* 29 *
Während Jenna, Ullr, Septimus und Beetle dem Köhlerpfad folgten, erwachten Silas und Maxie in einem kalten, feuchten Tipi im Sommerlager der Wendronhexen.
Maxie hatte die Nacht im Hexenzirkel genossen – Silas nicht. Das Tipi war undicht, und das Bettzeug war nass geworden und hatte angefangen, ranzig nach Ziege zu riechen. Und um das Unglück zu vollenden, hatte ihn die halbe Nacht das Gekicher mehrerer junger Hexen wach gehalten, die einen Überraschungsbesuch bei den »Heaps« planten, wie sie das Lager nannten, in dem Sam, Edd, Erik und Jo-Jo Heap lebten. Silas, der gar nicht wissen wollte, was seine vier Söhne mit den Wendronhexen zu schaffen hatten, hatte sich stinkende Ziegenwolle in die Ohren gestopft – was ein großer Fehler war – und Schäfchen gezählt, um wieder einzuschlafen – was ein noch größerer Fehler war, denn die Schäfchen hatten sich in Ziegen verwandelt und zu singen begonnen. Erst nach einer Weile war ihm klar geworden, dass es keine Ziegen waren, die da sangen, sondern die Hexen, die am Lagerfeuer saßen. Wütend hatte er sich ein stinkendes Ziegenfell über den Kopf gezogen, um den Lärm zu dämpfen, und war endlich eingeschlafen.
Während er jetzt dalag und ermattet an die Decke des Tipis starrte, streckte eine junge Hexe den Kopf zur Türklappe herein und sagte: »Die Hexenmutter wünscht, dass Sie ihr beim Frühstück Gesellschaft leisten.«
Silas setzte sich mühsam auf, und die junge Hexe unterdrückte ein Kichern bei seinem Anblick. Sein strohblonder Lockenschopf sah aus wie ein Vogelnest – allerdings wie das eines großen, unordentlichen Vogels, der mit der Sauberkeit auf Kriegsfuß stand. Mitten aus dem Nest guckten zwei grüne Augen hervor und versuchten, die junge Hexe zu orten. »Äh ... danke. Bitte sag ihr, dass es mir eine Freude sein wird.« Silas fühlte sich elend, so als ob die ganze Nacht eine nasse Ziege auf seinem Kopf gesessen hätte. Doch eine Einladung der Hexenmutter hatte man jederzeit mit Respekt und Ehrfurcht zu behandeln.
Ein paar Minuten später saßen er und Maxie an einem lodernden Lagerfeuer. Ein strenger Geruch nach nassem Hund, vermischt mit einem Hauch von ungewaschener Wolle, erfüllte die Luft, als das Zauberergewand, das Silas trug, in der Wärme zu dampfen begann. Hinter ihm goss die Hexe, die ihn geweckt hatte, heißes Hexengebräu in eine Tasse, vermied es aber, allzu tief einzuatmen.
Silas gegenüber saß Morwenna, die Hexenmutter, eine wohlbeleibte Frau mit stechenden blauen Hexenaugen und langen grauen Haaren, die von einem grünen Lederstirnband zusammengehalten wurden. Morwenna trug das grüne Sommerkleid der Wendronhexen, und als Hexenmutter hatte sie dazu eine breite weiße Schärpe um ihre mehr als füllige Taille geschlungen.
Die junge Hexe reichte Silas die dampfende Tasse, und er nahm argwöhnisch einen Schluck. Das Gebräu schmeckte so scheußlich, wie er befürchtet hatte – doch es wärmte auch auf merkwürdige Weise. Morwenna beobachtete ihn mit einem liebevollen Lächeln, und so trank er langsam noch ein paar Schlucke. Er spürte, wie der Schmerz in seinen Gliedern nachließ und sich seine Lebensgeister selbst aus dem tiefen Loch zogen, in das sie in der Nacht gefallen waren.
Die junge Hexe brachte Silas eine Holzschale, die etwas enthielt, was auf den ersten Blick wie Haferbrei mit Raupen aussah. Silas zögerte, sagte sich dann aber, dass die grünen Flecken höchstwahrscheinlich von irgendwelchen fleischigen Kräutern herrührten, und schob einen Löffel voll in den Mund. Sein erster Eindruck hatte nicht getrogen. Es waren Raupen. Er schluckte mit einiger Mühe – denn man spuckt nie, aber auch gar nie etwas aus, was einem eine Hexe zum Essen angeboten hat. Verzweifelt beäugte er den gewaltigen Haufen Raupenbrei, den er noch zu bewältigen hatte, und fragte sich, ob er einen Teil nicht heimlich an Maxie verfüttern könnte. Er beschloss, das Wagnis lieber nicht einzugehen.
»Ich hoffe doch, es schmeckt dir?«, fragte Morwenna, der sein Mienenspiel nicht entgangen war.
»Oh ... ja ... es ist sehr ... äh ...«, Silas biss gerade auf eine besonders fette Raupe mit Beinen, »... knusprig.«
»Das freut mich. Sie sind eine Frühjahrsspezialität. Geben Kraft und verschaffen einen klaren Kopf. Ich hatte den Eindruck, so etwas könnte dir jetzt nicht schaden.«
Silas nickte, konnte aber nichts sagen, denn er hatte den Mund voller Raupen und bekam sie nicht runter. Einige grässliche Augenblicke angestrengten Würgens später sagte er sich, dass er jetzt ganz stark sein musste – er würde alle Raupen auf einen Haufen schieben und die Sache rasch hinter sich bringen. Er fasste sich ein Herz und schluckte kurz hintereinander zwei große Löffel Raupen hinunter. Tief erleichtert betrachtete er den restlichen Brei, der nun raupenfrei war, und nahm noch einen großen Schluck von dem Hexentrank, um die letzte widerspenstige Raupe, die in einer Zahnlücke steckte, hinunterzuspülen. In diesem Augenblick trat die junge Hexe pflichtbewusst vor und schöpfte ihm aus einer kleinen Schüssel voller grüner, sich ringelnder Larven drei weitere gehäufte Löffel auf seinen Brei.
»Du siehst besorgt aus, Silas Heap«, sagte Morwenna.
»Ähem«, erwiderte Silas, überwältigt von dem Raupennachschlag.
»Danke, Marissa, du kannst uns jetzt allein lassen«, sagte Morwenna und schickte die junge Hexe mit einer Handbewegung fort. Lächelnd nahm sie Silas die Schale weg und stellte sie dem zutiefst dankbaren Maxie hin. »Vielleicht doch zu viele Raupen heute Morgen?«, fragte sie.
»Aber ... äh ... höchst bemerkenswert, die Raupen. Ich fühle mich schon viel besser, danke.« Und das stimmte. Silas fühlte sich tatsächlich viel besser. Um nicht zu sagen, blendend. Er hatte wieder einen klaren Kopf und fühlte sich stark und gerüstet für den Tag.
»Seit ich von Nickos Verschwinden gehört habe«, sagte Morwenna, »warte ich auf dich.«
Silas sah sie verwundert an. »Ach, Morwenna, ich weiß, dass Nicko im Wald ist. Ich weiß nur nicht, wo.«
»Und ich weiß, dass er nicht im Wald ist«, erwiderte Morwenna.
»Bist du sicher?«, fragte Silas, der tiefe Achtung vor Morwennas Wissen hatte.
Morwenna beugte sich vor, legte ihm ihre überraschend zierliche Hand auf den Arm und sagte ganz sanft: »Silas, ich muss dir sagen, dass Nicko nicht mehr in dieser Welt weilt.«
Silas wurde kreidebleich. Die Tipis begannen sich um ihn zu drehen, und am liebsten hätte er sich erbrochen. »Du meinst, er ist tot?«
»Nein«, erwiderte Morwenna hastig. »Er ist genauso wenig tot wie die, die noch gar nicht geboren sind.«
Silas vergrub das Gesicht in den Händen. Selbst an seinen besten Tagen fand er das, was Sarah verächtlich Hexenschwatz nannte, ziemlich anstrengend, und heute war ganz bestimmt nicht sein bester Tag. Er musste unbedingt mit seinem Vater sprechen. Sein Vater war ein praktisch denkender Mann gewesen, ein ehrlicher, anständiger Zauberer und Gestaltwandler, der jetzt als Baum irgendwo im Wald lebte. Er wusste bestimmt, was zu tun war.
»Morwenna«, sagte Silas, »es gibt da einen Baum, den ich finden muss.«
»Im Wald gibt es viele Bäume«, bemerkte Morwenna. Im ersten Moment fragte sich Silas, ob sie sich über ihn lustig machte, aber dann sagte sie: »Und manche sind mehr Baum als andere. Manche sind als Bäume auf die Welt gekommen, und manche sind Bäume geworden. Ich glaube, der Baum, den du suchst, ist nicht als Baum auf die Welt gekommen, habe ich recht, Silas Heap?«
»Ja«, antwortete Silas.
»Es ist nicht leicht, einen Baum zu finden, der nicht als Baum auf die Welt gekommen ist. Sie wachsen in den Alten Hainen, und das sind gefährliche Orte. Manche sind glücklich darüber, dass sie ein Baum geworden sind, andere weinen und jammern und wären gern wieder das, was sie früher waren. Sie wollen Reisenden Böses und locken sie ins Verderben. Wen wünschst du zu finden, Silas Heap?«
»Benjamin Heap. Meinen Vater.«
»Ah ja, deinen Vater, den Gestaltwandler. Es stimmt, was man sich so erzählt – deine Familie ist voller Geheimnisse, Silas Heap.«
»So? Tut man das? Ich weiß auch nicht, warum. Mein Vater mochte Bäume einfach, das ist alles. Er war ein ruhiger und sehr bedächtiger Mann. Wahrscheinlich passte das einfach zu ihm. Aber ... na ja, jedenfalls haben ihn die Jungen, Septimus und Nicko, letztes Jahr gefunden. Und ich muss mit ihm sprechen, Morwenna. Er wird wissen, wo ich Nicko finde. Er muss. Er muss.«
Morwenna hatte Silas Heap noch nie so verzweifelt gesehen. In Erinnerung an jenen Tag vor vielen Jahren, als Silas sie vor dem sicheren Tod durch Waldwolverinen gerettet hatte, machte sie ihm ein großzügiges Angebot. »Ich werde dich zu deinem Vater bringen«, sagte sie.
Silas stockte der Atem. »Du weißt, wo er ist?«
»Aber gewiss. Ich kenne jeden Baum im Wald. Wie könnte ich Hexenmutter sein und das nicht wissen?«
Silas war sprachlos. Seit fünfundzwanzig Jahren suchte er seinen Vater, und Morwenna hatte die ganze Zeit gewusst, wo er war.
»Du bist auf einmal so still, Silas. Willst du deinen Vater vielleicht gar nicht sehen?«
»Oh ... doch. Doch, doch.«
Fünf Minuten später folgten Silas und Maxie der Hexenmutter auf dem gewundenen Weg hinunter in den Wald. Unten angekommen, bogen sie in einen schmalen Pfad, der, wie Silas wusste, zum Lager seiner Söhne führte, in dem er die letzten Tage zugebracht hatte – bis er und die Lagerbewohner es nicht mehr miteinander aushielten. Leise gingen sie um das Lager herum. Zu dieser Morgenstunde lag es noch verschlafen da mit seinen Hütten, die wie große Laubhaufen aussahen und von den jungen Heaps Biegen genannt wurden, weil sie aus gebogenen Weidenstöcken und Laub gebaut waren. Nur das schwelende Lagerfeuer deutete darauf hin, dass hier jemand wohnte, und ein Schnarchen, das aus Sams Biege drang. Am liebsten wäre Silas hingegangen, hätte alle aufgeweckt und zu ihnen gesagt, dass sie aufstehen und etwas tun sollten – womit er schon während seines Aufenthalts Unfrieden gestiftet hatte. Doch er widerstand der Versuchung.
Morwenna führte sie immer tiefer in den Wald hinein, über dunkle Lichtungen, durch tiefe Schluchten und zu versteckten Orten, an denen Silas nie zuvor gewesen war. Sie kamen schnell voran, und die Hexe schlängelte sich flink zwischen den Bäumen hindurch. Ihre waldgrünen Kleider nahmen die Farben und Formen der Umgebung an, und Silas musste höllisch aufpassen, dass er sie nicht verlor. Maxie trabte hinterher. Seine steifen alten Gelenke schmerzten von dem langen Marsch, aber er ließ Silas keine Sekunde aus den Augen.
Plötzlich verschwand Morwenna in einem Dickicht aus riesigen Farnen. Silas wollte ihr folgen, doch die dicken Stängel ließen ihn nicht durch. Er drückte und schob, beschimpfte sie sogar leise, doch sie gaben nicht nach. Das einzige Ergebnis seiner Bemühungen war, dass schließlich eine eindrucksvolle Ansammlung riesiger Kletten und zwei eklige Kröten an seinem Mantel hingen. Er verkniff es sich, Morwennas Namen zu rufen, denn er wusste, dass der Klang einer menschlichen Stimme im Wald selbst am hellen Tag eine Art von Aufmerksamkeit erregte, die einem Menschen nicht unbedingt lieb war. Und so wartete er in der Hoffnung, dass Morwenna ihn bald vermissen würde. Maxie sank dankbar zu Boden und leckte sich die müden Pfoten, aber Silas war nicht so geduldig. Er stand sich die Beine in den Bauch, kratzte sich am Kopf, als es ihn juckte, und entfernte drei Baumkäfer, pflückte die klebrigen Kröten von seinem Mantel und setzte sie auf ein nahes Bäumchen und zupfte schließlich nacheinander fünfundzwanzig Riesenkletten von seinem Mantel und warf sie in die Farne. Aber noch immer keine Spur von der Hexenmutter. Er beschloss, ein Flüstern zu wagen: »Morwenna ... Morwenna ...«
Nach einer Weile tauchte sie zwischen den Farnen auf. »Da bist du ja«, sagte sie. »Los, weiter. Keine Müdigkeit vorschützen.« Sie stürzte sich wieder in die Farne, doch diesmal blieb Silas so dicht hinter ihr, dass er ihr fast in die Hacken trat. Die dicken Stängel machten der Hexe Platz, nicht aber ihren Begleitern. Sobald Morwenna vorüber war, schlossen die hohen Farne wieder die Reihen und zwangen Silas und Maxie, flugs durch die enger werdende Lücke zu schlüpfen. Ein Glück, dachte Silas, dass Morwenna um einiges breiter war als er.
Unter den Farnen verblasste das Tageslicht zu einem grünen Halbdunkel, und schließlich traten sie in eine große grüne Kathedrale aus Bäumen – den größten Bäumen, die Silas in seinem ganzen Leben gesehen hatte. Ihre Äste reckten sich anmutig hinauf in das Blätterdach des Waldes, das sich Dutzende von Metern über ihnen spannte. Ein unerwartetes Gefühl der Ehrfurcht überkam ihn. Maxie winselte.
»Dein Vater ist hier«, sagte Morwenna leise.
»Oh ...«
»Ich lasse dich jetzt allein, Silas Heap«, sagte Morwenna halb flüsternd. »Ich habe etwas in unserem Winterlager zu erledigen. Ich hole dich auf dem Rückweg wieder ab.«
Silas antwortete nicht. Er konnte sich nicht vorstellen, einen so friedlichen Ort jemals wieder zu verlassen.
»Silas?«, fragte Morwenna.
Silas kam wieder zu sich, schüttelte sich und antwortete: »Vielen Dank, Morwenna. Aber ... ich glaube, ich möchte noch eine Weile hierbleiben.«
Morwenna sah seinen entrückten Blick, und da wusste sie, dass kein vernünftiges Wort mehr aus ihm herauszubekommen war. »Gut, dann pass auf dich auf«, sagte sie. »Und vergiss nicht, in den Stunden der Dunkelheit den Waldboden zu verlassen. Die Alten Haine sind nachts ein gefährlicher Ort.«
Silas nickte.
»Möge die Göttin mit dir sein.«
»Morwenna?«
»Ja, Silas Heap?«
»Wo genau ist mein Vater?«
Morwenna deutete auf das Gewirr knorriger und bemooster Wurzeln unter seinen Stiefeln.
»Du stehst auf seinen Zehen«, sagte sie mit einem Lächeln. Und dann war sie fort.