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17. Alther im Alleingang

 

Stuhl

Während der Boggart die Kanus auf verschlungenen Wegen durch die Marschen führte, nahm Alther die Route, auf der sein altes Boot, die Molly, immer in die Burg zurückgekehrt war.

Alther flog so, wie er am liebsten flog, nämlich tief und sehr schnell, und so kam es, dass er schon bald das Schnellboot überholte. Es bot einen traurigen Anblick. Die zehn Ruderer waren erschöpft, und das Boot kroch langsam den Fluss hinauf. Im Heck saß zusammengekrümmt und zitternd der Jäger und haderte stumm mit seinem Schicksal, während der Lehrling zum großen Verdruss des Jägers vorn im Bug herumzappelte und gelegentlich aus Langeweile, und um wieder ein Gefühl in den Zehen zu bekommen, gegen die Bootswand trat.

Alther überflog das Boot ungesehen, denn er erschien nur denen, denen er erscheinen wollte, und setzte seine Reise fort. Am Himmel zogen schwere Schneewolken auf, der Mond verschwand, und die verschneiten Flussufer versanken in Dunkelheit. Die Burg war nicht mehr fern, als die ersten dicken Schneeflocken vom Himmel schwebten, und als Alther sich der letzten Flussbiegung näherte, die um den Rabenstein herumführte, war die Luft plötzlich erfüllt von Schnee.

Alther drosselte das Tempo, denn selbst ein Geist hat in einem Schneesturm schlechte Sicht, und flog vorsichtig weiter in Richtung Burg. Bald sah er durch die weiße Schneewand die rot glühenden Trümmer, die von Sally Mullins Tee- und Bierstube übrig geblieben waren. Der Schnee zischte und britzelte, wenn er auf die verkohlte Landungsbrücke fiel. Alther verweilte einen Augenblick über den traurigen Überresten von Sallys ganzem Stolz und dachte an den Jäger, der noch auf dem kalten Fluss war. Er hoffte, dass er seine Freude an dem Schneesturm hatte.

Alther flog über die Müllkippe hinweg, an der demolierten Rattentür vorbei und steil hinauf über die Burgmauer. Er wunderte sich, wie still und friedlich es in der Burg war. Irgendwie hatte er erwartet, dass von den Geschehnissen am Abend noch etwas zu spüren sei. Es war schon nach Mitternacht, und frischer Schnee bedeckte die leeren Höfe und alten Steinhäuser. Er umkurvte den Palast und flog über der breiten, unter dem Namen Zaubererallee bekannten Straße in Richtung Zaubererturm. Er wurde hibbelig. Was erwartete ihn?

Er schwebte außen am Turm empor, und bald hatte er das kleine Bogenfenster entdeckt, das er suchte. Er schmolz sich durch das Fenster und landete direkt vor Marcias Tür, wo er schon vor wenigen Stunden gestanden hatte. Alther tat das, was Geister tun, wenn unsereiner tief Luft holt, und konzentrierte sich. Dann löste er sich vorsichtig so weit auf wie nötig, um die massiven lila Bretter und die dicken silbernen Angeln der Tür zu durchdringen. Auf der anderen Seite setzte er sich wieder fachmännisch zusammen. Perfekt. Nun war er in Marcias Gemächern.

Und dort befand sich auch der Schwarzkünstler DomDaniel.

DomDaniel schlief auf Marcias Sofa. Er lag, in seinen schwarzen Umhang gewickelt, auf dem Rücken, den kurzen, schwarzen Zylinder tief in die Augen gezogen. Sein Kopf ruhte auf den Kissen von Junge 412. Sein Mund stand weit offen, und er schnarchte laut. Kein schöner Anblick.

Alther starrte ihn an. Es war ein komisches Gefühl, seinen alten Meister ausgerechnet hier wieder zu sehen, wo sie so viele Jahre zusammen verbracht hatten. Er dachte ohne jede Wehmut an jene Jahre zurück, obwohl er damals alles gelernt hatte, was er über die magischen Künste hatte wissen wollen, und noch viel mehr. DomDaniel war ein überheblicher und unangenehmer Außergewöhnlicher Zauberer gewesen. Er hatte sich für die Burg und ihre Bewohner, die seine Hilfe brauchten, überhaupt nicht interessiert und nur für seine Gier nach uneingeschränkter Macht gelebt. Und nach ewiger Jugend. Vielmehr nach ewigem mittlerem Alter, denn er hatte eine Weile gebraucht, bis er den Dreh heraus hatte.

Alther musterte den schnarchenden DomDaniel. Auf den ersten Blick sah er noch genauso aus, wie er ihn von früher in Erinnerung hatte, doch bei genauerem Hinsehen stellte er fest, dass sich doch manches verändert hatte. Die Haut des Schwarzkünstlers hatte einen Stich ins Graue, der wohl daher rührte, dass er viele Jahre unter der Erde bei den Schatten verbracht hatte. Ein Hauch der anderen Seite haftete noch an ihm und erfüllte den Raum mit einem feuchten Modergeruch. Noch während Alther hinsah, rann DomDaniel ein dünner Faden Speichel aus dem Mund, lief über sein Kinn und troff auf seinen schwarzen Umhang.

Begleitet von DomDaniels Schnarchen sah sich Alther im Zimmer um. Es hatte sich kaum verändert, so als könnte Marcia jeden Moment durch die Tür spazieren, Platz nehmen und ihm von ihrem Tag erzählen, wie sie es immer getan hatte. Dann aber fiel sein Blick auf den großen Brandfleck an der Stelle, wo der Feuerblitz die Meuchelmörderin niedergestreckt hatte. Ein verkohltes schwarzes Loch, das die Gestalt der Toten hatte, war in Marcias geliebten Seidenteppich gebrannt.

Es war also tatsächlich geschehen, dachte Alther.

Der Geist schwebte hinüber zum Müllschlucker, dessen Klappe noch offen stand, und spähte in den kalten schwarzen Schlund. Ihn schauderte. Die Schussfahrt in die Tiefe war bestimmt kein Vergnügen gewesen. Und dann überschritt er – denn er wollte unbedingt etwas tun, so unbedeutend es auch sein mochte –, die Grenze zwischen der Welt der Geister und der Welt der Lebenden.

Er knallte die Luke zu.

Peng!

DomDaniel schreckte aus dem Schlaf hoch. Bolzengerade saß er da und sah sich um. Im ersten Moment wusste er nicht, wo er war, dann erinnerte er sich wieder und stieß einen zufriedenen Seufzer aus. Er war wieder dort, wo er hingehörte. Wieder in den Räumen des Außergewöhnlichen Zauberers. Wieder in der Spitze des Turms. Endlich. Er schaute sich um. Wo steckte eigentlich sein Lehrling? Er hätte schon vor Stunden zurück sein müssen mit der Nachricht, dass die Prinzessin und diese unausstehliche Marcia Overstrand endlich tot seien, und vielleicht auch ein paar Heaps. Je weniger von ihnen am Leben blieben, desto besser. DomDaniel fröstelte in der kalten Nachtluft und schnippte ungeduldig mit den Fingern, um das Kaminfeuer wieder in Gang zu bringen. Flammen schössen empor, und puff!, blies Alther sie wieder aus. Dann wedelte er den Rauch aus dem Kamin, sodass DomDaniel husten musste.

Er konnte den alten Schwarzkünstler nicht vertreiben, dachte Alther grimmig, aber viel Freude sollte er hier auf jeden Fall nicht haben. Dafür würde er schon sorgen.

DomDaniel lag längst im Bett, doch er konnte nicht einschlafen. Die Laken waren offenbar darauf versessen, ihn zu erwürgen. In den frühen Morgenstunden kehrte der Lehrling endlich zurück. Der Junge war durchgefroren und blass vor Müdigkeit. Sein grüner Umhang war mit einer Schneekruste überzogen, und er zitterte, als der Wachmann, der ihn zur Tür eskortiert hatte, sich eilends wieder entfernte.

DomDaniel war schlecht gelaunt, als die Tür den Lehrling hereinließ.

»Ich hoffe«, sagte er zu dem schlotternden Jungen, »du bringst interessante Neuigkeiten.«

Alther schwebte um den Jungen herum, der vor Erschöpfung kaum sprechen konnte. Er hatte Mitleid mit ihm – er konnte ja nichts dafür, dass er DomDaniels Lehrling war. Alther blies ins Kaminfeuer und fachte es wieder an. Der Junge sah die züngelnden Flammen und machte Anstalten, zum Kamin zu gehen.

»Wo willst du hin?«, donnerte DomDaniel.

»Ich ... ich friere, Sir.«

»Du gehst erst zum Kamin, wenn du mir berichtet hast, was geschehen ist. Sind sie erledigt?«

Der Junge blickte verwirrt. »Ich ... ich habe ihm gesagt, dass es nur eine Projektion gewesen ist«, stammelte er.

»Wovon redest du, Bursche? Was war eine Projektion?«

»Ihr Boot.«

»Aha, das hast du also hingekriegt. Ist ja auch ziemlich einfach. Aber sind sie erledigt? Tot? Ja oder nein?« DomDaniels Stimme schwoll zornig an. Er ahnte, was kam, doch er musste es hören.

»Nein«, antwortete der Junge leise mit verängstigter Miene. Der Schnee auf seinen Kleidern schmolz in der schwachen Wärme, die Althers Feuer spendete, und tropfte auf den Fußboden.

DomDaniel warf dem Lehrling einen vernichtenden Blick zu.

»Du bist eine einzige Enttäuschung. Ich nehme endlose Mühen auf mich, um dich von einer nichtsnutzigen Familie zu erlösen. Ich lasse dir eine Ausbildung zuteil werden, von der die meisten Jungen nur träumen können. Und was tust du? Du benimmst dich wie ein Vollidiot. Das ist mir unbegreiflich. Ein Junge wie du hätte die Aufrührer in null Komma nichts finden müssen. Und was tust du? Du kommst zurück, faselst was von Projektionen und ... und versaust mir den ganzen Fußboden!«

DomDaniel sah nicht ein, warum der Oberste Wächter weiterschlafen sollte, wenn er schon wach war. Und was den Jäger anging, so war er sehr gespannt darauf, was der Kerl zu seiner Verteidigung zu sagen hatte. Er stürmte hinaus, knallte die Tür hinter sich zu und rannte schlotternd die feststehende silberne Wendeltreppe hinunter, vorbei an den dunklen Stockwerken, die seit dem Auszug aller Gewöhnlichen Zauberer gestern Abend leer standen.

Ohne Magie war es im Zaubererturm kalt und düster. Ein eisiger Wind heulte wie durch einen riesigen Schornstein, und Türen klapperten in leeren Zimmern. Obwohl DomDaniel auf dem Weg nach unten von den endlosen Windungen der Treppe einen Drehwurm bekam, nahm er all diese Veränderungen wohlwollend zur Kenntnis. So sollte es von heute an bleiben. Der Turm als Stätte ernster schwarzer Magie. Wo keiner von diesen Gewöhnlichen Zauberern mit seinen läppischen Kunststückchen herumalberte. Und wo keine abgeschmackten Weihrauchdüfte und Dudeleien mehr die Luft erfüllten. Von den lächerlichen Farben und Lichtern gar nicht zu reden. Seine Magie war zu Höherem bestimmt. Nur die Treppe könnte er bei Gelegenheit mal reparieren.

Schließlich trat DomDaniel in die dunkle stille Halle. Die Silbertür zum Turm stand sperrangelweit offen. Schnee war hereingeweht und bedeckte den reglosen Fußboden, der jetzt aus langweiligem grauem Stein war. Er rauschte durch die Tür und überquerte den Hof.

Wie er so durch den Schnee stapfte und durch die Zaubererallee zum Palast eilte, bereute er, dass er sein Nachtgewand und seine Pantoffeln nicht ausgezogen hatte, bevor er losmarschiert war. Patschnass kam er am Palasttor an und sah so wenig Vertrauen erweckend aus, dass der Wächter ihm den Zutritt verwehrte.

DomDaniel streckte den Mann mit einem Feuerblitz zu Boden und ging hinein. Wenig später wurde der Oberste Wächter zum zweiten Mal in dieser Nacht aus dem Bett geholt.

Im Turm war der Lehrling unterdessen zum Sofa gewankt und frierend in einen unruhigen Schlaf gesunken. Alther hielt das Kaminfeuer in Gang. Während der Junge schlief, nutzte er die Gelegenheit für ein paar kleinere Veränderungen. Er lockerte den schweren Baldachin über dem Bett, sodass er nur noch an einem Faden hing. Er zog die Dochte aus allen Kerzen. Er kippte schmutzig grüne Farbe in die Wasserbehälter und siedelte eine Großfamilie gefräßiger Schaben in der Küche an. Er quartierte eine jähzornige Ratte unter den Fußbodendielen ein und lockerte bei den bequemsten Sesseln alle Zapfverbindungen. Und dann tauschte er noch DomDaniels schwarzen Zylinder, der einsam auf dem Bett lag, gegen einen anderen aus, der ein klein wenig größer war.

Als der Morgen dämmerte, verließ Alther den schlafenden Lehrling und machte sich auf in den Wald. Er folgte dem Pfad, den er vor vielen Jahren einmal mit Silas benutzt hatte, als sie Sarah und Galen besuchten.

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