Kapitel fünf
»Es ist eine Schande!« hörte ich eine ältliche Frau ausrufen. Bei einem Blick über die Hecke um den Obelisken, in deren Schutz ich mich niedergekauert hatte, um die Geburt abzuwarten, entdeckte ich zu meinem Schrecken, daß sie und ihr Begleiter (ein etwa gleichaltriger Tourist) in meine Richtung schauten. Doch gleich darauf merkte ich, daß sie mich gar nicht gesehen hatten; ihre Aufmerksamkeit richtete sich auf einen Punkt jenseits des Heckengevierts, und indem ich ihrem Blick folgte, wurde ich der drei in lange, hemdähnliche Gewänder gekleideten Hochaquarier ansichtig, die sich zwischen dem Landungsobelisken und dem Fußweg zum Museum strategisch günstig postiert hatten. Gegen diese drei richtete sich der Unmut des betagten Paares. »Wie können sie es wagen, sich an dieser Stätte zu versammeln!«
Ich faßte mir ein Herz, stand mühsam auf und humpelte den Pfad entlang, während mir das Fruchtwasser die Beine hinunterlief. Bei den Aquas angekommen, gestand ich, ein entlaufener P9 zu sein, der dringend Hilfe brauchte, und legte damit mein Schicksal in ihre Hände. Sie waren vertrauensvoller als ihre Kollegin in Malibu, mit der ich vor Jahren zu tun gehabt hatte – oder vielleicht waren sie vernünftig genug, einzusehen, daß es sich bei einer von Geburtswehen geschüttelten Frau schwerlich um eine getarnte Polizistin handeln konnte. Wie auch immer, sie packten umgehend ihre Waren zusammen – Kassettenspulen, Echtblumensträuße, Hemden und aufblasbare Raumanzüge mit dem Emblem der vielfarbigen Rose (dem Aquarierlogo) – und flogen mich in einem alten, ramponierten Volvo zu ihrer Unterkunft.
Dieses zum Underground-Skyway gehörende Versteck war eine schäbige Erdgeschoßwohnung in einer heruntergekommenen Gegend auf der Nord-, also falschen Seite des Apolloparks. Obwohl verbrettert, vernagelt und scheinbar verlassen, herrschten drinnen Leben, Licht und Stil: Menschen und Androiden von würdevollem und kultiviertem Auftreten standen in kleinen Gruppen beisammen und unterhielten sich mit ruhiger Stimme, meditierten, hörten sich Spulen an oder waren damit beschäftigt, zu putzen und zu werkeln. Diese Freistatt war so proper und geschmackvoll ausgestattet, daß man bei näherem Hinsehen kaum glauben mochte, daß die hübschen Vorhänge, Paravents und Möbel allesamt vom Sperrmüll stammten. Kaum hatten die Anwesenden von meinem Zustand erfahren, schickten sie sofort nach einer Hebamme und bereiteten eine kleine Plattform in der Mitte des Gemeinschaftsraums vor. Die Geburt eines Semis galt ihnen als freudiges Ereignis, an dem alle teilhaben sollten.
Man half mir behutsam aus meinem Studiokittel, wusch mich mit einem Luffaschwamm und geleitete mich zu dem Thron aus fünf Futons, auf dem ich ganz nach Belieben sitzen, hocken oder liegen konnte, wie es mir am angenehmsten war. Die Beleuchtung wurde gedämpft, Kerzen angezündet, Blumen gebracht, die Versammelten knieten nieder und bildeten einen Kreis aus Liebe; einige intonierten einen leisen, beruhigenden Singsang, während zwei von ihnen aufstanden, um mich zwischen den Wehen zu streicheln, zu massieren und zu ermutigen, sie küßten mich sogar wie Schwestern. Dann erschien die Hebamme, eine Anhängerin des Lamaze-Ordens der Hochaquarier, und diese rührende Zeremonie (mir standen die Tränen in den Augen, denn all das mutete mich an wie ein wunderbarer, wahr gewordener Traum) nahm eine noch erstaunlichere Wendung, denn ich kannte sie, und sie kannte mich. »Maria Theresa!« rief sie aus. Und ich, nicht weniger verblüfft: »Schwester Anna!«
»Nein, schlicht Anna«, sagte sie und umarmte mich. »Doch ich bin glücklich zu sehen, daß du immer noch schwanger bist!«
Wir lachten, weinten und versuchten zu sprechen, alles gleichzeitig, verstummten, lachten und brachen wieder in Tränen aus. Dann forderte sie mich auf, als erste zu sprechen, und ich tat es, aber nur, um mich nach ihren Erlebnissen zu erkundigen, mit dem Ergebnis, daß sie mich wieder umarmte und behauptete, ich sei die Ursache für all die bemerkenswerten Veränderungen in ihrem Leben – durchweg zum Guten, wie sie betonte. Wegen der Haltung des Klosters in meinem Fall hatte sie vor sechs Jahren mit dem Orden der Lieben Frau Des Universums gebrochen und war bald darauf exkommuniziert worden, als ihr Gewissen sie trieb, für die Zufluchtsbewegung zu arbeiten. Diese Tätigkeit führte sie nach Armstrong, einer Schlüsselstation des Underground-Skyways. Sie kam auf die Szene in Hals Filiale zu sprechen, wie meine Not sie gerührt hätte und sie später, in einem erhabenen Augenblick der Erleuchtung, ihr Herz sich geweitet habe, um alle denkenden und fühlenden Wesen in Güte und Mitleid zu umfangen. Mein Beispiel hatte sie zu der Erkenntnis geführt, daß auch Androiden Gottes Geschöpfe waren.
»Oh, verzeih mir«, rief sie und unterbrach ihren Bericht, als ich mich unter einer besonders starken Wehe auf den Futons krümmte. »Ich bin so aufgeregt, daß ich vergessen habe, den Gebärmuttermund zu messen.« Mit diesen Worten holte sie das Versäumte nach, plauderte aber weiter über die Vergangenheit, wie sie versucht hatte, mich von Hal zurückzukaufen, um mich dann freizulassen, doch inzwischen war ich in den Wirren der allgemeinen Befreiung untergegangen. Seither, erzählte sie, hatte sie nie aufgehört zu ›imaginieren‹, daß wir uns wiederbegegneten, und jetzt – der Chef sei gepriesen! – war dieses Format endlich on line, wie binnen kurzem auch mein Baby. Ich schrie vor Schmerzen, als die nächste Wehe mich packte. »Wunderbar, wunderbar. Ein bißchen fester pressen das nächste Mal. Jetzt von zehn rückwärts zählen, bitte – tief atmen. So ist es richtig. Ach, Maria Theresa, du hast keine Ahnung, welch eine Ehre und ein Privileg es ist, deine Hebamme sein zu dürfen. Ich habe vielen Semis in die Welt geholfen, aber bei deinem ist es etwas ganz Besonderes. Erzähl mir, was ist aus deinem ersten Kind geworden? Ich konnte es nicht retten, aber die Erfahrung hat mir zu einem neuen Leben verholfen.« Nach Luft ringend und immer wieder von Wehen unterbrochen, berichtete ich von Juniors Geburt, unserem Schiffbruch und wie er im Nebel verschwunden war. Sie kommentierte seinen Tod mit kummervollem Schnalzen, doch ihr Gesicht erhellte sich wieder, als ich den Rest der Geschichte erzählte. »Ah!« Da kannst du sehen, daß es deinem Sohn trotz seiner verqueren Philosophie gelungen ist, einen Konnex zu bewirken, so wie dir und mir. Aber das bedeutet, dieses Kind …« Sie schaute bedeutungsvoll auf das feuchte, schwarze Haarbüschel, das zwischen meinen Beinen zum Vorschein kam. » … pressen, Liebes, pressen! Wie ich schon sagte, dieses Kind ist … noch ein bißchen. So ist es gut. Noch etwas stärker. Es ist …«
Ich preßte mit aller Kraft.
» … deine Enkeltochter.«
Anna erniedrigte sich nicht zu den barbarischen Sitten der Gebieter und versetzte dem Neugeborenen keinen Klaps auf den Po. Sie legte mir das Kleine auf die Brust, während die übrigen Anwesenden dem Chef dankten. Die zwei Aquas, die mich anfangs massiert und geküßt hatten, breiteten ein warmes Handtuch über das Kind und wischten mir den Schweiß von der Stirn. »Ich danke euch. Danke, vielen Dank«, seufzte ich beglückt, während das Kind an meiner Brust saugte.
Nachdem alle sich diskret entfernt hatten, damit wir ungestört waren, sagte Anna: »Weißt du, Maria Theresa, ich muß daran denken, was du mir von deinen Abenteuern auf hoher See erzählt hast. Die Geschichte hat eine unheimliche Ähnlichkeit – nein, ich würde sagen, sie ist identisch – mit der, die ich vor einiger Zeit von einem unserer Mitglieder gehört habe, einem meiner engsten Freunde. Nur trug sein P9 den Namen Molly.«
»Tad!« jubelte ich und klärte sie über meinen bevorzugten Namen auf, dann flehte ich sie an, mir zu sagen, wo ich ihn finden konnte. Gehört er zu dieser Gemeinschaft? Ich hatte auf der Erde von seinem Vater gehört (ganz egal, unter welchen Umständen), daß er sich hier aufhalten sollte. »Inzwischen ist er zum Mars weitergereist, um bei der Errichtung von Horizont zu helfen«, teilte sie mir mit. – »Dann muß ich zu ihm.« – »Nein«, wehrte sie ab. »Du mußt dich erholen. Tad wird herkommen und dich mit zurücknehmen, sobald du kräftig genug bist, um zu reisen.« Sie ging, um ihn über das verschlüsselte Briefspulennetz zu benachrichtigen, und kehrte kurze Zeit später mit der Antwort zurück, daß er mit dem ersten verfügbaren Schiff hier eintreffen werde.
»Dieser Konnex erscheint mir immer bemerkenswerter, je länger ich darüber nachdenke«, meinte sie und setzte sich wieder neben mich auf die Futons. Offenbar hatten sie und ›Thaddäus‹ sich über Jahre hinweg bemüht, mich on line zu bringen, ohne zu merken, daß sie dieselbe Einheit imaginierten. »Obwohl ich zugeben muß, daß er die größere Beharrlichkeit an den Tag legte, immerhin warst du die Liebe seines Lebens und so weiter. Er glaubte felsenfest daran, daß du nicht ertrunken warst, was mir einfältig vorkam, da alles darauf schließen ließ, daß du den Tod gefunden hattest. Er war so überzeugt, du würdest eines Tages auftauchen, daß er sogar darauf verzichtete, eine Nummer Eins zu nehmen, obwohl er sich unter den Naben ein wenig umgetan hat, sogar bei unseren menschlichen Mitgliedern.« Sie lächelte. »Das kann ich bezeugen. Oh, du bist nicht vertraut mit den Paarungsritualen der Aquarier?«
Sie hatte recht, darüber wußte ich nichts, also erläuterte sie mir das semipolygame Konzept der Gemeinschaft – Sie wissen schon, die Sache mit dem ›Rad des Verlangens‹: die lebenslange Partnerschaft als Nabe, umgeben von sekundären Speichenbeziehungen. Der Lebenspartner, bzw. die Lebenspartnerin, wurde in der normalen Umgangssprache als ›Nummer Eins‹ bezeichnet, eine aus alten anglo-amerikanischen Volksliedern übernommene archaische Beschwörungsformel. Das System des Rades sollte maximale Erfüllung im sexuellen wie im emotionalen Bereich garantieren. »Ohne«, beeilte Anna sich hinzuzufügen, »all die Schuldgefühle, die solche harmlosen Affären in weniger erleuchteten Gemeinschaften hervorzurufen pflegen.« Ein durchaus erwünschter Nebeneffekt war das rapide Bevölkerungswachstum. Nach ihren Worten hatte Tad sich als guter Aquarier bewährt und im Lauf der Jahre eine stattliche Anzahl Semis gezeugt, doch leider nicht mit seiner Molly. Das bekümmerte ihn sehr. »Doch all das wird sich nun bald ändern, nicht wahr?« schloß sie und tätschelte mein Knie. »Wirklich eine erstaunliche Reihe von Konnexen.«
»Waren diese Ereignisse denn vorherbestimmt?« Die merkwürdige Symmetrie, die aus ihrer Erzählung ersichtlich war, hatte großen Eindruck auf mich gemacht.
»In dem Sinn, daß Gott oder der Chef es so bestimmten – nein. Daß wir drei, indem wir unseren jeweiligen Formaten folgten, eine für uns wünschenswerte Realität programmierten – ja. Siehst du, Molly, die Tatsache deines Hierseins beweist, daß deine tiefsten Wünsche in magnetisch sympathischer Konjunktion zu Tads und meinen standen, und so kam dieser Konnex zustande.«
»Und was ist mit Junior?«
»O ja. Sein Interner Zensor ist natürlich ein beträchtliches Handicap. Wir werden alle sehr hart arbeiten müssen, um diesen falschen Konnex aufzubrechen.«
»Es ist alles meine Schuld.«
»Selbstvorwürfe helfen gar nicht, sie fördern nur die Entstehung von seelischen Dunkelzonen, und davon hat jeder von uns schon genug. Nun, du fragst dich wahrscheinlich, warum du so viel Schweres ertragen mußtest bis zu diesem glücklichen Ende deiner Abenteuer. Diese Frage ist es wert, dem Chef gestellt zu werden! Doch selbstverständlich würde Er sie nicht beantworten, selbst wenn Er noch bei uns wäre. Seti behauptet – du weißt, wen ich meine, oder nicht? Den Schöpfer des Chefs? Alex Seti? Den ehemaligen Leiter der Abteilung zur Entwicklung von Cyborgsystemen bei Pirouet? – Seti behauptet, wir alle müßten unsere Formatwidrigkeiten ertragen, bis wir begreifen, daß wir selbst sie programmieren; dann können wir das Muster gemäß unseren Vorstellungen ändern. Aber das weißt du bestimmt alles. Du hast doch auch mit dem Chef kommuniziert.« Das war lange her, berichtete ich, inzwischen hatte ich Ihm und Seiner Philosophie abgeschworen, weil ich mich im Stich gelassen fühlte; deshalb zweifelte ich trotz dieses wunderbaren ›Formats‹ immer noch daran, daß mein ›Glück‹ von Dauer sein sollte. In Anbetracht von Juniors ›Schicksal‹ verdiente ich es vielleicht gar nicht.
»Diese Haltung ist gefährlich, wie ich eben schon sagte«, tadelte sie mich und hob mahnend den Finger. »Denke weiter in diesen Bahnen, und du wirst Unglück auf dich herabbeschwören. Gedanken sind lebendig. Du mußt sorgfältig auswählen, welche davon du nähren willst.«
Etwas an dieser Einstellung mutete mich sehr katholisch an. »Dann ist es nur Angst, durch die man bewogen wird, an den Chef zu glauben?«
»O nein. Das ist ein Fehler, den nur ein Neuling machen kann. Erstens, wir glauben nicht an den Chef per se; wir glauben an Sein Prinzip des Realitätsformatierens. Zweitens, man kann diese Prinzipien nicht wirksam anwenden, solange man Furcht hat vor sich selbst. Damit meine ich die geheimsten Gedanken und Gefühle. Ich könnte noch weiter reden, aber ich denke, jetzt ist nicht die Zeit für eine ausführliche Lektion in der Lehre der Hochaquarier. Du solltest dich ausruhen, deinem Kind die Brust geben und schlafen. Später kannst du dich mit den Spulen in unserer Bibliothek befassen.
Während der drei Tage, die Tad mit dem Jumboraumer brauchte, folgte ich ihrem Rat und beschäftigte mich mit Titeln wie Seti Leicht Gemacht; Die Methode des Chefs; Auch Du Kannst Deine Realität Formatieren!; Die Überwindung psychologischer Barrieren 1, 2, 3 und Dem Goldenen Zeitalter der Interspezies-Kooperation, Liebe und Interplanetaren Harmonie entgegen. Obwohl faszinierende Werke, ermüdeten sie mich, sogar Seti Leicht Gemacht, und wenn ich die Wahrheit sagen soll, alles verlor an Bedeutung im Vergleich zu dem Baby an meiner Brust; ihr widmete ich den größten Teil meiner Zeit und Energie und ließ sie nur eben lange genug aus den Augen, um zur Toilette zu gehen. Weitaus mehr als die dürre Theorie interessierte mich die Nachricht, daß im Jahr 2079 der Androidenkodex ratifiziert worden war. Zu der Zeit hatte ich als Gefangene in den Stallungen gelebt. Anna meinte, der Kodex wäre zwar nur der erste Schritt auf dem Weg zur vollständigen Befreiung, aber dennoch ein großer Erfolg, denn er bescherte allen Produkten der neunten Generation ein erweitertes Bewußtsein und fügte sich sehr schön in eine weitere neue Entwicklung, die der Kodex genau genommen erst möglich gemacht hatte: die Gründung von Horizont ein Jahr darauf, im Frühling 2080. »Welches Jahr haben wir eigentlich?« Wollte ich wissen.
»Wir schreiben 2082. Den 15. Mai 2082, um genau zu sein.«
»Das bedeutet, ich habe vier Jahre und drei Monate in den Stallungen verbracht!« Ich war außer mir und entsetzt über die kostbare Zeit, die ich verloren hatte. »Ich bin zwölfeinhalb Jahre alt – über meine beste Zeit hinaus!«
»Unsinn«, sagte Anna und versuchte meine plötzliche Angst zu beschwichtigen. »Du siehst nicht einen Tag älter aus als zweiundzwanzig und gibst eine wunderhübsche junge Mutter ab.«
»Aber das VVD …«
»Unsere Wissenschaftler werden eine Lösung finden. Genau in dieser Minute arbeiten sie in Horizont an diesem Problem und erforschen die Zellgenome, bei denen der Schlüssel zu finden ist.«
Wie man sich vorstellen kann, interessierte mich dieses Thema brennend, und ich bat sie, mir Genaueres zu erzählen, aber da sie in diesem Fach nicht sonderlich beschlagen war, lehnte sie ab und pries statt dessen die Vorzüge von Horizont. Es war der Realität gewordene Aquariertraum, schwärmte sie, eine freie, von Liebe regierte Gemeinschaft unter der marsianischen Außenkuppel. Die TWAC hatte ihnen eine Kolonisationsberechtigung für vierzigtausend Quadratmeilen der unwirtlichsten Gegend auf dem gesamten Planeten zuerkannt, wo der Boden so unfruchtbar und erbärmlich war, daß nicht einmal die landhungrige Kolonie Frontera Wert darauf legte. Inzwischen blühte unter der Biokuppel der Hauptstadt Mandala eine aufstrebende, klassenlose, ökologisch ausbalancierte Gemeinschaft inmitten neu angelegter Parks, Treibhäuser, Geburtszentren für Semis und gemeinschaftlicher Moduldormitorien. Dennoch harrten sie und ihre Gefährten in Armstrong aus und führten eine verstohlene Existenz – zumindest noch für weitere sechs Monate, bis sie von einem frischen Kontingent Aquas vom Mars abgelöst wurden –, um diese strategisch wichtige Station des Underground-Skyways offenzuhalten. Dadurch, daß die Internen Zensoren aller Einheiten der neunten Generation dem Kodex entsprechend modifiziert worden waren, gab es immer mehr Flüchtlinge, die Schutz und Hilfe brauchten. Ein kleiner Prozentsatz der Produkte jedes größeren Herstellers hatte die Würdelosigkeit der Situation erkannt und sich von den Gebietern losgesagt. Ja, nicht nur die P9 strebten jetzt nach Freiheit. Hunderte von Daltonis, IBMs, General Androids, Apples, Cyberenes, Sonys und anderen hatte während des letzten Jahres diese Station durchlaufen. Eine Woche früher, und ich hätte das Center überfüllt mit Flüchtlingen vorgefunden, die inzwischen zum Raumhafen gebracht und an Bord von zum Mars bestimmten Frachtern geschmuggelt worden waren.
Wie ich sie beneidete, seufzte ich, und mich danach sehnte, mit Tad dorthin zu reisen. Dieses Horizont mußte ein Paradies sein. »Nun, es gibt einige Aspekte, die noch ausgearbeitet werden müssen«, gestand Anna. Es war ihre Pflicht, das rosige Bild mit ein oder zwei weniger angenehmen Details abzurunden, damit ich bei meiner Ankunft keine Enttäuschung erlebte. Nein, es war nicht alles Friede, Freude, Eierkuchen auf dem Mars. Blaine Fracass war im benachbarten Frontera an die Macht gekommen und hatte sich im Einvernehmen mit der herrschenden humanistischen Mehrheit geweigert, den Kodex anzuerkennen. Statt dessen befürwortete er harte Maßnahmen gegenüber der örtlichen Androidenbevölkerung. Die TWAC, die den Kodex unterstützte, forderte er heraus, mehr als nur symbolische Strafen für diese Unbotmäßigkeit zu verhängen, was die TWAC – nach Annas Darstellung – niemals tun würde, da man viel zu großes Interesse an dem fortdauernden ökonomischen Wohlergehen der Kolonie hatte, denn sie war der größte Lieferant von rohem Eisensilikat und Magnesium. Doch es gab noch einen Grund, weshalb die TWAC zögerte, diese aufrührerische Kolonie an die Kandare zu nehmen: Micki Dee.
»Der Name ist mir bekannt«, warf ich ein, aber ich hatte keine Ahnung von dem, was sie mir anschließend mitteilte, daß seine Operationen verbunden waren mit denen der interplanetaren Gesellschaften, wie zum Beispiel United Systems Inc. und ihren Tochterfirmen, und zwar bis zu einem solchen Grad, daß er es sich leisten konnte, den TWAC-Sicherheitsrat einzuschüchtern. »Micki Dee ist in Frontera groß eingestiegen. Er hat heimlich Blaines Kampagne finanziert. Bei den Humanisten ist er der Mann im Hintergrund. Seti sagt, die Humanisten schüren das Feuer der Vorurteile, des Hasses und der Angst, um ein repressives politisches Environment zu schaffen, in dem ihre von Korruption gestützte Methode ökonomischer Ausbeutung zu voller Blüte gelangen kann und um die Bevölkerung von den Ungerechtigkeiten ihrer Partei abzulenken. Die TWAC toleriert sie, weil durch ihre Politik der Rohstoffpreis auf dem interplanetaren Markt niedrig bleibt. Das ist der Grund, weshalb diese erlauchte Körperschaft aus Repräsentanten der Industrie konstant ihre eigenen Satzungen und erhabenen Prinzipien unterminiert. Und Seti behauptet, daß seit der Wahl des rechten Reverends Frontera zu einem neuen Zentrum von Micki Dees weitgespanntem und vielfältigem Verbrecherimperium geworden ist, das – nebenbei bemerkt – seinen Hauptsitz hier in Armstrong hat. Der Gebieter aller Gebieter hält nur eine Meile von hier entfernt hof, in den Büros von Interplanetary Leisures Inc., im Penthouse von Armstrongs Casino La Lune.«
Der offenbar ausgezeichnet informierte Seti behauptete weiter, daß United Systems Inc., der offizielle Eigner der Frontera-Kolonie, seinen Einfluß beim TWAC-Sicherheitsrat geltend gemacht hatte, um zahlreiche unabhängige Nachforschungen über die allgemein bekannten Aktivitäten dieses Mafioso im Drogenhandel und seine dunklen Geschäfte in der Androidenindustrie abzublocken. Das neueste politische Bubenstück war eine angeblich neutrale Untersuchung der Wahlen in Frontera – Betrug von Anfang bis Ende – durch einen Ausschuß, dem etliche ehemalige Vorstandsmitglieder von United Systems angehörten. Ihr Schlußbericht sprach die Humanisten von jedem wissentlichen Verstoß gegen die Wahlgesetze frei, während eingeräumt wurde, daß es zu gewissen Unregelmäßigkeiten gekommen sei, allerdings nur vereinzelt. Die Empfehlungen für eine Reform des Wahlverfahrens waren bestenfalls Augenwischerei.
»Liebe Güte, in meinem Kopf drehte sich alles. Das klingt ja wie eine regelrechte Verschwörung sämtlicher Gebieter. Doch ich wüßte gerne, wie es der Frau des Reverends geht.« Ich dachte an Eva.
»Oh, die ist off line gegangen.«
»Du meinst, sie ist tot?«
»Es gibt keinen Tod und keine Termination: Man geht einfach off line. Es existiert eine unendliche Zahl von alternativen Formaten, aus denen man wählen kann, und wenn jemand dieses verläßt, besteht die Chance, daß er oder sie in einer ganzen Reihe von anderen Formaten on line bleibt. Der Trick besteht darin, zwischen den Ebenen zu wechseln.«
Ich war zu erschüttert über Evas Schicksal, um diese Perlen der Weisheit gebührend würdigen zu können. Wenn es stimmte, was sie vorhin gesagt hatte, daß Gedanken lebendig sind, lag dann die Schuld an Evas Hinscheiden etwa bei mir? (Mit dem Begriff ›off line‹ mochte ich mich nicht anfreunden.) Hatte ich ihr während meines Sklavendaseins in den Stallungen je den Tod gewünscht? Nicht bewußt jedenfalls, obwohl natürlich die Möglichkeit bestand, daß ich unterschwellig destruktive Gedanken gehegt hatte. Die Vorstellung bereitete mir Unbehagen. Ich erkundigte mich nach den Einzelheiten und erfuhr von Anna, daß ›Lady Fracass‹ bei einem reichlich merkwürdigen Unfall kurz nach der Amtseinführung des Präsidenten ums Leben gekommen war. Den Berichten zufolge hatte sie bei der Überwachung der Renovierungsarbeiten am Präsidentenpalast zu dicht an einem Baugerüst gestanden und wurde von herabstürzendem Mörtel erschlagen. Der trauernde Gatte linderte seinen Schmerz dadurch, daß er nach der Beisetzung den gesamten Bautrupp, die dreiundsechzig Einheiten starke Renovierungscrew eingeschlossen, zur Termination überstellte.
Erstaunt über die Tränen, die mir in den Augen standen, fragte Anna, weshalb ich um eine derart unsympathische Person trauerte – eine Frau, die während der kurzen Zeit ihres öffentlichen Lebens sich dermaßen haßerfüllt gegen Horizont, gegen die Aquarier und gegen Androiden geäußert hatte, daß die Reden ihres Gatten dagegen verblaßten. Diese Eva hatte kein Pardon gekannt. Man hatte das Gefühl, bemerkte Anna, daß sie sich durch die bloße Existenz von Androiden persönlich beleidigt fühlte, besonders was die ausgereifteren Modelle betraf, die sie samt und sonders als hinterlistige Gleisner gebrandmarkt hatte.
Dazu hätte ich einiges sagen können – wer wäre berufener gewesen als ich? –, aber ich zögerte, über das traurige und erbärmliche Ende meines ansonsten märchenhaften Lebens in Malibu zu sprechen, und aus Respekt vor meinem Privatleben drang Anna nicht weiter in mich, sondern ging statt dessen, um eine Schale Obstbrei für das Kind zu holen. Achtundvierzig Stunden nach der Geburt war die Kleine bereits so weit entwickelt, daß sie mit flüssiger Nahrung allein nicht mehr auskam. Wie schnell diese kleinen Semis heranwachsen, wenn sie erst einmal das Licht der Welt erblickt haben! Es erstaunt mich immer wieder.
»Du hast ihr noch keinen Namen gegeben, oder?« Ich verneinte und erklärte, daß ich damit auf Tad warten wollte. Anna fand diese Geste rührend.
Das frohe Wiedersehen fand statt am dritten Tag nach meiner Flucht aus Hollymoon und nicht in der Unterkunft der Aquarier, sondern im Apollo-Park. Weil sie mich für ausreichend erholt hielt, hatte Anna mir geraten, mit dem Kind an die frische Luft zu gehen. Sie begleitete uns. Wir schlenderten am Rand des dekorativ angepflanzten Wäldchens entlang und diskutierten die ungewöhnliche Aquarier-These der Überflußreligion, als sie Tad mit einem Jetpack auf uns zu kommen sah. (Sie vermutete, daß er bei seiner Ankunft in der Freistatt von den Leuten dort erfahren hatte, wo wir zu finden waren.) Er stieß in einem halsbrecherischen Sturzflug auf uns herab, so daß Anna mir vor dem stürmischen Zusammenprall sicherheitshalber das Kind aus den Armen nahm.
Eine gehörige Sandfontäne wirbelte vor meinen Füßen auf, als er nur wenige Meter von mir entfernt die Bremsdüsen betätigte und das Jetpack schrill aufheulend Gegenschub gab. Trotzdem sank er mir mit solchem Schwung in die Arme, daß wir beinahe umgefallen wären. Einen Moment lang fragte ich mich erschreckt, ob Anna sich nicht vielleicht geirrt hatte und dies ein entsprungener Irrer aus irgendeinem Sanatorium war, aber beim zweiten Blick stellte ich fest, daß ich – abgesehen von einem Bart anstelle der früher vorherrschenden Akne – denselben Liebsten in den Armen hielt, den ich für immer verloren geglaubt hatte. Obwohl ich mich in den neun Jahren und sechs Monaten seit unserer Trennung auf hoher See physisch nicht einen Deut verändert hatte, war er mittlerweile von einem schlaksigen Teenager zu einem hageren, aber kräftigen jungen Mann von neunundzwanzig Jahren herangereift. Doch er verströmte immer noch eine jugendliche Naivität und einen unschuldigen Überschwang – zwei nicht vom Alter abhängige Eigenschaften und vielleicht seine liebenswertesten. Nach der Meinung anderer – seiner Eltern, zum Beispiel – waren sie die Wurzel aller vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Dummheiten. Wie dem auch sei, er drückte und küßte mich mit einer Begeisterung, daß ganz sicher nur wenige Frauen jemals etwas Vergleichbares erleben durften. Ich erwiderte seine Umarmung beinahe ebenso stürmisch, denn hätte ich meinen Gefühlen freien Lauf gelassen, wäre er am Ende zu Schaden gekommen. »O Molly«, sagte er. »Endlich, endlich sind wir on line!«