Die Stimme der Vernunft 6
Der Hexer band sein Hemd auf, löste das feuchte Leinen vom Hals. In der Höhle war es sehr warm, sogar heiß; in der Luft hing ein schwerer, feuchter Dampf, der auf den moosbewachsenen Felsbrocken und an den Basaltwänden Tropfen bildete.
Überall ringsum gab es Pflanzen. Sie wuchsen aus in den Felsboden gehauenen torfgefüllten Vertiefungen, aus großen Kisten, Trögen und Bottichen. Sie rankten sich die Wände entlang, über hölzerne Gerüste und Bohnenstangen. Geralt blickte sich neugierig um, er erkannte einige seltene Arten – jene, die Bestandteile der Hexertränke und -elixiere, von magischen Filtern und Zauberdekokten waren. Und andere, noch seltenere, deren Eigenschaften er nur vermuten konnte. Und solche, die er überhaupt nicht kannte und von denen er nie auch nur gehört hatte. Er sah Flecken von sternblättriger Nostrix, die die Höhlenwände überzogen, die aus riesigen Bottichen hervorquellenden dichtgedrängten Kugeln von Blaskopf, mit blutroten Beeren übersäte Arenarientriebe. Er erkannte die fleischigen, grobgeäderten Blätter von Zielschnell, die bordeauxgoldenen Ovale von Nimmermerk und die dunklen Nadeln von Sägstichel. Er bemerkte den an Steinbrocken geschmiegten flaumigen Pelz von Blutstill, die wogenden Knollen von Rabenauge und die getigerten Läppchen der Mäuseschwanz-Orchidee.
Im schattigen Teil der Grotte wölbten sich die Pilzkappen des Nadelblättlings, unansehnliche Staubfäden verrieten den Wundfuß, eine Wurzel mit starken und universellen Heilkräften.
Die Mitte der Höhle nahmen Wasserpflanzen ein. Geralt sah Bottiche voller Hornblatt und Schildkrötengrütze und Bassins, die mit einer dichten Decke von Wasserlasche überzogen waren, der Nahrung für die schmarotzende Gelbwurz. Glasbehälter voller gewundener Stengel des halluzinogenen Zwiespitz, schlanker dunkelgrüner Kryptokorynen und Büscheln von Fädlingen. Sumpfige, verschlammte Tröge, die Brutstätten von zahllosen Algenpilzen, Wassermoosen, Schimmel und Moorflechten.
Nenneke hatte die Ärmel ihres Priesterinnengewandes hochgekrempelt, sie nahm aus dem Körbchen eine Schere und einen Knochenrechen und machte sich wortlos an die Arbeit. Geralt setzte sich auf eine Bank zwischen den Lichtsäulen, die durch große Kristallplatten im Gewölbe der Höhle hereinfielen.
Die Priesterin murmelte vor sich hin, während sie die Hände geschickt in das Gewirr von Blättern und Stengeln versenkte, rasch mit der Schere klapperte und das Körbchen mit Grünzeug füllte. Sie rückte die Stangen und Rahmen zurecht, die die Pflanzen stützten, und stocherte von Zeit zu Zeit mit dem Stiel des Rechens in der Erde. Manchmal riss sie zornig brummend vertrocknete oder durchgefaulte Triebe heraus, warf sie auf den Humusbehälter, damit sie den Pilzen und anderen, schuppigen und schlangenförmig gewundenen Pflanzen zur Nahrung dienen konnten, die der Hexer nicht kannte. Er war sich nicht einmal sicher, ob es überhaupt Pflanzen waren – es schien ihm, als ob sich die schimmernden Büschel sacht bewegten und der Priesterin behaarte Fortsätze entgegenstreckten.
Es war warm. Sehr warm.
»Geralt?«
»Ja.« Er schüttelte die Schläfrigkeit ab, die ihn überkam. Nenneke, die sich mit der Schere zu schaffen machte, betrachtete ihn zwischen den großen gefiederten Blättern eines Fliegenbluts hindurch.
»Reis noch nicht ab. Bleib. Noch ein paar Tage.«
»Nein, Nenneke. Für mich ist es Zeit aufzubrechen.«
»Was treibt dich so? Um Hereward brauchst du dich nicht zu kümmern. Und dieser Herumtreiber Rittersporn soll allein losreiten und sich den Hals brechen. Bleib, Geralt.«
»Nein, Nenneke.«
Die Priesterin ließ die Schere zuklappen. »Hast du es so eilig, das Heiligtum zu verlassen, weil du fürchtest, dass sie dich hier findet?«
»Ja«, gestand er nicht ohne Überwindung. »Du hast es erraten.«
»Das war alles andere als schwer«, murmelte sie. »Aber beruhige dich. Yennefer war schon hier. Vor zwei Monaten. Sie kommt so bald nicht wieder, denn wir haben uns gestritten. Nein, nicht deinetwegen, nach dir hat sie nicht einmal gefragt.«
»Sie hat nicht gefragt?«
»Da drückt dich der Schuh.« Die Priesterin lächelte. »Du bist egozentrisch wie alle Männer. Es gibt nichts Schlimmeres als Desinteresse, nicht wahr? Aber nein, nimm’s dir nicht zu Herzen. Ich kenne Yennefer zu gut. Sie hat keine Fragen gestellt, sich aber gründlich umgesehen, deine Spuren hier gesucht. Und sie ist mächtig wütend auf dich, das habe ich gespürt.«
»Weswegen habt ihr euch gestritten?«
»Nichts, was dich angehen könnte.«
»Ich weiß es sowieso.«
»Das glaube ich nicht«, sagte Nenneke gelassen und rückte Bohnenstangen zurecht. »Was du über sie weißt, ist sehr oberflächlich. Ihr Wissen über dich übrigens auch. Das passt zu der Beziehung, die euch verband und verbindet. Bei allen beiden reicht es zu nichts außer einer sehr gefühlsmäßigen Einschätzung der Folgen bei gleichzeitiger Missachtung der Ursachen.«
»Sie war hier, um zu versuchen, sich heilen zu lassen«, stellte er kühl fest. »Darüber habt ihr euch gestritten, gib’s zu.«
»Nichts gebe ich zu.«
Der Hexer erhob sich, stand im vollen Licht unter einer der Kristalltafeln im Gewölbe der Grotte.
»Komm doch bitte mal her, Nenneke. Wirf einen Blick darauf.«
Er öffnete eine Geheimtasche im Gürtel, holte eine kleine Börse hervor, ein winziges Säckchen aus Ziegenleder, und schüttete den Inhalt auf die Handfläche.
»Zwei Diamanten, ein Rubin, drei hübsche Nephrite, ein reizvoller Achat.« Nenneke kannte sich überall aus. »Wie viel haben sie gekostet?«
»Zweieinhalbtausend temerische Orons. Den Lohn für die Striege von Wyzima.«
»Für einen aufgerissenen Hals.« Die Priesterin runzelte die Stirn. »Nun ja, eine Frage des Preises. Aber es war gut, dass du den Lohn in diesen Glitzerdingern angelegt hast. Der Oron ist schwach, und Steine sind in Wyzima nicht teuer, es liegt zu nahe an den Zwergenminen von Mahakam. Wenn du die Steine in Nowigrad verkaufst, bekommst du mindestens fünfhundert Nowigrader Kronen, und die Krone steht momentan bei sechseinhalb Orons und steigt noch.«
»Ich möchte, dass du sie nimmst.«
»Zur Aufbewahrung?«
»Nein. Die Nephrite behalte fürs Heiligtum, sagen wir, als meine Opfergabe für die Göttin Melitele. Und die übrigen Steine ... sind für sie. Für Yennefer. Gib sie ihr, wenn sie dich wieder besucht, was sicherlich bald sein wird.«
Nenneke blickte ihm offen in die Augen. »An deiner Stelle würde ich das nicht tun. Glaub mir, du bringst sie nur noch mehr in Wut, viel mehr. Lass alles, wie es ist, denn du kannst nichts mehr rückgängig machen oder verbessern. Als du vor ihr weggelaufen bist, hast du dich ... na, sagen wir, auf eine Weise verhalten, die einem reifen Mann nicht besonders gut zu Gesicht steht. Wenn du versuchst, deine Schuld mit Edelsteinen wettzumachen, verhältst du dich wie ein sehr, sehr überreifer Mann. Ich kann nicht einmal sagen, welche Sorte Mann mir mehr zuwider ist.«
»Sie war zu besitzergreifend«, murmelte er mit abgewandtem Gesicht. »Das konnte ich nicht ertragen. Sie hat mich behandelt wie . . .«
»Hör auf«, sagte sie scharf. »Heul dich nicht bei mir aus. Ich bin nicht deine Mutter, wie oft soll ich es dir noch sagen? Deine Beichtigerin gedenke ich auch nicht zu sein. Es geht mich einen Scheißdreck an, wie sie dich behandelt hat, und wie du sie behandelt hast, erst recht. Und ich denke überhaupt nicht daran, zu vermitteln oder ihr diese dämlichen Steinchen zu übergeben. Wenn du dich zum Narren machen willst, dann tu es ohne meine Hilfe.«
»Du hast mich nicht verstanden. Ich habe nicht vor, sie günstig zu stimmen oder zu bestechen. Aber ich bin ihr etwas schuldig, und die Behandlung, der sie sich unterziehen will, ist vermutlich sehr teuer. Ich will ihr helfen, weiter nichts.«
»Du bist noch dümmer, als ich dachte.« Nenneke nahm den Korb vom Boden auf. »Eine teure Behandlung? Helfen? Geralt, für sie sind diese deine Steinchen eine Lappalie, nicht die Spucke wert. Weißt du, wie viel Yennefer bei einer großen Dame dafür kassieren kann, dass sie eine Schwangerschaft verschwinden lässt?«
»Das weiß ich genau. Und auch, dass die Heilung von der Unfruchtbarkeit noch mehr kostet. Schade, dass sie sich in dieser Beziehung nicht selber helfen kann. Darum sucht sie bei anderen Hilfe, unter anderem bei dir.«
»Niemand kann ihr helfen, es ist ganz unmöglich. Sie ist eine Zauberin. Wie die meisten Magierinnen hat sie verkümmerte, völlig unfruchtbare Eierstöcke, und das ist unabänderlich. Sie wird nie ein Kind bekommen können.«
»Nicht alle Zauberinnen sind in dieser Hinsicht benachteiligt. Ich weiß etwas davon, und du weißt es auch.«
»Nun ja.« Nenneke kniff die Augen zusammen. »Ich weiß.«
»Es kann keine Regel sein, wenn es Ausnahmen gibt. Tisch mir bitte nicht das übliche Geschwafel von den Ausnahmen auf, die die Regel bestätigen. Sag mir etwas über die Ausnahmen als solche.«
»Über die Ausnahmen«, erwiderte sie kühl, »kann man nur eins sagen: dass es sie gibt. Weiter nichts. Aber Yennefer ... Je nun, sie ist leider keine Ausnahme. Zumindest nicht, was die Einschränkung angeht, von der wir reden. Denn in anderer Hinsicht findet man schwerlich eine größere Ausnahme als sie.«
»Zauberer« – Geralt ließ sich weder von der Kälte noch von der Anspielung irritieren – »haben schon Tote erweckt. Ich kenne verbürgte Fälle. Und Tote zu erwecken ist schwieriger, als die Atrophie von Organen aufzuheben, wie mir scheint.«
»Dann scheint es dir falsch. Denn ich kenne keinen einzigen verbürgten Fall, in dem es vollends gelungen wäre, eine Atrophie der Drüsen mit innerer Sekretion aufzuheben oder sie zu regenerieren. Geralt, es reicht, das sieht schon nach einer Ärzteberatung aus. Du kennst dich da nicht aus, aber ich. Und wenn ich dir sage, dass Yennefer für gewisse Fähigkeiten mit dem Verlust anderer bezahlt hat, dann ist es so.«
»Wenn es wirklich so offensichtlich ist, dann begreife ich nicht, warum sie sich weiter so bemüht . . .«
»Du begreifst sehr vieles nicht«, fiel ihm die Priesterin ins Wort. »Verdammt vieles. Hör auf, dich um Yennefers Beschwerden zu kümmern, denk an die eigenen. Dein Organismus ist auch Veränderungen unterworfen worden, die sich nicht rückgängig machen lassen. Du wunderst dich, aber was sagst du zu dir selbst? Für dich muss auch offensichtlich sein, dass du niemals ein Mensch sein wirst, und doch versuchst du andauernd, einer zu sein. Indem du menschliche Fehler machst. Fehler, die ein Hexer nicht machen darf.«
Er stand da, gegen die Höhlenwand gelehnt, und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
»Du antwortest nicht«, stellte Nenneke mit leichtem Lächeln fest. »Das wundert mich nicht. Es ist nicht leicht, mit der Stimme der Vernunft zu streiten. Du bist krank, Geralt. Du bist nicht voll leistungsfähig. Du reagierst schlecht auf Elixiere. Du hast einen beschleunigten Puls, verlangsamte Akkommodation der Augen, verzögerte Reaktionen. Dir gelingen nicht einmal die einfachsten Zeichen. Und du willst auf Fahrt gehen? Du musst dich kurieren. Du brauchst eine Heilbehandlung. Und vorher eine Trance.«
»Hast du deswegen Iola zu mir geschickt? Im Rahmen der Heilbehandlung? Um die Trance zu erleichtern?«
»Du bist dumm!«
»So sehr nun auch wieder nicht.«
Nenneke wandte sich ab und steckte die Hände zwischen die fleischigen Stiele einiger Schlingpflanzen, die dem Hexer unbekannt waren. »Na gut«, sagte sie gelassen. »Ja, ich habe sie zu dir geschickt. Im Rahmen der Heilbehandlung. Und ich sage dir, es hat genützt. Du hast am Morgen darauf viel besser reagiert. Du warst ausgeglichener. Außerdem brauchte Iola auch eine Behandlung. Sei nicht böse.«
»Ich bin weder wegen der Behandlung böse, noch auf Iola.«
»Aber auf die Stimme der Vernunft, die du hörst?«
Er gab keine Antwort.
»Eine Trance muss sein«, wiederholte Nenneke und ließ den Blick über ihren Höhlengarten schweifen. »Iola ist bereit. Sie hat körperlich und geistig Kontakt zu dir aufgenommen. Wenn du abreisen willst, dann machen wir es heute Nacht.«
»Nein. Ich will nicht. Versteh doch, Nenneke, in der Trance kann Iola Gesichte haben. Prophezeiungen machen, die Zukunft voraussagen.«
»Darum geht es ja.«
»Eben. Ich will die Zukunft aber nicht wissen. Wie könnte ich tun, was ich tue, wenn ich die Zukunft kennen würde? Übrigens kenne ich sie sowieso.«
»Bist du sicher?«
Er antwortete nicht.
»Na gut.« Sie seufzte. »Gehn wir. Ach ja, Geralt? Ich will nicht neugierig sein, aber sag mir ... Sag, wie habt ihr euch kennengelernt? Du und Yennefer? Wie hat es angefangen?«
Der Hexer lächelte. »Es hat damit angefangen, dass Rittersporn und ich nichts zum Abendessen hatten und beschlossen, Fische zu fangen.«
»Soll das heißen, du hast statt eines Fisches Yennefer gefangen?«
»Ich erzähl dir, wie es war. Aber vielleicht nach dem Abendbrot, ich bin nämlich ein bisschen hungrig.«
»Also gehen wir. Ich hab schon alles, was ich brauche.«
Der Hexer ging zum Ausgang, ließ den Blick noch einmal durch das Höhlentreibhaus schweifen. »Nenneke?«
»Hm?«
»Die Hälfte von dem, was du hier hast, sind Pflanzen, die sonst nirgends mehr auf der Welt wachsen. Ich irre mich doch nicht?«
»Du irrst dich nicht. Über die Hälfte.«
»Wie erklärst du das?«
»Wenn ich sage, es ist die Huld der Göttin Melitele, wird dir das sicherlich nicht genügen?«
»Sicherlich nicht.«
»Das dachte ich mir.« Nenneke lächelte. »Siehst du, Geralt, unsere liebe Sonne scheint immer noch. Aber nicht mehr so wie früher. Wenn du willst, kannst du in den Büchern davon lesen. Wenn du aber darauf keine Zeit verwenden willst, dann genügt dir vielleicht die Erklärung, dass der Kristall, aus dem das Dach gemacht ist, als Filter wirkt. Er schaltet die tödliche Strahlung aus, von der es im Sonnenlicht immer mehr gibt. Darum wachsen hier Pflanzen, die du nirgends auf der Welt in der Natur finden wirst.«
»Ich verstehe.« Der Hexer nickte. »Und wir, Nenneke? Was ist mit uns? Auf uns scheint die Sonne auch. Sollten wir uns nicht unter solch einem Dach in Sicherheit bringen?«
»Eigentlich sollten wir das«, seufzte die Priesterin. »Aber . . .«
»Aber was?«
»Es ist schon zu spät.«