* 6 *
Septimus beschloss, den um die Burgmauer herumführenden Außenpfad zu nehmen, falls Marcia trotz ihrer Kopfschmerzen unerwartet zu einem Zaubernotfall gerufen wurde – bei seinem Pech würde er ihr dabei bestimmt in die Arme laufen. Mit wachsender Erregung überquerte er die Werft, vermied aber jeden Lärm, um Jannit nicht zu stören. Bald gelangte er zu einem alten Flussboot, das kieloben aufgebockt war, schlüpfte dahinter vorbei und fand, was er suchte – die steilen Stufen, die zum Außenpfad hinaufführten.
Der Außenpfad war ein schmaler, bröckelnder Felssims nur zwei, drei Meter über dem dunklen Wasser des Burggrabens. Er war nicht als Fußweg angelegt worden, sondern verlief dort, wo das mächtige Fundament der Ringmauer endete und die etwas dünnere Mauer begann, die aus kleineren, schöner behauenen Steinen errichtet war. Als Septimus noch in der Jungarmee diente, waren die älteren Jungs häufig als Mutprobe auf dem Außenpfad entlanggelaufen. Er selbst hatte sich das nie getraut – bis heute. Nun aber, mit dem Selbstvertrauen seiner eineinhalb Jahre als Außergewöhnlicher Lehrling und in der Gewissheit, dass er seinen Flug-Charm benutzten konnte, falls er ausrutschen und stürzen sollte, stieg er die Stufen zum Pfad hinauf.
Der Pfad war schmaler, als er erwartet hatte. Septimus ging langsam, setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen und tastete dabei nach lockeren Steinen. Er war dankbar für das Licht des abnehmenden Vollmonds, das vom Wasser zurückstrahlte und die fahlen Steine der Mauer beschien. So war der Weg leicht zu erkennen. Zudem war er hier, auf der Windschattenseite, vor dem Ostwind geschützt. Er konnte sehen, wie sich die Wipfel der Bäume bogen, aber unten am Wasser wehte kein Lüftchen.
Weit drüben auf der anderen Seite des Burggrabens, beängstigend nahe am Wald, waren die Lichter des Spitals zu sehen, eine lange Reihe kleiner, von flackernden Kerzen erleuchteter Fenster. Septimus blieb stehen und beobachtete, wie sich Sarahs Laterne, von Nicko gerudert, langsam, aber stetig dem Ufer auf der Waldseite näherte. Die Laterne war nur ein kleiner Lichtpunkt vor der großen dunklen Masse der Bäume. Hoffentlich erwartete Alther sie bereits, wenn sie auf der Waldseite anlandeten.
Ein paar Minuten später erreichte die Laterne das andere Ufer, und Septimus sah Althers Silhouette in ihrem Schein. Erleichtert setzte er seinen Weg fort. Bald machte der Pfad eine Biegung, das Spital entschwand seinem Blick, und vor ihm lag ein langes und verlassenes Stück Weg. Verwundert stellte er fest, dass von der Schlangenhelling noch nichts zu sehen war. Offensichtlich hatte er die Krümmung der Ringmauer unterschätzt. Dennoch ging er weiter. Die Aussicht, mit Marcellus Pye sprechen zu können, trieb ihn an.
Im Gehen – und er musste jetzt langsamer gehen, als ihm lieb war, denn der Pfad war sehr holprig – spürte er die Kühle, die vom Burggraben heraufstieg, und die Feuchtigkeit des träge fließenden Wassers stieg ihm in die Nase. Direkt über dem Graben bildete sich eine Nebelschicht, die vor seinen Augen immer dichter wurde, bis er die Wasseroberfläche nicht mehr sah. Mit dem Nebel kehrte eine sanfte Stille ein, die nur gelegentlich vom Ächzen des Windes in den Baumwipfeln am Waldrand durchbrochen wurde.
Seine Begeisterung, Marcellus Pye zu begegnen, schwand, aber er ging weiter. Ihm blieb auch gar nichts anderes übrig, denn der Pfad wurde nun so schmal, dass es gefährlich gewesen wäre, sich umzudrehen. Nachdem er zweimal auf losen Steinen ausgerutscht war und um ein Haar ins Wasser geplumpst wäre, sah er ein, dass es töricht gewesen war, den Außenpfad auszuprobieren. Er blieb stehen, lehnte sich an die Mauer, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren, und tastete in seinem Lehrlingsgürtel nach dem Flug-Charm. Er blieb mit der Hand in der kleinen Tasche hängen, in der er den Charm aufbewahrte, und als er versuchte, sie herauszuziehen, bekam er das Übergewicht und fiel nach vorn. In panischem Schrecken fasste er nach den Steinen hinter sich, und im letzten Moment gelang es ihm, den Sturz abzufangen.
Es war ein dummer Fehler gewesen, den Außenpfad zu nehmen, doch er konzentrierte sich jetzt ganz auf den Weg vor ihm und versuchte, alle anderen Gedanken abzuschütteln, die um seine Aufmerksamkeit buhlten. Wie zum Beispiel:
den Gedanken an sein bequemes und warmes Bett, das oben im Zaubererturm auf ihn wartete.
Das Ächzen des Windes in den Baumwipfeln.
Warum klang das Ächzen so sonderbar?
Sein Bett.
Kamen Wolverinen in der Nacht bis an die Ringmauer?
Konnten Wolverinen schwimmen?
Konnten sie doch, oder?
Sein Bett.
Wieso sah der Nebel so gespenstisch aus?
Was verbarg sich unter dem Nebel?
Schwammen Wolverinen am liebsten bei Nebel?
Sein Bett.
Nicht aufgeben ... Stand in Marcellus Pyes Schriften nicht geschrieben, dass er dem Geheimnis des ewigen Lebens auf die Spur gekommen sei?
Angenommen, Marcellus war gar kein normaler Geist.
Angenommen, er war ein fünfhundert Jahre alter Mann.
War er dann nicht nur ein Gerippe aus Haut und Knochen?
Warum hatte er nicht schon vorher daran gedacht?
Genau in diesem Augenblick schob sich eine dicke Gewitterwolke vor den Mond und tauchte alles in Dunkelheit. Septimus blieb abrupt stehen und drückte sich gegen die Mauer. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Als sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, stellte er fest, dass er die Wipfel der Waldbäume zwar noch sehen konnte, nicht aber seine Füße, obwohl er angestrengt die Augen zusammenkniff. Und dann begriff er, warum nicht. Der Nebel war gestiegen und verhüllte seine Stiefel. Er konnte seine Feuchtigkeit riechen. Der Drachenring an seinem rechten Zeigefinger spendete sein tröstliches gelbes Licht, aber er nahm den Ring ab und steckte ihn in die Tasche, denn plötzlich erschien ihm das Leuchten des Rings wie die laute Aufforderung: »Kommt und holt mich!«
Wahrscheinlich war nicht mehr als eine halbe Stunde vergangen – obwohl Septimus mittlerweile überzeugt war, dass mit Hilfe eines Umkehrzaubers mindestens drei Nächte aneinandergereiht worden waren –, als er plötzlich hinter sich Schritte vernahm. Zu Tode erschrocken blieb er stehen, aber aus Furcht, ins Wasser zu fallen, wagte er nicht, sich umzudrehen. Die Schritte kamen näher, und er setzte seinen Weg fort, tappte den Pfad entlang und spähte in der verzweifelten Hoffnung, endlich die Schlangenhelling zu entdecken, in die Nacht, aber immer neue Gewitterwolken zogen auf, und der Mond blieb verborgen.
Die Schritte klangen leichtfüßig und flink, und Septimus merkte, dass sie aufholten. Wenn er selbst zwei machte, machte das Gespenst – und er war sich sicher, dass es ein Gespenst war – drei. Verzweifelt versuchte er, einen Zahn zuzulegen, doch die Schritte kamen immer näher.
Plötzlich vernahm er ein anderes Geräusch hinter sich »Ssss ... Ssss ...« Das Gespenst zischte ihn an. Zischte? Es musste ein Schlangenkopfgespenst sein ... oder sogar ein Magog. Magogs zischten doch manchmal, oder? Vielleicht war einer von DomDaniels Magogs zurückgeblieben. Vielleicht lebte er in den Burgmauern und kam nachts heraus, wenn irgendein Schwachkopf auf die blödsinnige Idee kam, auf dem Außenpfad herumzuspazieren.
»Sssss!«, zischte es laut in sein Ohr. Vor Schreck fuhr Septimus zusammen, und sein rechter Fuß glitt von dem schmalen, bröckligen Pfad. Verzweifelt griff er nach den Steinen, doch er rutschte weiter ab. Sein rechter Stiefel tauchte bereits ins Wasser, und Septimus war drauf und dran, ihm zu folgen, da spürte er, wie ihn etwas am Mantel packte.