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11. Jennas Ritt

 

Jenna

Septimus hatte Recht. Bei den beiden Reitern auf dem schwarzen Pferd, die Marcia bei ihre Fernsuche aufgespürt hatte, handelte es sich in Wahrheit um Jake und Betty Jago, die in den Ackerlanden eine kleine Gemüsegärtnerei betrieben und auf dem Weg zu Bettys Mutter waren, die in den Anwanden wohnte. Aber weit entfernt in den Tieflandhügeln trabte über die Apfelwiesen ein weiteres schwarzes Pferd, das zwei Reiter trug, einen männlichen und einen weiblichen. Sie war klein und dunkelhaarig, mit einem goldenen Reif auf dem Kopf. Er war groß, mit wildem Blick und langen strohblonden Haaren, die ihm der Wind aus dem Gesicht wehte, während er sein ermüdendes Pferd zur Eile antrieb.

Simon hing beim Reiten seinen Gedanken nach. Er wunderte sich, wie einfach alles gewesen war. Er hatte zumindest erwartet, dass man ihn am Palasttor anhalten und ausfragen würde. Aber da war niemand gewesen, und deshalb, so dachte er mit einem grimmigen Grinsen, hatten die Heaps selbst Schuld. Er hatte nicht damit gerechnet, dass ihm Jenna so leicht in die Hände fallen würde, und so war ihm sein Erfolg selbst etwas unheimlich. Er fürchtete, dass sie noch Schwierigkeiten machen könnte. Er kannte ihren Dickkopf und erinnerte sich noch gut an die Wutanfälle, die sie als kleines Kind hin und wieder bekommen hatte. Allerdings hatte er es immer verstanden, sie zum Lachen zu bringen und vergessen zu lassen, was sie bedrückte.

Simon schüttelte ärgerlich den Kopf. Er wollte jede angenehme Erinnerung an seine kleine Adoptivschwester vergessen, mit der er zehn Jahre lang zusammengelebt und die er geliebt hatte. Das war einmal, sagte er sich streng. An Jennas zehntem Geburtstag war Marcia Overstrand in ihr Leben getreten und hatte alles kaputtgemacht, und das war das Ende der Familie gewesen, wie er sie kannte. Das Fass endgültig zum Überlaufen gebracht hatten seine Eltern, als sie sich von diesem Knaben aus der Jungarmee weismachen ließen, er sei ihr heißgeliebter siebter Sohn, und damit nicht genug: Dieser Emporkömmling bekam auch noch das Einzige, was Simon sich jemals gewünscht hatte, die Lehrstelle bei der Außergewöhnlichen Zauberin. Heute konnten sie ihm alle gestohlen bleiben, alle bis auf Lucy Gringe.

Hätte es mit Jennas Entführung nicht geklappt, hätte er Lucy mitgenommen. So hatte er es vorher geplant. Aber die Arbeit ging vor. Er war ein pflichtbewusster Lehrling und hatte im vergangenen Jahr alles getan, was sein Meister ihm aufgetragen hatte. Er hatte sich nicht darauf gefreut, Jenna zu entführen, aber Befehl war Befehl. Es musste sein. Lucy würde noch etwas warten müssen – obwohl es ihm viel lieber gewesen wäre, Lucy hätte jetzt beim Ritt über die Apfelwiesen vor ihm auf dem Pferd gesessen und gelacht, und nicht Prinzessin Jenna, die wie versteinert dasaß und keine Miene verzog.

Abgesehen von den wenigen Monaten, die Jenna in den Marram-Marschen verbracht hatte, war sie nie aus der Burg herausgekommen, und sie war beeindruckt, wie grün und abwechslungsreich die Ackerlande waren. Hätte jemand anders als Simon hinter ihr gesessen, hätte sie den Ausritt genossen. Die Sonne schien, doch es war nicht zu heiß, denn gegen Mittag waren von Westen her ein paar Wolken am blauen Himmel aufgezogen und hatten der Hitze die Spitze genommen. Simon hatte Donner gestattet, aus dem Galopp in Trab zurückzufallen, und von Zeit zu Zeit, wenn das Gelände anstieg, ging der Rappe sogar gemächlich im Schritt. Jenna konnte sich an der Umgebung nicht satt sehen. Sie staunte, wie schön es hier draußen auf dem Land war.

Sie wollte Simon nicht die Genugtuung geben, ihre Angst zu zeigen. Sie saß aufrecht da und machte als geübte Reiterin die Bewegungen des Pferdes mit, während sie auf scheinbar endlosen staubigen Wegen durch die Ackerlande ritten, die sich jenseits des Flusses kilometerweit hinzogen.

Einmal hatte Simon an einem Bach neben einer Wiese angehalten, um das Pferd zu tränken und eine Weile grasen zu lassen. Er hatte Jenna etwas zu essen angeboten, doch sie hatte abgelehnt. Sie war nicht hungrig. Wie Donner stillte sie ihren Durst am Bach, und als Simon zum Aufbruch mahnte, nahm sie Reißaus. Sie flitzte durch das seichte Bachbett und einen schmalen Pfad entlang. Am Ende des Pfades sah sie ein kleines Haus, vor dem eine alte Frau saß und im Schatten döste. Noch während sie darauf zu rannte, hörte sie Hufschläge hinter sich, und im nächsten Augenblick wurde sie von Simon gepackt und grob in den Sattel gehoben. Sie hatten kein zweites Mal Rast gemacht.

Im Lauf des Tages wichen die saftig grünen Wiesen der Talauen den sanft ansteigenden Hügeln der Tieflande. An die Stelle der Obstgärten und Baumwiesen der kleinen Bauernhöfe und Gärtnereien traten Hänge, an denen Wein angebaut wurde, und Donner trabte und trabte, obwohl es stetig bergauf ging, die Hügel immer höher wurden und vor ihnen bereits die Grenzberge blau und lila aus dem Dunst auftauchten.

Langsam dämmerte Jenna, dass Simon nicht die Absicht hatte, sie gehen zu lassen. Am Morgen hatte sie noch gehofft, dass er ihr nur eine Art Streich spielte und dass er Donner irgendwann herumreißen und zur Burg zurückgaloppieren würde. Sie hatte sich sogar schon genau zurechtgelegt, was sie ihm sagen wollte, wenn sie zurück waren, und ein- oder zweimal hatte sie gedacht, er sei im Begriff, kehrtzumachen. Doch Donner lief immer weiter, auch wenn er nun, da das Gelände steiler und die Luft klarer und kühler wurde, häufiger im Schritt ging als trabte.

Am späten Nachmittag, als sie die unwirtlichen Schieferbrüche in den von Schafen bevölkerten Vorbergen der Ödlande erreichten, brach Jenna endlich das beklemmende Schweigen.

»Warum bringst du mich fort, Simon?«, fragte sie. »Wohin reiten wir?«

Simon antwortete nicht. Doch wenn sie nach vorn schaute, zu der drohend aufragenden Masse der Grenzberge, wusste sie bereits die Antwort auf ihre zweite Frage. Und sie war sich nicht sicher, ob sie die Antwort auf ihre erste wirklich hören wollte.

Septimus Heap 02 - Flyte
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