* 23 *
Die Fackeln auf den letzten beiden silbernen Pfählen ganz am Ende der Zaubererallee trotzten dem Wind, und ihre Flammen flatterten wie nasse Lappen in einem Sturm.
»Los, Beetle, du musst dich dagegen wehren!«, schrie Jenna gegen das Heulen des Windes an, als sie sich dem Großen Bogen näherten. »Sie kann dich nicht einfach so vor die Tür setzen. Du wirst sehen, wenn Marcia davon erfährt, steht Jillie Djinn auf verlorenem Posten.«
Beetle hatte nicht die Kraft zu antworten. Während Jenna ihn durch den Bogen auf den Hof bugsierte, musste er die ganze Zeit daran denken, wie er die Neuigkeit seiner Mutter beibringen sollte, die jedem, der es hören wollte, erzählte, dass sie in ihrem ganzen Leben nie so stolz gewesen sei wie an jenem Tag, an dem ihr Sohn die Aufnahmeprüfung zum Manuskriptorium bestanden habe. Doch worüber seine Mutter nie sprach: Von seinem Lohn – eine halbe Silberkrone in der Woche – bezahlten sie die Miete für ihre kleinen Zimmer in den Anwanden, von seinem Lohn konnten sie sich regelmäßig Kartoffeln und Fisch kaufen.
Der Hof des Zaubererturms war vor dem Wind geschützt, und die Fackeln, die in Halterungen entlang den Mauern steckten, brannten gleichmäßig und hell. Jenna fiel auf, dass der Hof ungewöhnlich sauber war – frei von unliebsamen Überraschungen, und man hatte gar kein glitschiges Gefühl mehr unter den Füßen. Als sie mit Beetle auf die große Marmortreppe zusteuerte, die in den Turm führte, erschien, mit einer Schaufel und einem riesigen Eimer bewaffnet, der Grund für die plötzliche Sauberkeit.
»Hildegard!«, rief Jenna überrascht. »Was tun Sie denn hier? Ich dachte, Sie hätten ein paar Tage freigenommen.«
Hildegard blieb stehen, fuhr sich mit einer schmutzigen Hand über die Stirn und lehnte sich erschöpft auf die Schaufel. »Schön wär’s«, antwortete sie.
Ihre blaue Robe einer Unterzauberin war pitschnass und mit Schlamm – oder Schlimmerem – bespritzt, und ihr Haar war strubbelig und zerzaust. »Ich nehme an«, sagte Jenna mitfühlend, »das ist nicht ganz der Posten, den Sie sich im Zaubererturm gewünscht haben.«
»Gewiss nicht«, erwiderte Hildegard und setzte, als ihr bewusst wurde, dass ihre Antwort etwas barsch ausgefallen war, hinzu: »Aber natürlich helfe ich gerne aus, solange der Lehrling nicht nach dem Drachen sehen kann und ...«
»Wieso?«, fiel ihr Jenna beunruhigt ins Wort. »Was ist denn geschehen? Ist Sep krank? Hatte er einen Unfall?«
»Aber nein, es besteht kein Grund zur Sorge, Prinzessin Jenna. Er macht heute seine erste Projektion. Eine knifflige Aufgabe. Er darf nicht gestört werden, bis er damit fertig ist. Bald ist es so weit, dann werden wir erfahren, was es ist. Anscheinend macht er seine Sache sehr gut, denn bis jetzt hat niemand erraten, was es ist. Allerdings ...«, Hildegards Stimme bekam einen missbilligenden Ton, »... haben einige ältere Zauberer Wetten abgeschlossen.«
»Gott sei Dank«, seufzte Jenna, »ich dachte schon, wir kämen zu spät.«
»Zu spät? Nein, ich glaube, er hat noch zehn Minuten, dann ist Schluss.«
»Schluss?«
»Mit der Projektion. Versuchen Sie es doch mal in der Großen Halle. Also ich habe das Gefühl, der Schrank für alte Zauber ist nicht ganz hasenrein.« Hildegard zwinkerte verschwörerisch. »Aber jetzt entschuldigen Sie mich bitte, ich muss rasch diese Sachen aufräumen, dann komme ich nach.« Sie trabte davon.
Jenna und Beetle erklommen die Stufen zu der Tür aus massivem Silber, die den Eingang zum Zaubererturm bildete. Jenna murmelte das Losungswort, und die Tür schwang lautlos auf. Als sie in die Große Halle traten, huschten in flirrenden bunten Buchstaben die Worte WILLKOMMEN, PRINZESSIN über den Fußboden. Beetles Aufmerksamkeit entging nicht, dass das übliche WILLKOMMEN, PRÜFGEHILFE, mit dem er immer begrüßt worden war, ausblieb. Wie, so fragte er sich, konnte der Zaubererturm schon Bescheid wissen? Er fühlte sich noch schlechter, sofern das überhaupt möglich war. Irgendwie wurde es dadurch amtlich.
Die Große Halle war von erwartungsvollem Gemurmel erfüllt und wimmelte von Zauberern. Die einen hielten kleine rosa Zettel in der Hand, andere unterhielten sich oder standen nur herum und gaben sich den Anschein, als wären sie auf dem Weg zu dringenden Geschäften nur zufällig in die Halle gekommen. Jenna hatte noch nie so viele Zauberer auf einem Haufen gesehen. Es war ein farbenprächtiges Bild: die blauen Gewänder der Gewöhnlichen Zauberer, und im Hintergrund leuchtende, flüchtige Bilder, die über die Wände wanderten und denkwürdige Augenblicke aus der Vergangenheit des Zaubererturms darstellten.
Wie immer fühlte sich Jenna im Zaubererturm etwas beklommen. Obwohl sie als Prinzessin jederzeit willkommen war und sogar das Losungswort kannte, war der Turm für sie ein seltsamer, Ehrfurcht einflößender Ort. Er kam ihr vor wie ein lebendiges Wesen. Die Bilder an den Wänden wurden im steten Wechsel heller und wieder dunkler, als atme der Turm aus und ein, aus und ein. Heller und dunkler, heller und dunkler. Der schwere Weihrauchduft und der sonderbare Geruch von Magie – nach alten und neuen Zaubern – hatten für sie etwas Beunruhigendes. Sie wollte alles verstehen, was in der Burg vor sich ging, aber aus dem, was die Zauberer taten, wurde sie nicht recht schlau. Einmal hatte sie Marcia gefragt, was sie eigentlich den ganzen Tag tue, und obwohl ihr alles eingeleuchtet hatte, was Marcia sagte, konnte sie sich hinterher an kein einziges Wort mehr erinnern. Ihr war sogar der Verdacht gekommen, dass Marcia sie mit einem Vergessenszauber belegt hatte, doch als sie mit Septimus darüber sprach, hatte der nur gelacht und erwidert, er erinnere sich auch nie daran, was Marcia zu ihm gesagt habe. Dennoch verstand Jenna allmählich, was mit dem alten Sprichwort gemeint war: Zauberer und Königin nie eines Sinnes werden sein, denn wenn er Ja sagt, sagt sie Nein.
Ein plötzliches Pst! unter den versammelten Zauberern riss Jenna aus ihren Gedanken. Am anderen Ende der Halle, dort, wo sich gerade die silberne Wendeltreppe aus der hohen gewölbten Decke schraubte, erschienen die unverwechselbaren spitzen lila Pythonschuhe von Marcia Overstrand. Um ihren Auftritt effektvoller zu gestalten, hatte Marcia die Treppe auf den langsameren Nachtbetrieb eingestellt. Aus leidvoller Erfahrung wusste sie nämlich, dass sie leicht für Heiterkeit sorgte, wenn sie im verhältnismäßig schnellen Tempo des Tagbetriebs abwärtswirbelte und unten eine Menge von Zauberern versammelt war. So aber schwebte sie elegant in die Große Halle ein, als steige sie vom Himmel herab. Am Boden angekommen, sprang sie ab und klatschte in die Hände, damit Ruhe einkehrte.
»Wie es scheint«, rief sie, »hat sich herumgesprochen, dass mein Lehrling, Septimus Heap, in diesen Minuten seine erste Projektion beendet.« Erregtes Gemurmel erhob sich. »Ich kann diesen Trubel nicht gutheißen«, fuhr sie fort. »Offen gestanden, hätte ich mir gewünscht, Sie hätten Besseres zu tun. Aber leider ist es Tradition geworden, und tatsächlich glaube ich mich zu erinnern, dass es bei mir seinerzeit nicht anders war. Vermutlich sind Sie deshalb hier in der Halle zusammengekommen, weil Sie glauben, dass die Projektion hier platziert worden ist.«
Ein allgemeines Raunen folgte, und ein mutiger Zauberer rief: »Geben Sie uns einen Tipp, Außergewöhnliche!«
»Ich weiß nicht mehr als Sie«, antwortete sie. »Mein Lehrling hat ganz allein entschieden, was er projizieren will. Er hat mich nicht eingeweiht.«
Wieder ging ein aufgeregtes Gemurmel durch die Halle, und unter den Zauberern entbrannte eine Diskussion darüber, was Septimus wohl projiziert hatte. Marcia hob die Stimme. »Aber ... entschuldigen Sie, dürfte ich um Ruhe bitten? Sofort? Danke. Da wären noch ein paar Punkte, auf die ich bestehen muss. Erstens: Bitte gehen Sie bis zum Ende der Projektion nicht mehr als nötig herum. Zweitens: Wenn nach Beendigung der Projektion nicht gleich ersichtlich wird, was projiziert wurde, möchte ich nicht, dass alle würdelos durch den Turm rennen und suchen. Wenn Sie die Projektion nicht schon entdeckt haben, werden Sie sie schwerlich bemerken, wenn sie wieder verschwunden ist, meinen Sie nicht?«
Ein gehorsames Nicken ging durch die Reihen.
»Und drittens: keine Wetten!«
Ein ersticktes Stöhnen kam von den Zauberern. Die kleinen rosa Zettel, die Jenna bemerkt hatte, wurden hastig in tiefe Taschen gestopft.
»Ich zähle nun bis zum Ende der Projektion. Fünf ... vier ... drei...«
Ein lautes Rumpeln ertönte aus dem Schrank für alte Zauber, und im nächsten Augenblick stürzte Catchpole heraus, verfolgt von einer großen, scheppernden Mülltonne. Zur großen Belustigung des Publikums schickte sich die Tonne an, den bedauernswerten Catchpole durch die Halle zu hetzen. Marcia sah fassungslos zu – wenn das die Projektion war, dann hatte sie nie zuvor etwas Vergleichbares gesehen. Die Projektion war sowohl zu sehen als auch zu hören, und so etwas hatte man bislang für unmöglich gehalten. Als junger Lehrling war es ihr einmal gelungen, ein paar tanzenden Schafen, die sie an Althers Geburtstag zum Spaß proji"ziert hatte, ein Blöken zu entlocken, aber es war nur ein kurzes und ziemlich leises Blöken gewesen, und Alther, der damals schon etwas schwerhörig war, hatte es gar nicht gehört.
»Warum fürchtet er sich denn vor einer alten Mülltonne?«, schrie Jenna gegen den allgemeinen Lärm an.
»Ich vermute, Sep hat sich an einer Doppeltäuschung versucht«, antwortete Beetle.
»Einer was?«
» Wir sehen eine Mülltonne. Catchpole sieht etwas anderes.«
»Was denn zum Beispiel?«
»Wahrscheinlich das, wovor er sich am meisten fürchtet. Das klappt normalerweise. So musste Sep nicht entscheiden, was Catchpole sieht – Catchpole hat ihm die Entscheidung abgenommen.« Jenna warf Beetle einen bewundernden Blick zu. Woher wusste er das alles nur? Beetle fing den Blick auf und errötete.
Im Glauben, er werde von seinem früheren Vorgesetzten, dem Jäger, verfolgt, flitzte Catchpole zurück in den Schrank für alte Zauber, schlug die Tür hinter sich zu und sperrte die Mülltonne aus. Die Mülltonne – beziehungsweise der Jäger – zog ihre Beine ein, rückte ihren Deckel zurecht, verschränkte ihre kurzen, behaarten Arme und setzte sich vor die Tür, bis sie aussah wie eine ganz gewöhnliche Mülltonne mit kurzen behaarten Armen, die jemand für die Müllabfuhr bereitgestellt hat.
Bei all der Aufregung hatte niemand bemerkt, dass die Treppe plötzlich auf den schnellen Notfallbetrieb umgeschaltet hatte und ein grüner Blitz auf ihr herabschoss. Ein paar Sekunden später, gerade im rechten Augenblick, sprang Septimus von den Stufen, und als er schlitternd neben Marcia zum Stehen kam, wirbelten die Worte HERZLICHEN GLÜCKWUNSCH ZUR ERSTEN GELUNGENEN PROJEKTION, LEHRLING um seine Füße.
Tosender Beifall begrüßte ihn. Fröhlich grinsend deutete er auf die Tonne und schnippte mit den Fingern, und unter den Ahs und Ohs der begeisterten Menge verschwand die Mülltonne mit einem lauten Knall in einem grünen Blitz.
Marcia fand das gar nicht komisch. »Das war überflüssig, Septimus. Wir führen keine billigen Zaubertricks vor. Magie ist eine ernste Angelegenheit.«
Marcia wusste gar nicht, wie recht sie hatte. Im selben Augenblick schwang die Tür zum Zaubererturm auf, und in der Öffnung stand, sich gegen einen blendenden Blitzstrahl abhebend, Tertius Fume.