Wie es weiterging mit ...
Alice und Alther
Das Ende von Alices Leben war für sie und Alther der Beginn einer langen und glücklichen gemeinsamen Zeit. Zu ihren Lebzeiten waren beide – besonders Alther, aber auch Alice – zu stark mit ihren Berufen beschäftigt gewesen und hatten deshalb nicht zusammen sein können. Alther war fest entschlossen, dies nun zu ändern.
Vierundzwanzig Stunden nachdem Alice erschossen worden war, erschien ihr Geist auf dem Landungssteg des Palastes und fand dort Alther vor, der sie erwartete. Alle Geister müssen das erste Jahr und einen Tag ihres Geisterdaseins an dem Ort verbringen, an dem sie zum Geist geworden sind. Diese Frist wird Ruhezeit genannt. Für einen Geist, der ein unerwartetes Ende gefunden hat, kann dies eine schwierige Zeit werden, und Alther war entschlossen, die gesamte Ruhezeit über bei Alice zu bleiben und ihr beizustehen. Zu ihren Lebzeiten mochte er nicht da gewesen sein, als Alice ihn brauchte, doch von nun an wollte er immer für sie da sein.
Alther und Alice machte es nichts aus, ob sie drinnen oder draußen waren. Das Wetter spielt für einen Geist im Allgemeinen keine große Rolle – nur bei stürmischem Wetter hat er das unangenehme Gefühl, dass der Wind durch ihn hindurch bläst. Jenna wusste das, und dennoch konnte sie die Vorstellung nicht ertragen, dass Alther und Alice ein ganzes Jahr und einen Tag draußen am Landungssteg verbringen sollten, und so errichtete sie zusammen mit Billy Pot genau an der Stelle, wo Alice erschossen worden war, ein großes, rot-weiß gestreiftes Zelt – den Pavillon, wie sie ihn gerne nannte.
Im Nachhinein war Jenna froh darüber. In diesem Jahr gab es mehrere schwere Stürme, doch das Innere des Pavillons blieb immer eine Oase der Ruhe. Jenna wollte, dass sich Alice und Alther wie zu Hause fühlten. Auf den Planken des Landungsstegs ließ sie dicke, gemusterte Teppiche aus dem Palast ausrollen, und den Pavillon selbst richtete sie mit Möbeln, Kissen, Büchern und verschiedenen Erinnerungsstücken ein. Darunter war auch eine schöne, mit Einlegearbeiten geschmückte Holztruhe, deren aufgeklappter Deckel einen Blick in ihr Inneres erlaubte, das viele von Alices liebsten Schätzen aus ihrem Adlerhorst im alten Lagerhaus barg – ein Marmorschachbrett mit Schiffen als Figuren, einen Schal, den ihr eine ihrer vielen Nichten gestrickt hatte, Briefe von Alther, mit einem roten Band verschnürt, und ihre alte Richterperücke von vor so vielen Jahren. Ebenfalls im Pavillon stand Althers Lieblingssessel – ein altes Monstrum aus abgewetztem Leder, das Jenna aus Sarah Heaps Wohnzimmer geholt und in eine Ecke gestellt hatte, direkt neben das rosa und goldene Plüschsofa, das Alice, wie Sarah behauptet hatte, angeblich sehr liebte. Das stimmte zwar nicht, aber an einem geschmacklosen Sofa störte sich Alice längst nicht mehr so sehr, wie sie es früher getan hätte.
Da Jenna wusste, dass Alther und Alice häufig Besuch bekamen, hatte sie einen niedrigen Tisch aufgestellt, auf dem stets ein Krug mit frischem Saft, ein Teller mit köstlichen Keksen und eine Schale Obst für die Lebenden bereitstanden.
Die regelmäßigsten Besucher waren Jenna und Silas Heap. Silas konnte mit Sarah nicht mehr über Nicko sprechen, aber mit irgendjemand musste er einfach sprechen. Alther, sein alter Lehrer, hörte ihm stundenlang zu, und sie führten endlose Gespräche über Nicko, die Zeit und neuerdings auch über den Wald. Und wenn Silas spät in der Nacht über das lange Rasenstück in den Palast zurückwankte, fühlte sich sein Kopf an wie mit Watte gefüllt. Alther freute sich nicht immer auf den Moment, wenn Silas den Kopf durch die Zelttür steckte und fragte: »Hm ... Alther ... hättest du ein paar Minuten Zeit?« Doch er schickte ihn niemals fort.
Jenna liebte den Pavillon. Fast jeden Vormittag schaute sie auf einen Sprung vorbei und unterhielt sich leise mit Alice, die ihr das Leben gerettet hatte. Oft sprachen sie über Alices Leben, über ihre glückliche Zeit als Richterin am Burggericht in den – wie heute alle sagten – guten alten Tagen. Alice erzählte ihr auch von ihrer geliebten Wohnung im obersten Geschoss des Lagerhauses und von interessanten Fällen, die sie als Oberzollinspektorin in Port bearbeitet hatte. Manchmal jedoch stand sie plötzlich auf und sagte, sie müsse nun zur Arbeit, und Jenna musste sie behutsam daran erinnern, dass sie nicht mehr unter den Lebenden weilte. Das waren schwierige Augenblicke – Alice wurde dann immer traurig und nachdenklich, und Jenna ließ sie und Alther ein paar Tage in Ruhe.
In der Nacht, in der Alther zu der Versammlung gerufen wurde, ließ er Alice zum ersten Mal allein. Der Ruf war für ihn ein Schock. Alle Geister von Außergewöhnlichen Zauberern wussten, dass sie am Ende einer Lehrzeit zur Versammlung gerufen wurden, doch eine außerplanmäßige Versammlung war höchst selten und verhieß nie etwas Gutes. Zu Alices Erstaunen verschwand Alther ganz plötzlich aus dem Pavillon, und wenn ihr Zeitgefühl – das nach wie vor nicht das Beste war – sie nicht trog, sah sie ihn erst mehrere Tage später wieder.
Alice liebte Alther und war über seine plötzliche Fürsorge gerührt, aber sie hatte immer allein gelebt und sie hatte gern allein gelebt. Althers Abwesenheit gab ihr Gelegenheit, noch einmal in Ruhe über alles nachzudenken, und sie begann zu verstehen, was an jenem Nachmittag auf dem Landungssteg mit ihr geschehen war.
Als Alther von der Belagerung zurückkehrte – völlig erschöpft und zutiefst zerknirscht –, freute sich Alice natürlich, ihn zu sehen. Doch noch am selben Abend überredete sie ihn, zu seiner alten Gewohnheit zurückzukehren und in die Schenke Zum Loch in der Mauer zu gehen. Das, so sagte sie, sei gut für sie beide.
Mrs. Beetle
Pamela Beetle-Gurney war zu ihrem großen Bedauern nicht sehr lange mit Brian Beetle verheiratet. Ein Jahr nach ihrer Hochzeit brachte sie einen Jungen mit schwarzem Haar und einem schelmischen Lächeln zur Welt. Das Paar war noch nicht einmal dazu gekommen, die Geburt registrieren zu lassen, als Brian Beetle, der als Schauermann im Hafen Porter Flussboote be- und entlud, von einer Schlange gebissen wurde, die aus einer Kiste mit exotischen Früchten gekrochen war. Brian – so erzählte Pamela viele Jahre später traurig den Leuten – blähte sich auf wie ein Ballon und lief blau an. Niemand konnte ihn retten.
Ein paar Wochen nach Brian Beetles Tod stattete der Standesbeamte Mrs. Beetle einen Besuch ab und teilte ihr mit, dass die Frist für den Eintrag ins Geburtenregister abgelaufen sei und dass sie hier und jetzt einen Namen angeben müsse. Mrs. Beetle war in einer schlechten Verfassung. Das Baby weinte die ganze Nacht, sie weinte den ganzen Tag, und einen Namen für ihren Sohn auszusuchen war jetzt das Letzte, woran sie dachte. So kam es, dass sie, als der Standesbeamte das Namensregister zückte, seine Feder in Tinte tauchte und sehr freundlich nach dem Namen des Kindes fragte, nur losjammerte: »Oh Beetle ... Beetle!« – wie sie ihren Mann immer genannt hatte. Prompt wurde O. Beetle Beetle als Name für den Jungen eingetragen.
Ohne den Arbeitslohn ihres Mannes musste Mrs. Beetle in zwei kleine Zimmer am Ende eines schmutzigen Korridors in den Anwanden ziehen. Ihre Familie lebte – wie auch die ihres Mannes – in Port und bot ihr keinerlei Unterstützung an. Sie erwog, wieder nach Port zu ziehen, doch die Anwanden gefielen ihr, und sie fand, dass sie von ihren Nachbarn mehr Hilfe bekam, als ihre Familie ihr jemals bieten würde. Außerdem hatte sie große Dinge mit ihrem Sohn vor. Er sollte einmal etwas Besseres werden als Hafenarbeiter, und die Schulen in der Burg boten größere Aussichten auf eine gute Ausbildung als die schlechten Schulen in Port.
Der junge Beetle besuchte eine der vielen kleinen und guten Schulen in den Anwanden, und Mrs. Beetle machte Überstunden als Putzfrau, damit sie einen Privatlehrer bezahlen konnte, der ihn zusätzlich an den Samstagvormittagen unterrichtete. Beetle war ein intelligenter Junge, und Mrs. Beetles Hoffnungen gingen schneller in Erfüllung als erwartet. Er war der jüngste Bewerber, der jemals die Aufnahmeprüfung des Manuskriptoriums bestand.
Nach Brians Tod hatte Pamela aufgehört, ihren Mädchennamen Gurney zu benutzen, und bald benützte sie auch ihren Vornamen nicht mehr. Alle kannten sie nur als Mrs. Beetle – bis auf Beetle, der sie immer noch Mum nannte und sich nicht darum scherte, dass die Schreiber ihn damit aufzogen. Alle Schreiber nannten ihre Mutter nur Mutter – wenn sie überhaupt von ihr sprachen. Beetle hingegen sprach oft von seiner Mum. Er war besorgt um sie und wünschte sich, sie könnte irgendwann wieder glücklich werden.
Jannit Maarten und Nicko
Als Jannit Maarten nach ihrem Besuch bei Sarah Heap auf die Bootswerft zurückkehrte, sah sie so aus, als sei ihr – wie Rupert Gringe es ausdrückte –, »eine Laus über die Leber gelaufen«. Und sie trug einen sehr sonderbaren Hut. Jannit war nicht eben dafür bekannt, dass sie untätig herumsaß und Löcher in die Luft stierte, aber an diesem Tag tat sie beides. Selbst als ihr Rupert die tadellosen Messingbeschläge zeigte, die er für ihr diesjähriges Lieblingsprojekt – die Restaurierung einer seltenen Porter Schaluppe – nach langem Suchen aufgetrieben hatte, lächelte sie nur matt.
Rupert Gringe wusste, was mit ihr los war. Als sie am Morgen mit den Verträgen unterm Arm losmarschiert war, hatte er geahnt, was sie vorhatte. Rupert war kein großer Freund der Familie Heap, und er war es noch weniger, seit seine Schwester Lucy mit diesem vermaledeiten Simon Heap durchgebrannt war. Doch auch Rupert war über Nickos Verschwinden traurig. Er wusste nicht recht, ob er all die Gerüchte, die in der Burg umgingen, glauben sollte, wonach Nicko in einer anderen Zeit gefangen sei. Aber eines war klar: Nicko war etwas Schlimmes zugestoßen, und das bedauerte er sehr.
Anfangs hatte er große Zweifel gehabt, als Jannit einen Heap einstellte, doch er hatte Nicko schätzen gelernt und ins Herz geschlossen. Er war ein lustiger Bursche und jederzeit für eine vergnügliche Bootsfahrt nach Port zu haben. Und seit Nicko nicht mehr da war, merkte Rupert, wie viel er gearbeitet hatte – mehr als zwei Werftgehilfen zusammen, wie er zu Jannit sagte. Doch auch wenn sie Nicko nicht gleichwertig ersetzen konnten, sie brauchten einen neuen Lehrling, bevor die Sommersaison begann.
An jenem Nachmittag, als Jannit aus dem Palast zurückgekehrt war, beobachtete Rupert, wie sie langsam zu ihrer baufälligen Hütte am Eingang der Bootswerft hinüberging. Neben der Hütte stand ein kleiner Schuppen, in dem der Lehrling schlief, und Rupert sah, wie sie behutsam die Tür öffnete und hineinging. Eine halbe Stunde später kam sie zu ihm.
»Ich brauche Hilfe«, war alles, was sie sagte.
Er sollte ihr helfen, einen Blechkoffer, auf den in krakeliger Schrift NICKO HEAP gepinselt war, in das alte Gefängnis hinüberzutragen.
»Dort bewahrst du ihn auf, bis er wiederkommt«, sagte Jannit.
»Ja. Bis er wiederkommt«, sagte Rupert. Danach ging er zu der Porter Schaluppe, setzte sich auf das Bugspriet und starrte eine halbe Stunde lang in das schlammige Wasser des Burggrabens.
Simon und Lucy
Simon und Lucy gelangten sicher über den Fluss, bezahlten ein kleines Vermögen, um Donner aus den Fährställen auszulösen, und machten sich auf den Weg nach Port. Die Stimmung während des Ritts war gedrückt – die Rückkehr in die Burg hatte beide deprimiert.
Simon hatte es schockiert, dass der Zaubererturm unter Belagerung stand. Es hatte ihm zu Bewusstsein gebracht, wie viel ihm der Turm bedeutete und wie sehr ihm daran lag, dass er auch weiterhin unbeschadet blieb. Und damit ging die schmerzliche Erkenntnis einher, dass er sich durch sein Tun in den letzten drei Jahren jede Chance verbaut hatte, eines Tages Gewöhnlicher Zauberer zu werden (womit er sich mittlerweile gerne zufriedengegeben hätte) und an einem so wunderbaren, magischen Ort zu leben und zu arbeiten. Jetzt war es unwahrscheinlich, dass er den Zaubererturm jemals wiedersehen würde.
Lucy saß hinter Simon und blickte sich traurig um. Donner trabte zügig den Uferweg entlang, und als die Burg hinter dem Rabenstein verschwand, bedauerte Lucy, dass sie nicht den Mut aufgebracht hatte, ihrem Vater Guten Tag zu sagen, als sie am Morgen nach ihrer Ankunft zum Torhaus gegangen war. Er hatte müde und vergrämt ausgesehen – und so viel kleiner, als sie ihn in Erinnerung gehabt hatte. Sie wusste nicht recht, warum sie sich nicht getraut hatte, ihm zu sagen, dass sie wieder da war. Doch, sie wusste es – aus Angst vor einem Wutanfall ihrer Mutter. Aber jetzt bereute sie es. Wann würde sie ihre Eltern wiedersehen? Wahrscheinlich erst in Jahren. Und Simon würde sie niemals mit nach Hause bringen und ihren Eltern vorstellen können – was freilich nicht hieß, wie sie düster dachte, dass ihre Eltern darauf Wert gelegt hätten.
Während Donner fröhlich dahintrabte, bester Dinge nach seiner Befreiung aus dem feuchten und schmutzigen Stall, unternahm Lucy einen Versuch, die gedrückte Stimmung etwas aufzuhellen. »Immerhin hat dich Marcia nicht ins Gefängnis werfen lassen«, sagte sie. »So sauer kann sie also gar nicht sein.«
»Haha«, lautete Simons Antwort. Aber später sagte er: »Ich hoffe, sie kümmert sich um Spürnase. Dieser verdammte Merrin hat ihn gestohlen, bevor er wieder ganz aufgeladen war. Ich denke, ich werde ihr die Anleitung schicken.«
»Simon, das kannst du nicht tun.«
»Warum denn nicht?«
»Ach, Simon. Du gibst wohl nie auf, was?«
»Nein, Lucy. Niemals.«
Merrin
Merrins erster Arbeitstag im Manuskriptorium verlief nicht besonders gut. Nach dem Schreck über das Wiedersehen mit Simon – und dem unerwarteten Verlust von Spürnase – aß er seinen gesamten Vorrat an Lakritzschlangen. Am Spätvormittag war ihm schlecht, und er war sehr gereizt. Als Foxy ihn bat, ein Kamelleoparden-Rätselheft aus dem Magazin für wilde Bücher zu holen, erwiderte Merrin – dem es nach den Schauergeschichten, die ihm Beetle erzählt hatte, vor dem Magazin graute –, er solle es sich selbst holen. Foxy blickte entrüstet. Beetle hätte so etwas niemals getan. Als Foxy daraufhin sehr ungehalten wurde, sagte Merrin zu ihm, er könne sich sein blödes Kameldingsbums an den Hut stecken, und Foxy stapfte beleidigt an sein Schreibpult zurück.
Merrin lauschte eine Weile an der Tür, aber wie alle Lauscher hörte er nichts Gutes über sich, und so beschloss er, die anderen andere sein zu lassen und seinen Vorrat an Lakritzschlangen aufzufrischen. Er schlich hinaus, schloss die Tür hinter sich ab, damit kein Kunde in den Laden konnte, überquerte die Zaubererallee und tauchte in das Gewirr der Gassen ein, die ihn, so hoffte er, zu Mutter Custards rund um die Uhr geöffneten Süßwarenladen führen würden.
Doch die Gassen waren nicht so, wie er sie in Erinnerung hatte – jemand hatte sie verändert, nur um ihn zu ärgern. Als er Mutter Custards Laden endlich gefunden hatte, war er sehr hungrig. Und dies war wahrscheinlich der Grund, warum er drei Dutzend Lakritzschlangen, zwei Tüten Zuckerspinnen, eine Schachtel Karamelltermiten und ein ganzes Glas Bananenbären kaufte. Mutter Custard fragte ihn, ob er ein Fest gebe. Er wusste nicht genau, was ein Fest war, und so sagte er Ja. Darauf schenkte sie ihm eine Dose Kakaostreusel »für seine kleinen Freunde«.
Merrin fand, dass es sich nicht mehr lohnte, an diesem Tag ins Manuskriptorium zurückzukehren, und nachdem er drei in Kakaostreusel getauchte Lakritzschlangen und zehn Bananenbären verdrückt hatte, fühlte er sich ziemlich mutig. Er schlich sich in den Gemüsegarten des Palastes, holte seine Sachen aus dem grässlichen Schuppen und nahm, da er wusste, dass Simon Heap aus der Burg geworfen worden war, wieder sein Zimmer in Beschlag.
Der Geist der Gouvernante floh schluchzend in das alte Schulzimmer.
Pünktlich um halb sechs sprangen die Schreiber im Manuskriptorium von ihren Pulten und eilten zur Vordertür. Sie war verschlossen. Das Manuskriptorium hatte einen Universalzauber für alle Außentüren – wenn eine verschlossen war, waren alle verschlossen. Und so mussten die Schreiber warten, bis Jillie Djinn ungefähr zwei Stunden später aus der Hermetischen Kammer erschien, ehe sie hinauskonnten. In der Zeit bis dahin besprachen sie in einiger Ausführlichkeit, was sie mit Merrin anzustellen gedachten, wenn sie ihn in die Finger bekamen.
Als Merrin am nächsten Tag erschien, war er den anderen eine Erklärung schuldig, doch er besaß einen großen Vorrat an Lügenmärchen, und Jillie Djinn glaubte ihm (im Gegensatz zu den Schreibern). Jillie wollte nicht zugeben, dass sie eine schlechte Wahl getroffen hatte – und wer außer Merrin war wunschlos glücklich, wenn sie ihm den Auftrag gab, den gesamten Vorrat des Manuskriptoriums an gebrauchten Bleistiften zu zählen und nach ihrem neuen Ordnungssystem, das auf der Anzahl der Bissspuren an jedem Bleistift beruhte, zu sortieren?
Stanley
Der neue Botenrattendienst entwickelte sich ganz anders, als Stanley gehofft hatte. Nachdem er Ephaniah Grebes Angebot, ihm einen Schwung Mitarbeiter zu besorgen, ausgeschlagen hatte, stellte er fest, dass sich die Nachricht von der Wiedereröffnung herumgesprochen hatte, und bald fanden regelmäßig Kunden den Weg in den Osttor-Wachturm.
Allerdings war Stanley leicht irritiert über die plötzliche Begeisterung für alberne Geburtstagsgrüße unter den jüngeren Bewohnern der Burg, und nachdem er es – zum dritten Mal an einem Tag – energisch abgelehnt hatte, einen Geburtstagsgruß zu singen, begann er ernsthaft darüber nachzudenken, ob er den Laden nicht wieder dichtmachen sollte.
Eines Abends, nachdem er nicht nur gebeten worden war, eine Nachricht vorzusingen, sondern auch noch dazu zu tanken, unternahm er zu später Stunde einen Spaziergang auf dem Außenpfad, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Stanley mochte den Außenpfad. Er führte außen an der Burgmauer entlang und war an manchen Stellen – wie Septimus einst herausgefunden hatte – nicht mehr als ein schmaler Grat. Die Geschichten, dass Gespenster auf dem Außenpfad ihr Unwesen trieben, glaubte Stanley nicht. Tatsächlich glaubte er überhaupt nicht an Gespenster. Doch es war stockfinstere Nacht, und als er an eine besonders schmale und bröckelige Stelle kam, hörte er direkt vor sich ein Scharren und Quieken. Und mit einem Mal stellte Stanley fest, dass er doch an Gespenster glaubte. Es war kein günstiger Zeitpunkt, und fast wäre er auf der Stelle in den Burggraben gehüpft.
Doch Stanley verabscheute es, nass zu werden, und das dunkle Wasser des Burggrabens sah kalt aus. Er sagte sich, dass das Gespenst an einer Ratte bestimmt nicht sonderlich interessiert war und wahrscheinlich verschwinden würde, wenn er sich ganz still verhielt. Doch die Geräusche wollten nicht verstummen. Und je länger Stanley lauschte, desto deutlicher hatte er das Gefühl, dass sie wie Rattenquieken klangen – genauer gesagt, wie das Quieken von Rattenbabys.
Es dämmerte bereits, als Stanley in den Osttor-Wachturm zurückkehrte – und er war nicht allein. Bei ihm waren vier durchgefrorene, hungrige und noch sehr kleine Rattenwaisen.
Syrah Syara
Als Syrah die langen Messer der Questenwächter sah, wusste sie, dass sie in Schwierigkeiten war. Sie ließen ihr nicht einmal Zeit, sich von Julius Pike, den sie wie einen Vater liebte, richtig zu verabschieden, und brachten sie auf das Questenschiff. Sowie sie einen Fuß an Deck gesetzt hatte, spürte sie, wie ihre magischen Kräfte schwanden. Von einem triumphierenden Tertius Fume verabschiedet, legte das Questenschiff sofort ab. Ein magischer Wind füllte seine Segel, und bald segelte es an Port vorbei, hinaus auf die offene See. Syrah weigerte sich, unter Deck zu gehen, und während das Questenschiff die Wellen durchschnitt, saß sie zitternd in Wind und Regen. Die ganze erste Nacht und den folgenden Tag blieb sie wach und ließ die Questenwächter und ihre scharfen Messer nicht aus den Augen.
Sie wusste, dass sie so gut wie tot war, wenn sie einschlief. In der zweiten Nacht spürte sie, wie ihr die Augenlider zufielen und das Verlangen nach Schlaf unwiderstehlich wurde. Während sie über das ruhige Meer blickte und einen Leuchtturm in der Ferne beobachtete, wurde sie von den sanften Bewegungen des Schiffes in den Schlaf gewiegt. Als sie mit jähem Schrecken wieder aufwachte, sah sie, wie die drei Wächter mit gezückten Messern auf sie zukamen.
Sie hatte keine Wahl. Sie sprang über Bord.
Das Wasser war ein Schock. Es war kalt, und Syrah konnte nicht schwimmen. Ihre schweren Kleider zogen sie nach unten, doch als sie sich strampelnd vom Questenschiff entfernte, spürte sie, wie ihre magischen Kräfte zurückkehrten. Sie rief einen Delfin, und gerade als die Wellen ein letztes Mal über ihrem Kopf zusammenschlugen, war er bei ihr. Erschöpft auf dem Rücken des Delfins liegend, sah Syrah, dass sie auf den Leuchtturm am Horizont zu schwammen. Bei Anbruch des Tages kamen Delfin und Lehrling wohlbehalten dort an.
Fernab der Burg begann Syrah ein neues Leben. Sie wagte nie, in die Burg zurückzukehren, doch sie schickte Julius Pike eine verschlüsselte Nachricht, um ihn wissen zu lassen, dass sie außer Gefahr war. Unglücklicherweise glaubte Julius, es handele sich um eine letzte Zahlungsaufforderung für ein paar Zaubertöpfe, die er bestellt hatte. Er hatte die Rechnung bereits beglichen, und so warf er den Brief in den Müllschlucker.
Morwenna
Der Augenblick, als Morwenna entdeckte, dass man sie hintergangen hatte und Jenna mit dem Transformanten geflohen war, markierte den Beginn einer Fehde zwischen dem Wendronhexenzirkel und der Burg. Oder vielmehr das Ende der Waffenruhe, die vor vielen Jahren begonnen hatte, als Silas – damals noch ein junger Zauberer – Morwenna vor einem Rudel Wolverinen rettete.
Morwenna betrachtete ihre Schuld gegenüber Silas als abgegolten, nachdem sie ihn zu seinem Vater geführt hatte. Aber auch über die Flucht Ephaniah Grebes ärgerte sie sich. Nach allem, was sie für ihn getan hatte, hatte er sein Versprechen gebrochen und Jenna, wie sie vermutete, mitgenommen.
Den jungen Hexen wurden Besuche im Lager der Heaps streng untersagt. Die jungen Hexen waren darüber bestürzt, und die jungen Heaps, besonders Jo-Jo, mussten feststellen, dass ihr Leben einiges an Bequemlichkeit einbüßte. Marissa wurde gezwungen, sich zwischen Morwenna und Jo-Jo zu entscheiden. Marissa war eine Hexe durch und durch und entschied sich für Morwenna.
Der Mautner
Der Mautner war nie ein freundlicher Mensch gewesen, und es ist zu bezweifeln, dass diejenigen, die ihn schon gekannt hatten, bevor das Gespenst in seinem Baumhaus auftauchte, einen Unterschied bemerkt hätten – abgesehen von dem Lakritzring. Über den Ring hätten sie sich allerdings gewundert, denn der Mautner tat gern die Meinung kund, dass man Männer, die Ringe trugen, »von einer Klippe stoßen sollte – das würde ihnen einen Lehre sein«. Ob es dem Mautner selbst eine Lehre war, werden wir nie erfahren.
Doch von einem Gespenst bewohnt zu werden, möchte man niemandem wünschen, so unsympathisch er auch sein mag. Der Mautner hatte sich gerade vor den Foryx in Sicherheit gebracht, wie er es jeden Tag zweimal tat, und befand sich in seinem Baumhaus, als das Gespenst bei ihm eindrang und keinen Zweifel an seinen Absichten ließ. Der Mautner erlebte einen Augenblick blanken Entsetzens – genau wie vor ihm einige widerspenstige Mautzahler, die ihm einen Goldzahn verweigert hatten und unversehens in den nebelverhangenen Abgrund stürzten.
Ephaniah Grebe
Ephaniah wäre in dem Baumhaus neben der Brücke fast gestorben. Obwohl Jenna, Septimus und Beetle es ihm mit ihren Wolverinenfellen so bequem wie möglich gemacht hatten, bekam er wie Hildegard hohes Fieber und fiel ins Delirium. Wäre er nicht so schwach gewesen, wäre er in seinem verwirrten Zustand womöglich aus dem Baumhaus gefallen und im Schnee erfroren – oder von den Foryx gefressen worden. Doch zum Glück konnte er sich kaum bewegen. Er lag auf dem kalten Bretterboden, zitterte, wenn heiße und kalte Wellen durch seinen Körper liefen, und hatte furchtbare Albträume – noch schlimmere als die, die er in den ersten Tagen nach seiner Verhexung in eine Ratte gehabt hatte.
Es war am späten Vormittag seines zweiten Tages im Baumhaus – obwohl es nach Ephaniahs Empfinden auch sein zweiter Monat hätte sein können –, als diese Albträume erschreckend realistische Züge annahmen. Über Nacht war sein Fieber ein wenig gesunken, und da er sich etwas kräftiger fühlte, wälzte er sich zur Türklappe und steckte den Kopf ins Freie. Zum Glück war er wieder so bei Sinnen, dass er nicht in die Tiefe stürzte. Er legte sich auf den Rücken, blickte hinauf in die verschneite Baumkrone, sog mit seiner empfindlichen Rattennase dankbar die frische Luft ein und leckte mit seiner kleinen rosa Zunge Schneeflocken auf, die in seine Richtung tanzten. So lag er eine Weile da und fühlte sich fast behaglich, als plötzlich ein heftiger Stoß den Baum erschütterte und eine große Ladung Schnee von den oberen Ästen herab auf sein Gesicht fiel. Erschrocken schüttelte er den Kopf, drehte sich auf die Seite und fand sich Aug in Aug mit einer Halluzination, die so lebensecht war wie keine andere zuvor. Ein mächtiger Drache stand unter dem Baumhaus. Sein langer, schuppiger Hals reichte bis herauf ins Geäst, und eines seiner smaragdgrünen, rot geränderten Augen sah Ephaniah direkt an.
Von irgendwoher rief eine Stimme, die Ephaniah selbst in seinem verwirrten Zustand wiedererkannte, aber nicht recht einordnen konnte: »Kannst du ihn sehen, Septimus?«
Eine andere Stimme antwortete: »Alles in Ordnung, Marcia, er ist hier. Es geht ihm gut. Es geht Ihnen doch gut, Ephaniah?« Erst da bemerkte er die kleine Gestalt, die halb verborgen in einer Mulde zwischen den mächtigen Schultern des Drachen und dem langen Hals hockte und über das ganze Gesicht strahlte. Und etwas weiter hinten saß, unbequem zwischen den Stacheln des Drachen, eine lila gekleidete Frau, die mit funkelnden grünen Augen, die fast noch heller leuchteten als die des Drachen, zu ihm heraufblinzelte.
»Er sieht sehr schwer aus«, sagte die lila Frau.
»Er ist sehr schwer«, erwiderte der Junge. »Ich weiß nicht, wie wir das schaffen sollen.«
»Ich werde ihn mit einem Transportzauber in den Schnee herunterbefördern. Dann soll ihn Feuerspei in seinen Krallen tragen. Glaubst du, das kann er?«
Langsam begriff Ephaniah, dass sie über ihn sprachen. Es war ein schrecklicher Albtraum. Wenn er doch nur aufhören würde.
»Leicht. Jenna hat er schon einmal so getragen, nicht wahr, Feuerspei?«
»Davon hast du mir nie erzählt«, sagte die Frau scharf.
»Äh ... nein, muss ich wohl vergessen haben.«
»Ein Drache trägt eine Prinzessin in seinen Krallen, und du vergisst das?«
Der Albtraum wurde schlimmer. Ja, er wurde so schlimm, dass Ephaniah wieder das Bewusstsein verlor und sich, als er nach einer Woche im Krankenzimmer des Zaubererturms wieder aufwachte, überhaupt nicht mehr an den Drachen erinnerte. Aber der Drache erinnerte sich an ihn, und von dem Tag an trampelte Feuerspei nie wieder auf eine Ratte.
Benjamin Heap
Benjamin Heap wollte nicht als ein Geist enden, der ziellos in der Burg umherwanderte und verwirrt in die Schenke Zum Loch in der Mauer flüchtete. Er wollte seine Tage im Wald beschließen, einem Ort, den er schon immer geliebt hatte, und das tat er dann auch. Benjamin Heap, der Gestaltwandler, wurde Baum. Er wurde ein Riesenlebensbaum, der einer seiner Lieblingsbäume war. Groß und stolz stand er im Wald und wurde langsam immer gewaltiger.
Als Benjamin Heap Baum wurde, begann er auch, wie ein Baum zu denken. Doch ein kleiner Teil tief im Inneren dieses Riesenlebensbaums blieb immer Ben Heap, der Gewöhnliche Zauberer, oder Großvater Benji, wie ihn seine vielen Enkelkinder nannten. Eines Wintertags hatte Ben Heap in der Großen Halle des Zaubererturms Jenna Crackel (die Schwester der weißen Hexe Betty Crackle) geheiratet. Sie bekamen sieben Söhne, und alle bis auf zwei, Alfred und Edmond, bekamen selbst viele Kinder.
Die Bäume lauschten immer in den Wald hinein. Ob sich Menschen unter ihnen trafen und flüsternd Geheimnisse austauschten, ob sich Wanderer miteinander unterhielten oder der Wind Stimmen herbeitrug – die Waldbäume hörten alles. Nicht immer war der Wind die Ursache für das Rascheln der Blätter im Wald – oft rührte es daher, dass die Bäume miteinander sprachen.
Auf diese Weise erfuhr Benjamin Heap immer, wie es seiner großen Familie erging. Doch am genauesten verfolgte er, was sein jüngster Sohn Silas – sein siebter – machte. Silas war spät in die Familie hineingeboren worden, und als er zur Welt kam, fühlte sich Benjamin schon alt. Er wartete so lange wie möglich damit, ein Baum zu werden, doch als Silas einundzwanzig wurde, konnte er nicht länger warten. Er musste gehen, solange er noch genug Kraft besaß, sich in einen gesunden Baum zu verwandeln.
Silas hatte seinen Vater schrecklich vermisst. Viele Wochen lang hatte er ihn im Wald gesucht, aber nie gefunden. Und als er bei einer dieser fruchtlosen Wanderungen schließlich der jungen und sehr hübschen Sarah Willow begegnete, die im Wald Kräuter sammelte, sagte er sich, dass er nun lange genug nach seinem Vater gesucht habe. Er heiratete Sarah, ließ sich häuslich nieder und kümmerte sich um seine rasch wachsende Familie.
Benjamin Heap lauschte immer dem Klatsch des Waldes, und so wusste er, dass Silas sieben Söhne hatte. Und zehn Jahre lang hatte er auch gewusst, dass sein verschollen geglaubter jüngster Enkel in der Jungarmee war. Wie gern hätte er Silas gesagt, wo sich Septimus befand, doch Silas besuchte ihn nie, und so konnte er nichts weiter tun, als alle Bäume des Waldes wissen zu lassen, dass sie Septimus bei den gefährlichen Übungen der Jungarmee behüten sollten. Aber umso glücklicher waren er und Silas, als Morwenna sie endlich zusammenbrachte – auch wenn es ernste Dinge zu besprechen gab.
Silas erzählte seinem Vater von dem Traum, in dem er Nicko durch einen eisstarren Wald laufen sah. Darauf sagte ihm Benjamin, dass dieser eisstarre Wald einst warm und freundlich gewesen sei. Er habe von Tieren gewimmelt und kleine Siedlungen mit glücklichen Menschen beherbergt. Nun aber werde er von Dunkelkräften beherrscht und sei kein sicherer Ort mehr. Silas sagte, dass er unbedingt dorthin müsse, und so beschrieb ihm sein Vater, wenn auch nur sehr ungern, den Weg.
Am frühen Nachmittag des nächsten Tags machten sich Silas und Maxie auf den Weg, doch kaum hatten sie die Alten Haine hinter sich gelassen, begegnete ihnen eine große, ganz in weiß gekleidete, schlurfende Gestalt, die am kleinen Finger der linken Hand einen Lakritzring trug – aber Silas war so überrascht darüber, mitten im Wald jemanden zu treffen, dass er den Ring gar nicht bemerkte. Als er in die Augen hinter den dicken Brillengläsern des Fremden blickte, wurde ihm ganz seltsam zumute – so seltsam, dass er ihm die Wegbeschreibung, die ihm sein Vater gegeben hatte, verriet, ohne danach gefragt worden zu sein. Silas ahnte nicht, dass er um ein Haar bewohnt worden wäre. Doch Maxies anhaltendes Knurren und der Anblick seiner gesträubten Nackenhaare – von den Zähnen des Wolfshundes ganz zu schweigen –, hatten das Gespenst dazu bewogen, davon Abstand zu nehmen.
Silas erinnerte sich später nicht mehr daran, was geschehen war, nachdem er sich von Morwenna getrennt hatte. Er schrieb den verlorenen Tag irgendeinem Hexenzauber zu und zerbrach sich den Kopf darüber, womit er die Hexenmutter beleidigt haben könnte. Er vergaß, dass er jemals seinen Vater getroffen hatte.
Maxie führte Silas in die Burg zurück. Als sie schließlich, mit müden Füßen und müden Pfoten, im Palast ankamen, konnte Silas Sarah nirgends finden. Billy Pot berichtete ihm, dass Sarah und Marcia mit Feuerspei weggeflogen seien, aber Silas wollte es nicht glauben. Warum um alles in der Welt sollte Sarah so etwas tun?
Billy Pot zuckte nur mit den Schultern. Er wusste es auch nicht, aber eines wusste er: Wenn Marcia einen Drachen fliegen wollte, ließ sie sich durch nichts davon abhalten.
Feuerspei
Feuerspei mochte sein neues Feld, und er mochte auch Billy Pot. Das Einzige, was er am Zaubererturm vermisste, war das Frühstück. Niemand machte sein Frühstück wie Septimus. Natürlich fragte sich Feuerspei, wo Septimus eigentlich steckte, doch nun, da er fast ausgewachsen war, verspürte er nicht mehr das Bedürfnis, seinen Herrn so häufig zu sehen.
Ebenso wenig verspürte Feuerspei das Bedürfnis, die Person zu sehen, die er im Verdacht hatte, seine Drachenmutter zu sein – manche Drachenmütter verkleideten sich nämlich. Aber diese Person, die immer Lila trug und häufig schrie, schien plötzlich das Bedürfnis zu haben, ihn zu sehen.
Als Feuerspei jedoch erkannte, dass die lila Drachenmutter vier Eimer voller Würste und Bananen – eine seiner Lieblingsspeisen – mitgebracht hatte, änderte er seine Meinung. Und es machte ihm auch nichts aus, als die lila Drachenmutter zu ihm sagte, dass sie den Platz seines Herrn einnehmen werde und dass er zu tun habe, was ihm gesagt werde. Für vier Eimer voller Würste und Bananen war Feuerspei zu allem bereit.
Und so kam es, dass Feuerspei zu dem längsten Flug startete, den er jemals unternommen hatte.
Seine neue Pilotin machte ihre Sache gut, nur die Navigatorin – eine dünne Frau in Grün – kreischte ziemlich oft. Er genoss den Flug. Es tat gut, mal wieder die Flügel zu strecken, und dass am Ziel sein Herr auf ihn wartete, war auch gut. Es war nett von der lila Drachenmutter, dass sie das für ihn arrangiert hatte. Doch die Gegend, in die sie ihn brachte, war merkwürdig – kalt, gruselig, und vor allem gab es dort weder Würste noch Bananen. Und plötzlich wollten jede Menge Leute mitfliegen. Aber er hatte nicht genug Platz für alle. Da konnte die lila Drachenmutter noch so viel schreien – Schreien half auch nicht weiter. Sie würden sich schon etwas anderes überlegen müssen. Und wo blieb eigentlich sein Abendessen?