Am Abend jenes Tages im April, als Pauls Vater ihm auf dem Weg vom Haus zur Straße nachgelaufen war, ihn an den Schultern gepackt und ihn zu Jacob am Wohnzimmerfenster umgedreht hatte, hörte Paul durch die geschlossene Tür seines Zimmers Gitarrenklänge.
Sein Vater spielte und begann mit seiner hohen Tenorstimme zu singen:
»Der Fuchs in kalter Nacht, auf Beute erpicht,
bittet den Mond um ein wenig Licht …«
Jacob würde jetzt im Bett liegen und den Mund aufsperren, als hörte er das Lied zum ersten Mal und hätte es nicht schon Millionen Mal gehört.
Als Paul klein war, hatte Daddy ihm dieses Lied vorgespielt und vorgesungen, in seinem alten Zimmer im New Yorker Apartment, lange vor Jacobs Geburt. Aber bei dieser Erinnerung begann Paul an Jacob zu denken. Das musste aufhören.
Er machte sich wieder an seine Seite mit Matheaufgaben. Schon bald hatte er Daddys Spielen und Singen ausgeklinkt. Im ersten Augenblick bekam er gar nicht mit, dass an seine Tür geklopft wurde; das hörte er erst, als es lauter wurde.
Er stand auf, ging zur Tür und schloss auf. Sein Vater kam ins Zimmer, räumte einen Bücherstapel und ein paar hingeworfene Kleidungsstücke von einem Stuhl und setzte sich.
»Was machst du gerade?«, fragte sein Vater und lächelte ihm zu.
»Mathe. Hausaufgaben«, antwortete Paul.
»Irgendwelche Probleme damit?«, fragte sein Vater.
»Nein«, sagte Paul. Er sprach lauter, als er es eigentlich beabsichtigt hatte.
»Das habe ich auch nicht angenommen«, bemerkte Daddy. Dann, nach einigem Schweigen, sagte er: »Im September wirst du zwölf.«
»Ja.«
»Ich dachte, dass du uns vielleicht noch auf eine andere Weise helfen könntest als damit, dass du so ein guter Schüler bist und wunderbare Aufsätze schreibst«, sagte Daddy.
Paul sah ihn misstrauisch an.
»Nach seinem Geburtstag am Ende des Monats wird Jacob auf eine besondere Schule gehen.« Daddy sprach so steif, als würde er einen Text vorlesen. »In der Schule gibt es noch mehr solche Kinder wie ihn. Er wird dort eine Menge lernen. Auf diese Weise bereitet man ihn aufs Leben vor«, fuhr er fort.
Dann sprach er so voller Gefühl, wie Paul es sonst nicht an ihm kannte. »Das hat deiner Mutter und mir solche Angst gemacht … dass er vielleicht kein eigenes Leben führen kann, wenn er erwachsen ist.« Dr. Coleman starrte zu dem viereckigen Stück Dunkelheit im Fenster hin. Als er den Kopf wandte und Paul ansah, waren seine Augen wie bei einer großen Anstrengung weit aufgerissen.
»Die Leute dort in der Schule haben uns gesagt, dass Menschen wie Jacob einen Beruf lernen können. Er wird in der Lage sein, sich selbst zu ernähren. Er wird richtiges Geld verdienen«, sagte er.
»Wann fängt er dort an?«, fragte Paul.
»Sein siebter Geburtstag ist am Sonntag in zwei Wochen«, sagte Daddy.
»Ich weiß«, sagte Paul. »Wird er den ganzen Tag dort bleiben?«
Das Lachen seines Vaters ließ ihn verdutzt zusammenfahren. »Er ist eine wahre Landplage, was?«
Paul konnte sich nicht daran erinnern, dass Daddy je zuvor so ganz normal und alltäglich von Jacob gesprochen hatte.
Aber wenn er jetzt seinem ersten Impuls folgte und Daddy zustimmte, würde das bedeuten, dass er sich mit allem einverstanden erklärte, was seine Eltern im Lauf der Jahre über Jacob gesagt hatten – dass Jacob nur wenig zusätzliche Mühe machte, dass sie eine ganz normale Familie wären.
Paul dachte an den Anfang des Gesprächs zurück. »Was soll ich machen?«, fragte er mit Groll in der Stimme.
»Wir möchten dich bitten, ihn morgen früh zu Dr. Brill zu bringen, damit er die Spritzen gegen seine Allergie bekommt. Und dasselbe dann noch mal am nächsten Samstag. Jacob liebt den Weg dorthin. Du wirst sehr viel Zeit dafür einplanen müssen. Er trödelt nämlich. Wenn du mit ihm hingehst, hat deine Mutter Zeit und kann Mrs Brandy ihre Klavierstunden geben. Sie musste ihre normalen Stunden absagen, weil ihre Enkelkinder zu Besuch –«
Paul fiel ihm ins Wort. »Nein!«, rief er.
Der Gesichtsausdruck seines Vaters veränderte sich, wurde härter. Bis jetzt hatte in seinen Worten ein entschuldigender Tonfall mitgeschwungen.
Mit der groben Stimme, die Paul das Gefühl gab, niemandes Kind zu sein, sagte er: »Du wirst hier nicht gefragt.«
»Aber alle werden mich anstarren!«, rief Paul aus.
»Na und?«, sagte Daddy trocken.
»Die anderen Kinder werden mich mit ihm sehen«, murmelte Paul.
»Alle wissen über Jacob Bescheid«, sagte sein Vater. Paul spürte, wie ihm ein Schauer durch den ganzen Körper lief. Er stellte sich vor, dass alle Kinder von Brasston über Jacob Bescheid wussten, malte sich aus, was George dazu sagen würde, George, der über die Lehrer, die anderen in der Klasse und fremde Leute auf dem Bürgersteig die allerschlimmsten, allerkomischsten Sachen sagte, bei denen sich Paul vor Lachen krümmte.
Sein Vater hob einen von Pauls Turnschuhen vom Boden auf und drehte ihn langsam hin und her.
»Das ist aber etwas anderes – man wird uns zusammen sehen«, sagte Paul nach einer kurzen Pause.
»Meinst du denn, dass andere Leute keine Pro-bleme haben?«, fragte sein Vater plötzlich.
Paul gab keine Antwort.
»Wir brauchen deine Hilfe. Du kannst nicht ewig so weitermachen, als ob du keinen Bruder hättest«, sagte sein Vater. Er ließ den Turnschuh zu Boden fallen.
George hatte einen kleinen Bruder, Matthew. Paul dachte an alle jüngeren Geschwister, die er kannte. Jacob war der Einzige unter ihnen, der so unfertig war.
»Sein Termin ist um zehn Uhr. Du wirst fünfundvierzig Minuten brauchen, vielleicht eine Stunde. Er spult immer ein ganzes Programm ab«, sagte Daddy.
Paul hatte nichts davon gewusst, dass Mom mit Jacob samstagvormittags zu Dr. Brill ging, damit er Spritzen gegen seine Allergie bekam. »Daddy«, fing Paul ohne große Hoffnung an, »kannst du ihn nicht hinbringen? Ich möchte das wirklich nicht machen.«
Das Gesicht seines Vaters wurde wieder weich. »Ich weiß, dass du keine Lust dazu hast«, sagte er. »Aber ich muss in der Klinik arbeiten. Einen Bruder wie Jacob zu haben hat seine guten Seiten, auch wenn du das erst in ein paar Jahren verstehen wirst … wenn du erwachsen bist. Man denkt nicht an Probleme, bis sie einen treffen. Du wirst besser darauf vorbereitet sein. Probleme gibt es immer – auf die eine oder andere Weise.« Er legte eine Pause ein, bevor er weitersprach. »Wir waren nicht darauf vorbereitet«, sagte er so vorsichtig, als müsste er die Worte sorgfältig abwägen. »Jacob stellt deine Mutter und mich auf die Probe. Manchmal fallen wir bei der Prüfung durch. Am nächsten Tag kriegen wir vielleicht eine Zwei.«
Paul verstand davon nur, dass es endlos Ärger geben würde, wenn er nicht nachgab. Seine Eltern würden sich alles Mögliche einfallen lassen, was sie ihm wegnehmen konnten, sogar Dinge, von denen er gar nicht wusste, dass er sie hatte. Er würde Hausarrest kriegen; er würde nicht mehr telefonieren dürfen; er würde kein Abendessen mehr bekommen! Aber Letzteres war selbst für Paul zu übertrieben.
Wenn er mit Jacob zu Dr. Brill ging, bedeutete das vor allem, dass er sich nicht darin üben konnte, nicht an ihn zu denken. Jacob würde ihn den ganzen Tag lang verfolgen. Paul wurde ins Familienleben hineingezogen. Das war ein Gefühl wie im Schulbus, wenn er voller Kinder war – warm, eng, feucht.
Die Samstage waren aus der Woche herausgehoben worden, wurden ihm weggenommen.
Als sein Vater aufstand und aus dem Zimmer ging, sagte Paul Auf Wiedersehen anstatt Gute Nacht. Später dachte er darüber nach, und als er sich ins Gedächtnis zurückrief, wie verdutzt sein Vater einen Augenblick lang gewesen war, erkannte er, dass er sich nicht versprochen hatte. Er hatte sich von seinem alten Leben verabschiedet … von dem alten Leben, in dem er nicht an Jacob dachte.
Schon bald wurde es still im Haus. Es legte sich zur Ruhe wie ein Tier, das sich zusammenkuschelt. Jacob schlief in seinem Zimmer. Mom und Daddy saßen jetzt vielleicht am Küchentisch, unterhielten sich womöglich über Paul und sprachen mit leiser Stimme, damit er sie nicht hören konnte.
Paul ging auf den Flur hinaus, zu der kleinen Abstellkammer, in der die Koffer aufbewahrt wurden. Auch die Winterkleidung hing schon hier, in Beutel verpackt, die nach Mottenkugeln rochen. Es standen Kisten mit Büchern da, für die sich kein Platz gefunden hatte, ein Sammelsurium aus Porzellan- und Glasgegenständen. Von der Decke baumelte eine kahle Glühbirne herab und Paul knipste sie an.
An der Wand lehnte ein Bild, an das er sich noch aus dem Apartment in New York erinnerte. Darauf war ein Haus mit einer breiten, weißen Veranda zu sehen. Das Haus warf seinen Schatten über eine Rasenfläche, die zu einer strahlend blauen Bucht führte. In ihr lagen kleine Inseln wie lauter Rauchwölkchen.
Früher hatte Paul oft gespielt, dass er mit Mom und Daddy dort auf dem Rasen ein Picknick machte. Es war Juli und die Sonne schien. Später würden sie in der Bucht schwimmen. Die lange Dämmerung des Sommers würde sich wie eine leichte Decke über sie breiten, um sie im kühlen Abendwind warm zu halten.
In einer Kiste entdeckte er ein dickes Fotoalbum und er setzte sich damit auf den staubigen Fußboden.
Er begann darin zu blättern. Es waren Aufnahmen von seinen Eltern, die vor vielen hundert Jahren gemacht worden waren, als sie noch ganz jung aussahen, wie Jugendliche.
Dann kam er zur Welt. Die Seiten barsten von Fotos. Manche waren bunt, wie billige Bonbons, aber die offizielleren Aufnahmen waren schwarz-weiß. Seine Geschichte war hier festgehalten, bis er fünf wurde. Es gab ein paar Schnappschüsse von der Feier zu seinem fünften Geburtstag, von der Torte, den Kindern von befreundeten Nachbarn in dem Wohnhaus, in dem er in der Stadt gelebt hatte, von dem Berg der ausgepackten Geschenke. Dann waren die Seiten leer.
Paul blätterte sie verärgert um, ohne so recht zu wissen, wonach er eigentlich suchte.
Dann kam eine Seite mit einem einzelnen vergrößerten Farbfoto.
Es zeigte seine Mutter, die aus einem großen Gebäude heraustrat – das Krankenhaus, wie er vermutete. Sie hielt das neue Baby im Arm, Jacob, der in eine blaue Decke gewickelt war. Er schlief.
Seine Mutter versuchte zu lächeln, aber ihre Augen machten auf Paul einen traurigen, verwirrten Eindruck.
Er blätterte zurück, bis er ein Bild von sich in der Astgabel eines Baums fand. Das musste im Central Park aufgenommen worden sein, etwa zu der Zeit, als er fünf wurde. Damals war Jacob schon zur Welt gekommen. Offenbar hatte Daddy der Wohnung und dem Baby entkommen wollen und war deshalb ganz schnell aufgebrochen, um mit Paul in den Park zu gehen.
Paul hatte gelacht, als er zwischen den Zweigen hindurch zu Daddy lugte. Die Informationen, die Grandpa ihm über Jacob gegeben hatte, waren wohl noch nicht zu ihm durchgedrungen.
Dass seine Eltern aufgehört hatten zu fotografieren, sah Paul als Zeichen ihrer Enttäuschung. Jacob hatte sie davon abgeschreckt. Ist ja auch kein Wunder, dass sie abgeschreckt wurden, dachte er.
Er legte das Album wieder in die Kiste, machte das Licht aus und trat auf den Flur. Jack, das Kätzchen, schlief mitten auf dem Teppich, ein kleines Fellknäuel, hinter dem das Nachtlicht über der Fußbodenleiste schimmerte.
Was ihm morgen bevorstand – der Weg zur Praxis von Dr. Brill, zusammen mit Jacob, der stolperte, im Kreis lief, sich um Paul herumzuwickeln versuchte und sich dabei an ihn klammerte – war das Schlimmste, was ihm je widerfahren war. Und es gab keinen Ausweg.