Am letzten Apriltag wurde Paul schon früh wach. Das Licht war wie ein grauer Schleier, der allem anhaftete, was er vom Bett aus sehen konnte. Allmählich schob sich eine helle Zitronenspalte unter den Schleier.
Es war Jacobs Geburtstag. Die Colemans gaben eine Party für ihn, mit Grandpa als einzigem Gast. Er würde mit dem Morgenzug kommen und Lindy mitbringen.
Soweit sich Paul zurückerinnern konnte, war er zu jedem Geburtstag von Paul gekommen, bis auf das eine Mal, als der Ausläufer des Hurrikans sie streifte. Manchmal – zum Beispiel damals, als sie gerade nach Brasston gezogen waren – war er der einzige Gast gewesen.
Paul würde in den Wald gehen – in den Wald, den er als seinen Wald betrachtete. Er würde sich ein Brot schmieren und etwas zu trinken mitnehmen.
Er würde schon früh losziehen, um den Vorbereitungen für Jacobs Geburtstag zu entgehen: Torte backen, Knallbonbons neben jedes Platzdeckchen auf den Tisch legen, Luftballons aufblasen, Geschenke einpacken.
Was konnte man Jacob schon zum Geburtstag schenken?
Für ihn würde das kaum eine Bedeutung haben, diese Feier zum Tag seiner Geburt. Abgesehen von der ganzen Aufregung um dieses Ereignis würde Jacob kein Gespür dafür haben, dass er ein weiteres Jahr gelebt hatte. Ihm würde das nicht das Gefühl geben, etwas vollbracht zu haben.
Er lebte in der Gegenwart; er hatte keine ureigenen Gedanken und Gefühle, die sein Privatleben ausmachten; er kannte keine Geheimnisse.
Es wurde Zeit, dass Paul aufstand. Er würde in die Küche gehen, eine Schale Cornflakes essen, sich ein Brot machen und zur Hintertür hinausgehen, in der lässigen Haltung eines freien Menschen.
Mom und Daddy würden alle Hände voll zu tun haben. Wenn er einem von ihnen in der Küche über den Weg lief, würde er nicht sagen, wohin er ging – in seinen ganz privaten Wald, wo er den Tag verbringen würde.
In dem geschäftigen Treiben der Geburtstagsvorbereitungen würde es gar nicht auffallen, dass er ging. Er dachte an seinen fünften Geburtstag zurück, ein paar Monate nachdem Jacob aus dem Krankenhaus nach Hause gekommen war. An jenem ersten Tag, als Mom das neue Baby ins Wohnzimmer ihres Apartments gebracht hatte, war Paul von Grandpa über Jacobs »Besonderheit« informiert worden. Einige Tage später hatten Mom und Daddy mit ihm darüber gesprochen, aber er hatte kaum hingehört. Damals hatte ihm das nicht viel gesagt; es war nur ein schwacher Abklatsch von dem, was es im weiteren Verlauf für ihn bedeutet hatte.
Jetzt schlich er auf Zehenspitzen die Treppen hinunter, wollte es unbedingt vermeiden, jemandem zu begegnen. Aber er fand seine Mutter in der Küche vor. Sie betrachtete die Kaffeemaschine, die schnaufend auf der Arbeitsplatte brodelte.
»Alles Gute zum Geburtstag«, murmelte sie, ohne Paul dabei anzusehen. Sie drehte sich um und lächelte – ein Lächeln für Jacob, wie Paul erkannte. Er hatte das Jacob-Lächeln auf ihrem Gesicht bemerkt, bevor sie es durch den »Ach, du bist’s«-Blick ersetzt hatte.
Aber dann machte sie ein betroffenes Gesicht, so als wäre ihr plötzlich bewusst geworden, dass es sich nicht um jemand x-Beliebigen handelte, sondern um Paul. Er nahm an, dass sie deshalb die Hand vor den Mund schlug; dass sie deshalb nach ihrem Jacob-Lächeln zusammengezuckt war.
Sie wandte sich wieder zur Arbeitsplatte um, zur Kaffeemaschine, die mit dem Aufbrühen jetzt fertig war. Seine Mutter verschränkte die Arme vor der Brust; sie schien angespannt zu lauschen.
Das erinnerte ihn daran, wie sie aussah, wenn sie sich ans Klavier setzte – so als spitzte sie nach etwas die Ohren. Das dauerte nur einen kurzen Augenblick, aber erst wenn sie diesen geheimnisvollen Ruf vernahm oder einen Ton – aus dem All oder woher auch immer –, wenn sie diesen Rhythmus spürte, dieses Tempo, erst dann konnte sie spielen. Es rührte ihn, sie in diesem Licht zu sehen, mit einem eigenen Ich, das etwas vorhatte.
Er dachte daran, was er an diesem Tag machen wollte, und ihm wurde unbehaglich zumute.
Ihm wurde klar, dass er Jacobs Geburtstag einfach abgehakt hatte, indem er sich sagte, dass es keine Rolle spielte, ob er da war oder nicht.
Aber er hatte sich auch gesagt, dass er gar nicht erst Bescheid geben musste, wohin er ging.
Verstohlen sah er zu seiner Mutter hinüber. Dann nahm er sich aus der Schüssel auf dem Küchentisch eine Banane und zog die Schublade mit dem Krimskrams auf, wo unter anderem alte Plastikdosen aufbewahrt wurden. Er holte eine heraus, wobei er Mom die ganze Zeit über im Blick behielt. Aber sie drehte sich nicht um.
Es gelang ihm, Erdnusscreme auf ein Brot zu schmieren, die Scheiben zusammenzuklappen und aus dem Kühlschrank eine Flasche Orangenlimonade zu holen. Erst dann schreckte seine Mutter ihn mit einer Frage auf.
»Wo willst du hin?«, erkundigte sie sich. »Soll ich dir etwas zum Frühstück herrichten?«
»Ich treff mich mit George«, gab er schnell zurück.
»Das ist schön«, sagte sie. »Du kannst den Vormittag mit ihm verbringen. Jacobs Party fängt um eins an. Bis dahin hast du noch viel Zeit.« Dann seufzte sie.
Paul goss sich ein Glas Milch ein. Er hatte auf ihre Bemerkung, dass er bis zum Beginn der Party noch viel Zeit hatte, nicht reagiert. Er hatte weder zugesagt noch widersprochen, dass er bis dahin wieder zurück sein würde.
Sie schenkte sich eine Tasse Kaffee ein und trank ihn wie immer schwarz. Das schien sie munter zu machen.
In flottem Tempo rauschte sie durch die Küche, stellte für Jacob ein Glas Orangensaft auf den Tisch, eine Schale für seine Cornflakes, eine Kaffeetasse für Daddy.
Paul trank seine Milch aus. Der Zeitpunkt für seinen Aufbruch rückte näher, und er wurde plötzlich nervös, so als könnte noch etwas dazwischenkommen.
»George wartet vor der Bücherei auf mich«, sagte er ohne ersichtlichen Grund. »Ich muss jetzt los.«
»Hast du auch genug gefrühstückt?«, fragte seine Mutter mit einem besorgten Stirnrunzeln.
Er nickte, ohne sich sicher zu sein, dass sie ihn ansah und das Nicken auch mitbekam.
Dann ging er durch die Hintertür und trat in den Garten hinaus. Das Grau, das er beim Aufwachen gesehen hatte, war von einem frisch duftenden Wind hinweggefegt worden. Die Sonne warf butterfarbene Streifen über den Boden. Auf dem Rasen, den Daddy letzten Sommer vernachlässigt hatte, weil in der Tierklinik so viel zu tun gewesen war, wippte das verfilzte Gras elastisch unter seinen Füßen.
Paul holte sein Fahrrad aus der Garage und schob es über die Auffahrt zur Straße.
Er war frei!
Wie ein Botenjunge sauste er auf dem Rad durch die Straßen von Brasston, auch wenn er selbst nicht wusste, welche Botschaften man ihm anvertraut hatte. Wohl eine von Freiheit, dachte er, und davon, Jacob entkommen zu sein.
Als er an dem alten Haus angekommen war, in dem die Tierklinik die Verwaltungsräume und Sprechzimmer untergebracht hatte, schlug er einen Bogen um den Parkplatz unter der Kastanie. Womöglich war Dr. Gold da, weil er einen Notfall behandeln musste.
Langsam fuhr er über die Wiese, legte zwischendurch eine Pause ein, um Erdklumpen von den Speichen zu lösen, verlängerte die Vorfreude auf den Wald, als würde der ersehnte Augenblick, wenn er in den Wald hineinkam, dadurch nur umso schöner. Als er noch ein paar Meter entfernt war, stieg er vom Rad und fing an zu rennen. Dabei hielt er den Lenker fest und schrie seine Freude und Erlösung laut hinaus.