Weil es nun mal so ist, dass die Erwachsenen bestimmen und ein Junge sich unversehens an einem neuen Ort wiederfindet, packte Paul einige Tage danach in einem Zimmer, das irgendwie noch gar niemandem gehörte, Bücher und Spiele aus einem Karton.
Nachdem die Umzugsleute gegangen waren und Mom und Daddy im Wohnzimmer standen und die Kisten und Kartons betrachteten, die wie für ein schauerliches Weihnachtsfest zu hohen Stapeln aufgetürmt waren, trat Paul durch den Kücheneingang in den Garten hinaus.
In einem Nachbarhaus bellte ein Hund. An Bäumen, deren Namen er nicht kannte, glitzerten reglose Blätter im Julisonnenschein. Das unkrautdurchwucherte Gras stand hoch.
Dass man einfach in die frische Luft hinaustreten konnte, war kein Ausgleich für die Schulfreunde, die Paul niemals wiedersehen würde. Aber es war immerhin etwas. Drei Schritte und man war im Freien. Im Lauf der nächsten beiden Monate wurde das Haus allmählich das Zuhause der Colemans. Bücher, Teppiche, Vasen, Partituren, Spiegel und Möbel tauchten nach und nach auf und wärmten die Zimmer, machten sie vertraut.
Wenn Daddy an den Samstagen nicht in die Tierklinik musste, nahmen sie das Mittagessen mit an den Strand und machten Picknick. Paul liebte die Südküste, das grünliche Meer und das kalte, schaumige Wasser, das ihm gegen die Knöchel schlug. Aber diese Ausflüge schätzte er nicht so besonders.
Jacob ging wie eine Rakete los, sobald er warmen Sand unter seinen bloßen Zehen fühlte. Er schrie und lachte mit seiner heiseren Plapperstimme, bis alle zu ihnen herüberstarrten, sogar die Leute, die am Rand ihres Badetuchs gleich neben ihrem Kopf ein Radio spielen ließen.
Paul schlenderte dann den Strand entlang. Allerdings durfte er nicht ins Wasser, wenn er außer Sichtweite seiner Eltern war. Das sah er nicht so recht ein. Er war fast elf.
Diese Spaziergänge versetzten ihn in Hochstimmung. Er hatte das Gefühl, dass nichts und niemand zwischen ihm und der Luft stand, dem strahlend blauen Himmel und den Möwen, die zum Ufer oder zum Wasser hinabschossen oder, vom Wind getragen, durch die Luft glitten. Manchmal sah er sich um, und wenn er festgestellt hatte, dass er allein war, dann kam es vor, dass er in einer unverständlichen Sprache, die er selbst erfunden hatte, seine Freude in die Wellen hinausschrie und in den Wind, der von ihnen herwehte.
Auch den Weg zu der sieben Häuserblocks entfernten Hauptstraße von Brasston, die auch die Einkaufsstraße war, legte er lieber allein zurück. Sie lag in der entgegengesetzten Richtung von der Schule, in die er im September gehen würde.
Dort gab es kleine Läden und Restaurants, eine Bücherei aus gelbem Backstein, wo er einen Leserausweis beantragte und erhielt, und ein mit Brettern zugenageltes Kino mit einem Vordach, an dem Buchstaben fehlten, sodass dort stand: Al Bab und die 4 Räuber.
Am liebsten fuhr Paul mit seinem Vater im Auto zur Tierklinik. Von dort konnte er über die lang gestreckte Wiese zum Wald gehen.
Von Dr. Gold, einem der anderen Tierärzte, die in der Klinik praktizierten, erfuhr Paul, dass es sich um eines der wenigen echten, unberührten Waldgebiete handelte, die es auf Long Island noch gab.
»Sonst wurde jedes Fleckchen Erde verkauft, um Einkaufszentren darauf zu bauen oder Wohnhäuser wie auf dem Erschließungsgelände hinter dem Wald«, sagte Dr. Gold. »Lauf nicht zu weit weg«, ermahnte er ihn noch und streichelte dabei eine junge Katze, die ihm vom Untersuchungstisch leise entgegenfauchte. »Still, Letitia. Das Schlimmste ist überstanden«, murmelte er.
An der Tür zur Praxis seines Vaters blieb Paul stehen. Ohne aufzusehen, ganz in die medizinischen Unterlagen vertieft, die er gerade las, sagte Daddy: »Sieh aber zu, dass du in drei Stunden wieder da bist.«
Paul ging über die Wiese. Sie war überwuchert mit Dornengestrüpp, Unkraut und Wiesenblumen, an denen winzige Knospen mit ungeöffneten Blüten hafteten. Als er in den Wald kam, zerbrach das kräftige Sommerlicht wie eine dünne Glasscheibe zu glitzernden Splittern, die auf Blätter und Baumstämme und vorstehende Wurzeln fielen.
Von einer der Schnellstraßen, die sich rings um Long Island und quer durch die Mitte hindurchwanden, hörte Paul den Verkehr als ein fernes, beständiges Brummen wie von Bienen. Ab und zu erinnerte ihn das Kreischen einer Kettensäge, deren Krokodilsgebiss sich lärmend durch Holz bohrte, an das Erschließungsgebiet hinter dem Wald, von dem Dr. Gold gesprochen hatte.
In den Ästen über ihm zwitscherten Vögel, die er nicht sehen konnte. Ihre schattenhaften Bewegungen im Blattwerk waren wie Gedanken, die sich nicht fassen ließen.
Wenn er zwischen den Bäumen weiter vordrang, vertiefte sich die Stille. Ein Angstschauer prickelte ihm wohlig auf den Armen. Er war allein, und das war etwas ganz anderes, als bei geschlossener Tür allein in seinem Zimmer zu sein.
Jacob kam nicht in diesen Wald.
Auf seinen Streifzügen fand Paul allerhand Sachen. Eines Nachmittags langte er im dichten Unterholz nach einem großen, runden Stein, um sich abzustützen. Kurz darauf hatte er das Gestrüpp entfernt und eine bröckelige Steinmauer freigelegt. Und ein paar Meter weiter entdeckte er niedrige Grundmauern von einem Gebäude, das früher mal eine Hütte oder ein kleines Bauernhaus gewesen war. In der näheren Umgebung lagen verwitterte Bretter in allen möglichen Größen auf dem Boden verstreut.
Ohne dabei einen bestimmten Plan zu verfolgen, begann er alles Holz aufzusammeln, das er finden konnte. Das machte er einfach so, nur aus der Freude heraus, die es ihm bereitete, sich in diesem Wald zu betätigen, den er mittlerweile als sein Eigentum betrachtete. Eines Tages stieß er auf einen Männerstiefel und fand später auch den zweiten dazu. Er sammelte ein Paar Arbeitshandschuhe auf, die vor Dreck starrten, einen kaputten Bilderrahmen, eine kleine Rolle rostigen Maschendraht und zersplitterte Teile einer Angelrute aus Bambus.
Er achtete stets darauf, den Wald nach drei Stunden oder nach zwei – je nachdem, was Daddy ihm gesagt hatte – wieder zu verlassen. Sein Vater sollte ihn nicht suchen kommen. Er stand immer pünktlich neben ihrem Auto, einem gebrauchten Camry, den Dr. Coleman am Ende ihrer ersten Woche in Brasston hatte kaufen müssen.
»Wie war’s?«, fragte Daddy eines Tages, als er den Wagen anließ.
»Ganz gut«, antwortete Paul.
»Sobald die Schule anfängt, lernst du auch andere Kinder kennen«, sagte Daddy.
»Ja. Ich weiß«, sagte Paul.
»Hoffentlich wird’s dir jetzt nicht zu langweilig«, sagte sein Vater.
»Mir geht’s gut«, sagte Paul.
Er war so erfüllt von seinem Aufenthalt im Wald, dass er bei ihren Fahrten durch die stillen Vorortstraßen restlos glücklich war. Inzwischen hatte er damit begonnen, bei den Grundmauern, die er entdeckt hatte, eine Lichtung anzulegen.
»Heute ist eine Frau mit einem kranken Papagei gekommen. Der konnte sagen: ›Mummy! Das Telefon klingelt‹«, erzählte Daddy.
Sie mussten beide lachen. Es war wieder wie früher, in der Zeit vor Jacobs Geburt, wenn Daddy mit lustigen Geschichten von den Tierpatienten heimkam, die er an diesem Tag behandelt hatte.
Auf dem Küchentisch zu Hause standen Körbe mit Pfirsichen, die Mom an einem Obst- und Gemüsestand gekauft hatte, und ihr Duft drang durch alle Zimmer.
Paul lief ins Obergeschoss. Als er an dem Fenster stehen blieb, durch das man Aussicht auf den Garten hatte, sah er Jacobs kleines Trampolin. Er zog die Jalousie herunter, bis sein Zimmer im Schatten lag.
Mittlerweile war es Ende August. Die Blätter an den Bäumen hatten ihren grünen Glanz verloren und waren mit Sommerstaub überzogen. Die Rasenflächen vor den Häusern hatten die Farbe von Stroh angenommen und die Luft schmeckte verbraucht und abgestanden.
Am ersten Samstag im September kam Grandpa zu einem Wochenendbesuch nach Brasston. Er brachte Lindy in seinem Katzenkorb mit.
Vor seiner Ankunft legte Jacob ein großes Plätzchen, von dem er schon mehrmals abgebissen hatte, auf das kleine, wackelige Tischchen neben dem Gästebett in dem Zimmer im ersten Stock, wo Grandpa schlafen würde.
Als Paul es dort entdeckte – offenbar ein »Geschenk« für Grandpa, wie er vermutete –, setzte er eine theatralische Miene der Fassungslosigkeit auf, obwohl er allein im Zimmer war. Später warf er das Plätzchen in der Küche in den Mülleimer, und zwar zu einem Zeitpunkt, als Jacob da war und es sehen konnte.
»Nein!«, schrie Jacob und wies mit der ganzen Hand zum Mülleimer hin. »Mein Plätzchen für Grandpa!«
»Ach!«, rief Paul voller Unschuld. »Ich hol’s dir wieder.« Und er langte in den Mülleimer und fischte das Plätzchen heraus. Inzwischen war es zerbrochen und es haftete Kaffeesatz daran, den Mom gerade eben weggeworfen hatte.
Noch bevor jemand etwas sagen konnte, drückte er Jacob die Plätzchenstücke in die Hand und ging aus der Küche. Dabei grinste er verstohlen, das Gesicht von Moms forschendem Blick abgewandt.
Auf der Treppe nahm er immer drei Stufen auf einmal. Am Treppenabsatz machte er Halt, und als er Moms murmelnde Stimme hörte, die beruhigend auf Jacob einsprach, bekam er plötzlich einen Anfall von schlechter Laune. »Geschieht ihm ganz recht«, brummte er vor sich hin.
Als es Mittag wurde und Grandpa mit dem Mittagszug eintraf, hatte sich Pauls Stimmung wieder gebessert. Lindy, ein großer, stattlicher schwarzer Kater, pirschte um den Esstisch herum, an dem die Familie bei frischem Mais, großen Sommertomaten und walnussgroßen neuen Kartoffeln saß, die am selben Stand gekauft worden waren, von dem auch die Pfirsiche stammten. Ein Donnern war zu hören, der Himmel verfinsterte sich und es schüttete aus ihm herab.
Grandpa lächelte alle in der Tischrunde an und sagte: »Es ist so gemütlich hier, richtig nett!«
Jacob saß bei Mom auf dem Schoß, nagte verträumt an einem Pfirsich, veranstaltete eine Sauerei damit und murmelte dabei vor sich hin.
»Als ich auf dem Weg vom Bahnhof hierher mit dem Taxi am Kino vorbeigekommen bin, ist mir aufgefallen, dass auf dem Vordach Unter neuer Leitung steht«, sagte Grandpa. »Und sie spielen einen italienischen Film, La Strada. Den hab ich vor Jahren schon mal gesehen. An diesem verregneten Nachmittag würde ich gern mit Paul ins Kino gehen und ihn anschauen.«
»Für diesen Film ist Paul noch zu klein«, stellte Daddy fest.
»Wenn er auf Italienisch ist, weiß ich ja gar nicht, worum es geht«, sagte Paul.
»Na, du kannst aber doch lesen«, sagte Grandpa. »Unten auf der Leinwand wird die englische Übersetzung stehen. Und überhaupt ist das kein Film, bei dem man immer genau wissen muss, was die Leute sagen.«
»Ich will mit!«, jammerte Jacob und ließ den halb gegessenen Pfirsich auf Moms Bluse fallen.
Grandpa stand auf und trat zu Jacob hin. Er musterte sein Gesicht und benahm sich dabei wie ein Affenvater, berührte schnatternd seine Haut, als wollte er das Fell glatt streichen, und dann kniff er ihm in die Nase.
Jacob lachte. »Noch mal«, rief er. Grandpa machte es noch einmal und Jacob kippte kichernd hintenüber, in Moms Arme hinein.
»Hinterher nehm ich dich auf einen Spaziergang mit«, sagte Grandpa zu Jacob. »Und ich habe auch eine ganz besondere Geschichte, die ich dir erzählen will.«
Jacob setzte sich auf und lächelte. »Grandpa hat eine Geschichte«, flüsterte er.
Paul hörte den überredenden Tonfall aus Grandpas Stimme heraus. Man hätte schön blöd sein müssen, um nicht zu kapieren, was los war. Grandpa trat als Bittsteller auf, damit Jacob kein Geheul und Geschrei veranstaltete.
Es gefiel Paul nicht, dass Grandpa so etwas machte. In seinem Kopf marschierten Argumente wie lauter Soldaten auf und machten sich dazu bereit, gegen Grandpa vorzurücken, ihn zurechtzuweisen.
Grandpa bückte sich nach dem Pfirsich und gab ihn Jacob.
»Pa, der Film ist ziemlich traurig. Ich glaub nicht, dass Paul schon so weit ist«, sagte Daddy.
Grandpa sah Paul an. »Er kennt sich mit traurigen Dingen aus«, sagte er.
Etwas Seltsames geht hier vor sich, dachte Paul. Grandpa widersetzte sich seinen Eltern sonst nie, aber diesmal tat er es. Bei den Ausflügen, die er mit Paul unternommen hatte, bei den Gesprächen, die sie von Pauls frühester Kindheit an geführt hatten, war es immer um Dinge gegangen, die jenseits des Bestimmungsrechts seiner Eltern lagen. Wie die drei Zentimeter vergrößertes Teichwasser waren sie Teil einer größeren Welt gewesen.
Dann zuckte sein Großvater mit den Schultern und gab nach. »Nun ja … Wenn du nicht möchtest, dass wir ins Kino gehen …«
»Ich will den Film sehen«, sagte Paul, schmetterte es wie eine Verlautbarung hervor.
»Wenn man bedenkt, was er im Fernsehen alles sieht …«, sagte seine Mutter leise.
»Na gut«, sagte Daddy.
Grandpa rief im Kino an und erkundigte sich, wann der Film anfing. Als sie sich auf den Weg machten, um die sieben Häuserblocks bis zum Zentrum von Brasston zurückzulegen, hatte das Sommergewitter schon nachgelassen. Aus dem Regen war ein feines Nieseln geworden.
»La Strada heißt ›Die Straße‹«, erklärte ihm Grandpa. »Damit ist nicht einfach nur eine Straße gemeint. Das sagen Schauspieler und Zirkusleute, wenn sie auf Tour gehen. Sie ziehen in Städte und Dörfer, die Leute versammeln sich um sie und die Schauspieltruppe gibt eine Vorstellung. Der Film handelt von zwei Menschen, einem Jahrmarktsartisten, der als starker Mann auftritt, und einem kleinen Dorfmädchen, das er ihrer Familie abkauft. Das heißt aber nicht, dass sie nicht gern mit ihm gegangen wäre! Und der Film erzählt von ihren Abenteuern auf der Straße.«
Paul hörte nicht zu. Er grübelte über den Spaziergang nach, den Grandpa Jacob versprochen hatte.
»Wo willst du mit ihm hin?«, fragte er, als sie an dem gelben Backsteingebäude der Bücherei vorbeigingen.
Grandpa antwortete nicht gleich. Inzwischen waren sie beim Kino angekommen und er kaufte ihre Eintrittskarten bei einer alten Frau, die in einer Glaskabine saß.
Dann gingen sie durch die Eingangshalle und Grandpa wandte sich Paul zu. »Du kannst mitkommen, wenn du magst«, sagte er zu Pauls Verblüffung. »Jacob würde sich freuen.«
»Ich will nicht mit!«, platzte Paul gerade in dem Augenblick heraus, als sie an einem älteren Herrn vorbeigingen, der ihnen die Eintrittskarten abnahm. Er sah sie erschrocken an.
»In Ordnung«, sagte Pauls Großvater freundlich und sie gingen im Schummerlicht des Kinos durch den Gang. In den Reihen saß nicht mehr als ein Dutzend Leute. Die Hitze des Tages verdichtete sich hier und die Luft roch nach ranziger Butter vom Popcorn, von den leeren Tüten, die, von Pauls und Grandpas Füßen weggeschubst, über den Boden kullerten.
Das Licht des Filmvorführungsgeräts ging an. Auf der schwarzen Leinwand erschienen die Worte: La Strada.
»Das ist ja gar kein Farbfilm«, flüsterte Paul.
»Davon wirst du schon bald nichts mehr merken«, sagte Grandpa.
Auf dem Heimweg kamen Paul und Grandpa an einem Limonadenstand vorbei, der aus ungehobelten Brettern bestand. Zwei leere Einwegbecher warfen lange Schatten auf das Holz. Hinter dem Stand stützten zwei kleine Mädchen ermattet das Kinn in die Hände und starrten wie welkende Blumen auf die dunkelgrüne Stille der Straße hinaus. Vom Fenster eines gelben Hauses, das auf einer kleinen Anhöhe hinter ihnen stand, rief jemand nach ihnen. »Mira! Kira! Macht den Laden dicht! Abendessen!«
Im Film war alles heruntergekommen und grau und grimmig gewesen. Paul schaute zum Gesicht seines Großvaters hoch. Auch das sah grau und grimmig aus.
Als er über den Film nachdachte, bekam Paul immer mehr das Gefühl, er hätte eine Predigt in der Kirche gehört und gesehen. Und sein Großvater sah aus, als fühlte er sich verpflichtet, ihm die Predigt zu erklären.
Der Artist und das Mädchen gaben überall Vorstellungen, auf Bergen und in Tälern. Der Artist kniete sich auf den Boden und warnte die Zuschauer, dass zart besaitete Gemüter wegsehen sollten, wenn er sich jetzt daranmachte, die Ketten zu sprengen, die um seine Brust gewickelt waren. Das Mädchen, das als Clown zurechtgemacht war, spielte auf einer verbeulten Trompete. Auf dem Kopf trug sie einen kleinen, steifen schwarzen Hut. Rings um die Augen waren mit schwarzem Stift übertrieben lange Wimpern aufgemalt. Ihr Zuhause war ein kleiner Wagen mit gardinenverhangenen Fenstern, der an ein Motorrad angehängt war. Aber an einem bitterkalten Tag verließ der Artist sie. Nach langer Zeit kehrte der Mann in das steinige Dorf zurück, in dem er das Mädchen zum ersten Mal gesehen hatte. Auch sie war zurückgekehrt, jedoch nur zum Sterben. Die letzte Szene im Film hatte den Mann gezeigt, wie er sich an einem Maschendrahtzaun festkrallte und weinte. Er trauerte um das Mädchen und um ihre Liebe zu ihm.
»Wie konnte ihr der Artist nur leidtun? Er sah aus, als würde er jederzeit ein Pferd erwürgen, wenn er nur die Gelegenheit dazu bekäme. Es war so blöd von ihr, ihn zu lieben, so dumm!«, rief Paul in die stille Straße hinaus.
Grandpa seufzte. Paul wusste, woran das lag. Es kam daher, dass sein Grandpa meinte, er müsste Paul erklären, worum es in der Filmgeschichte wirklich ging. Paul biss verärgert die Zähne zusammen. Er konnte sich nicht daran erinnern, jemals zuvor auf Grandpa böse gewesen zu sein.
»In der Liebe liegt Erbarmen«, sagte Grandpa nach langem Schweigen. »Mehr kann ich dazu nicht sagen.« Er hörte sich hilflos an. Auch das geschah zum ersten Mal.
Als sie nach Hause kamen, fragten Mom und Daddy wie aus einem Mund, wie Paul der Film gefallen hatte.
»Er hat mir nicht gefallen«, sagte Paul und starrte auf seine Turnschuhe hinunter.
Nach dem Abendessen ging er geradewegs in sein Zimmer. Grandpa war mit Jacob unterwegs. Sie machten ihren Spaziergang.
Bevor Paul in seinem Zimmer das Licht anknipste, zog er die Jalousie an dem Fenster zum Garten hoch. In der Fensterscheibe brachen sich Lichter von anderen Häusern.
Ganz von selbst, ohne eigenes Zutun, tauchte das Mädchen aus La Strada vor seinem geistigen Auge auf. Sie stand unter den Ästen eines Ahorns im Garten.
Wie der Baum hieß, hatte er im Lauf der Sommermonate gelernt. Er hatte auch die Namen von Blumen und Sträuchern und Insekten gelernt.
Das Mädchen hatte diesen schwarzen Hut auf, der wie ein umgestülpter Topf aussah. Sie setzte die ramponierte Trompete an die Lippen, um das traurige Lied ohne Text zu spielen, das sich wie ein vom Wind getriebener Papierfetzen durch den Film gezogen hatte.
Als der Artist sie an einem eiskalten Nachmittag auf dem einsamen Bergpfad verlassen hatte, war er wenige Minuten später zurückgekehrt und hatte sie mit Lumpen zugedeckt. Ob sein steinernes Herz doch erweicht worden war?
Gleich darauf konzentrierte sich Paul in seinen Gedanken auf die Schule: wie er am nächsten Donnerstag die sechste Klasse betreten würde, was er anziehen, welche Miene er aufsetzen sollte. Schließlich war er der Neue.