismund die Anrede auf, »hat einen
anderen Ablauf vorgeschlagen. Nachdem er eine Tür gewählt hatte,
öffnete ich eine der beiden anderen. Und zwar unbedingt eine mit
einer Ziege dahinter. Er selbst erhält die Möglichkeit, seine Wahl
zu ändern. Damit hat der junge Soufflöticus für Chancengleichheit
gesorgt. Er musste sich nun zwischen einer Tür mit Ziege dahinter
und einer mit Kutsche dahinter entscheiden! Stimmt’s?«
Trix zuckte bloß die Achseln.
»Aber dann hätte die Kutsche fünfzig Mal kommen müssen!«, rief der
Baron. »Und die Ziege auch! Die Chancen standen eins zu eins! Aber
irgendwie hast du es geschafft, dass sie zwei zu eins für dich
standen!«
Trix senkte den Blick.
»Du hast nicht gezaubert?«, fragte der Baron hoffnungsvoll. »Gib es
zu, ja! Wenn du gezaubert hast, verzeihe ich alles. Dann gebe ich
Euch eine Kutsche und lasse Euch ziehen. Ich packe sogar noch
hundert Goldstücke drauf!«
»Sag, dass du gezaubert hast«, riet ihm Sauerampfer.
»Es gehört sich nicht zu lügen«, erwiderte Trix. »Nein, Zauberei
war nicht im Spiel.«
»Das widerspricht jeder Arithmetik!« Der Baron reckte die Arme zum
Himmel, genauer zur Decke. »Das kann nicht sein!«
»Mäh, mäh«, blökte eine müde Ziege.
Plötzlich riss Ismund die Augen auf und schlug sich gegen die
Stirn. »Dass ich darauf nicht gleich gekommen bin! Bringt die
Ziegen weg! Bereitet die Kutsche vor! Der Koch soll Reiseproviant
zusammenstellen und sich für die Abfahrt in die Hauptstadt
bereithalten!«
»Worauf seid Ihr nicht gleich gekommen?«, fragte Trix
erstaunt.
»Du bist einfach ein Glückskind!«, antwortete der Baron strahlend.
»Du bist vermutlich unter einem Glücksstern geboren. Oder in einer
Nacht, als über die Scheibe des Vollmonds der Schweif eines Kometen
wanderte! Anders kann es nicht sein! Ich habe von solchen wie dir
gehört. Ihr habt immer Glück! Wie kommt es denn, dass du den Putsch
überlebt hast? Und nicht durch Erzminen kriechst, sondern
Zauberschüler bist? Eben! Du bist ein geborener Glückspilz! Ein
Schoßkind des Glücks, oder wie immer man euch nennt!«
Trix breitete die Arme aus.
»Du hast mich schön für meine Selbstsicherheit bestraft«, sagte der
Baron in völlig aufgeräumter Stimmung. »Was für ein Schelm du bist!
Aber ich möchte nicht mit dir tauschen. Das raubt dir doch jedes
Vergnügen beim Glücksspiel! Nimm das! Das ist von mir für dich! Das
brauchst du Sauerkraut nicht zu geben!« In Trix’ Hand wanderten
fünf Goldstücke. »Aber von heute an ist dir jede Form von Spiel in
meinem Baronat verboten!« Ismund drohte ihm mit dem Finger. »Keine
Karten, keine Brettspiele! Nichts! Kommt am Abend wieder, dann
steht die Kutsche bereit!«
Kaum hatten Trix und Sauerampfer den Palast des Barons verlassen,
als der Zauberer Trix bei der Schulter packte und in eine Gasse
lenkte.
»Bitte!« Trix kramte beflissen in seiner Tasche nach den
Münzen.
»Die gehören dir, du hast sie ehrlich verdient«, sagte der
Zauberer. »Aber du hättest mich beinahe ins Grab gebracht! Ich
glaube nicht an Glückspilze oder Schoßkinder des Glücks! Gib zu,
dass du irgendwelche Taschenspielertricks angewandt
hast!«
»Hab ich nicht!« Trix war sogar ein wenig beleidigt. »Das ist pure
Arithmetik!«
»Nimm zur Kenntnis, dass ich ebenfalls ein Mann der Zahl bin«,
sagte Sauerampfer. »Hinter einer Tür ist eine Ziege, hinter der
anderen eine Kutsche. Die Chancen stehen eins zu eins.«
»Tun sie nicht!«, rief Trix. »Sowohl der Baron wie auch Ihr
vergesst die dritte Tür! Die, die er geöffnet hat!«
»Was hat die damit zu tun?«, wunderte sich Sauerampfer. »Die ist
längst aus dem Spiel! Wir wählen nur noch zwischen zwei
Türen.«
»Nein, zwischen dreien!«, blieb Trix stur. »Wir haben zwei Türen,
von denen eine offen ist. Was hinter der anderen ist, wissen wir
nicht. Wir haben aber auch noch die dritte Tür, die ich ausgewählt
habe und wo wir auch nicht wissen, was dahinter ist. Wenn ich also
die Tür wechsel, stehen unsere Chancen zwei zu eins! So ist
das!«
»Mach mich nicht wuschig!«, polterte Sauerampfer. »Ich bin kein
Idiot! Was hat die offene Tür damit zu tun, wenn hinter der eh eine
Ziege ist! Es bleiben noch zwei Türen! Hinter einer ist eine Ziege,
hinter der anderen eine Kutsche.
Du wählst zwischen diesen beiden. Die Chancen stehen eins zu
eins!«
»Nein, man muss die offene Tür mitzählen. Das hat mir einer von
Papas Dienern erzählt. Dabei ging es natürlich nicht um Türen. Er
hat da immer ein Spiel mit Fingerhüten gemacht. Drei Fingerhüte,
unter einem ist eine Kugel.«
»Sicher, Hütchen-Kügelchen, das ist ein altes und wenig geachtetes
Spiel aus Samarschan«, sagte Sauerampfer. »Bei dem kommt es einzig
und allein auf Fingerfertigkeit an.«
»Das tut es nicht! Sondern auf Mathematik! Jemand zeigt auf einen
Fingerhut. Der Hütchenspieler hebt eines der beiden anderen Hütchen
hoch. Wenn da die Kugel ist, hat er gewonnen! Wenn da nichts ist,
fragt er, ob der andere seine Wahl ändern will. Niemand ändert sie,
denn alle denken, dass es keinen Unterschied gibt. Aber den gibt
es!«
»Aber das kann nicht sein! Zwei Türen …«
»Nicht zwei, drei!« Trix geriet so in Fahrt, dass er Sauerampfer
anschrie. Zum Glück achtete dieser im Eifer des Gefechts nicht
darauf. »Drei! Und hinter einer ist die Kugel!«
»Welche Kugel?«
»Das Kügelchen! Nein! Die Kugel ist unter dem Fingerhut und hinter
der Tür ist der Karren!«
»Die Kutsche!«
»Von mir aus!«
»Nein, nicht die Kutsche, sondern das Rad!«, korrigierte sich
Sauerampfer. »Du bringst mich aus dem Konzept!«
»Ob Kutsche oder Rad, ist doch egal!«
»Genau! Warum hast du also gewonnen?«
»Weil ich von drei Türen zwei ausgewählt habe und der dumme Baron
nur eine! Deshalb hatte ich die besseren Chancen!«
»Warum?«, jammerte Sauerampfer. »Du wählst doch nur aus zwei Türen!
Die dritte ist ja schon offen! Hinter einer Tür ist ein Rad, hinter
der anderen eine Ziege. Sie verändern ihren Platz nicht, nachdem du
deine Wahl getroffen hast. Du weißt nicht, wo was ist. Die Chancen
stehen eins zu eins! Aber du hast in zwei von drei Fällen gewonnen!
Warum?«
»Wegen der Arithmetik!«
Sauerampfer wandte sich ab und stapfte Richtung Schenke davon. Trix
folgte ihm bedrückt. Er hatte ehrlich versucht, Sauerampfer zu
erklären, was des Pudels Kern war, aber der hatte ihn einfach nicht
verstanden. Ein Mann des Wortes war eben nicht immer auch einer der
Zahl.
Als sie zu ihrem Quartier zurückkamen, schnappte sich Sauerampfer
wortlos drei tönerne Bierkrüge vom Tresen, bestellte zwei Flaschen
Bier und eine Flasche starken Schnaps. Im Zimmer goss er in alle
drei Krüge etwas ein und schob sie mit geschlossenen Augen auf dem
Tisch hin und her. Dann wies er mit listigem Grinsen auf einen der
Krüge.
»Ich glaube, hier ist Schnaps drin!«, sagte er. »Trix, nimm einen
der Krüge mit Bier weg!«
Trix schnupperte an allen Krügen und nahm einen weg.
»Ein einfaches und klares Experiment«, erklärte Sauerampfer. »Du
behauptest also, wenn ich meine Wahl ändere, kriege ich
Schnaps?«
»Die Chancen dafür stehen doppelt so gut«, sagte Trix.
Sauerampfer trank einen Schluck aus dem neu gewählten Krug. Er
runzelte die Stirn und befahl, das Experiment zu wiederholen. Erst
nach dem zehnten Versuch gab er sich geschlagen.
»Starken Schnaps und Bier in diesem Verhältnis zu mischen schadet
der Gesundheit«, sagte er. »Deine Prognose stimmt! Aber ich
verstehe nicht, warum. Weck mich in zwei Stunden«, sagte er, stand
auf und ging zu Bett. »Oder besser in drei. Schließlich haben wir
es hier mit einem schrecklichen Geheimnis zu tun, das den Verstand
völlig benebelt.«
»Das ist nur Arithmetik«, sagte Trix stur. Aber Sauerampfer hörte
ihn schon nicht mehr. Sieben ordentliche Schluck Schnaps und drei
Schluck Bier verlangten das Ihrige: Der erschöpfte und erschütterte
Zauberer war fest eingeschlafen.
Trix nahm sich einen der nicht geleerten Bierkrüge und setzte sich
ans Fenster.