Mrs Coleman gab jetzt wieder an zwei Nachmittagen in der Woche Klavierunterricht. Während dieser Zeit kam Josh, ein College-Student mit üppigem Bart und spärlichen Haaren, und passte auf Jacob auf.
Josh war klein und mager. Wenn er Paul in der Wohnung begegnete, sagte er: »Hi, Mann.«
Es war, als lugte ein kleines Tier, ein Dachs oder ein Biber, aus einem Dickicht hervor und begrüßte ihn. Bei gutem Wetter ging Josh mit Jacob auf einen Spielplatz in der Nähe. War das Wetter schlecht, las Josh Jacob in Pauls Zimmer vor oder er las in seinen eigenen Büchern, während Jacob mit einem Malstift über ein Blatt Papier fuhr oder vor sich hin sang.
Josh sah wie ein müder Langstreckenläufer aus. Mom sagte, das käme daher, dass Josh mehrere Jobs hatte, um die Collegegebühren zu finanzieren.
Paul mochte ihn nicht. Als er am ersten Nachmittag gekommen war, hatte Paul ihn gleich ermahnt, Jacob in seinem Zimmer nichts anfassen zu lassen.
»Wow, Mann!«, sagte Josh. »Das klingt ja so, als wär’s ein ehernes Gesetz, das schon galt, bevor die Pilgerväter an Plymouth Rock landeten! Aber ich weiß, wie dir zumute ist. Ich hab auch einen jüngeren Bruder, der dauernd an meine Sachen geht und mich zum Wahnsinn treibt!«
Josh konnte nicht wissen, wie Paul zumute war. Davon hatte er keine Ahnung. Jacob war nicht einfach nur ein kleiner Bruder. Er hatte einen Konstruktionsfehler.
Manchmal kam Gloria, eine Physiotherapeutin, die Jacob dabei helfen sollte, seine Bewegungen besser zu koordinieren. Sie hüpfte wie ein Gummiball durch die Tür herein und küsste Jacob oben auf seine Zottelhaare. Dann lachte Jacob, bis er umkippte – er war so leicht zu erfreuen. Man brauchte ihm nur ein Ei zu zeigen und er machte Luftsprünge wie ein tollpatschiges Känguru.
Würde Jacob jemals in der Lage sein, etwas allein zu machen? Warum konnte er nichts lernen?
Das waren ganz persönliche Fragen, mit denen Paul sich herumschlug. Aber zu seinem Entsetzen rutschten sie ihm eines Tages heraus und er stellte sie Dr. Newman, einer Therapeutin, zu der die Familie Coleman seit Jacobs Geburt von Zeit zu Zeit ging.
Daddy hatte gesagt: »Vielleicht möchtest du mit Dr. Newman mal allein sprechen?« Mom war wie eine Rakete vom Stuhl hochgeschossen und die beiden hatten blitzschnell das Sprechzimmer verlassen, während Paul auf dem Plastikstuhl zurückblieb. In dem Schweigen, das nach dem Abgang seiner Eltern einsetzte, schaute Dr. Newman ihn mit einem leichten Lächeln auf den Lippen freundlich an. Er schwenkte den Blick von ihr weg – wie war es möglich, dass sein Blick so schwer war? – und heftete ihn auf die Wand hinter ihrem Schreibtisch, auf ein langweiliges Bild, das einen Gebirgszug darstellte.
Urplötzlich platzte er mit den Fragen heraus, die bis zu diesem Augenblick etwas ganz Geheimes gewesen waren. Der Klang seiner Stimme war ihm entsetzlich peinlich; es lag so ein schrilles Jammergeschrei darin.
»Er lernt ständig dazu«, sagte Dr. Newman. »Deine Mutter ist Klavierlehrerin, daher verstehst du etwas vom Tempo. Jacobs Tempo unterscheidet sich von deinem, es ist langsamer. Aber es ist dennoch ein Tempo da.«
Er starrte ihre langen, scharlachrot lackierten Fingernägel an und fragte sich, wie sie damit eine Zahnbürste halten oder Toastkrümel aufklauben konnte. Ein anderes Mal, diesmal in Gegenwart seiner Eltern, sagte Dr. Newman ihm, dass er der wichtigste Mensch in Jacobs Leben wäre.
Ihre Worte bohrten sich wie Dornen in Pauls Schädel. Und dort blieben sie, bis er sie nicht mehr still für sich wiederholen konnte, weil er seine Mathe-Hausaufgaben machen musste.
Es gab Augenblicke, in denen sich Paul vorstellte, dass Jacob ein Stern war, so wie die Sonne. Er und Daddy und Mom, Jacobs Zahnarzt, seine Babysitter – sogar Grandpa – und sämtliche Ärzte, die sich um seine Wehwehchen kümmerten, waren kleine Planeten, die bis in alle Ewigkeit um ihn kreisten.
Eines Nachmittags kam Paul von einem Besuch bei einem Schulfreund erst ziemlich spät nach Hause.
Er entdeckte Jacob in seinem Zimmer, wo er wie ein großer Depp ganz allein auf dem alten Flickenteppich hockte. Pauls Bücher, seine Spielsachen und sogar seine Kleidungsstücke lagen überall verstreut, so als wäre ein Tornado durchs Fenster hereingeweht.
Paul konnte nicht anders. Als Jacob sich lächelnd zu ihm umdrehte und seinen Namen rief, brüllte Paul so laut wie ein Löwe: »Ich hasse dich! Du Blödmann! Blödmann! Blödmann!«
Mom kam ins Zimmer gestürzt, dicht gefolgt von Daddy, der gerade nach Hause gekommen war und es noch nicht mal geschafft hatte, seinen Mantel auszuziehen. Beide riefen durcheinander.
»Paul! Warte!«
»Nicht!«
»Lass das!«
Jacob weinte. Mom wies Paul an, in sein Zimmer zu gehen, aber sofort.
»Ich bin in meinem Zimmer«, rief er mit bebender Stimme.
Sie sahen wie Wahnsinnige aus. Jacob hatte sie zum Wahnsinn getrieben.
»Jacob braucht ein eigenes Zimmer. Wir brauchen mehr Platz«, sagte sein Vater grimmig.
Paul hörte sie schon seit Monaten über mehr Platz sprechen. Einige Male, wenn er gerade nichts mit Grandpa unternahm, war er bei der Suche danach mitgekommen. Er hatte die Luft von »mehr Platz« eingeatmet, in staubigen Zimmern, die nach alten Teppichen rochen.
Aber alles war zu teuer. Eine Eigentumswohnung konnten sie sich nicht leisten und die Mieten waren zu hoch. Paul kam da nicht mehr ganz mit. Zu Hause war zu Hause. Aber eines Tages war es dann nicht mehr zu Hause.
Daddy fand eine Tierarztpraxis in der Klinik einer Kleinstadt, die auf Long Island lag und Brasston hieß. Mit dem Zug waren es achtundfünfzig Minuten, wenn die Züge fahrplanmäßig fuhren. Die Colemans wollten Ende Juni umziehen, nachdem Paul die fünfte Klasse hier im Stadtteil beendet hatte.
Wenn er an die anderen Kinder in seiner Klasse dachte, wenn er sich vorstellte, wie einige von ihnen zur Lehrerin hinsahen oder auf die Tafel hinter ihr schauten oder auf das große Ziffernblatt der Wanduhr oder wie sie aus den dreckigen Fenstern zu den dreckigen Fenstern im Gebäude gegenüber starrten, dann glaubte er, dass ihm nur die vertraute Umgebung fehlen würde. Aber wenn er in seiner Vorstellung näher an einige der Gesichter heranging, die er so gut kannte, von Kindern, mit denen er zusammen in die Klasse ging, seit er vor sechs Jahren in die Vorschule gekommen war, dann krampfte sich sein Herz in der Brust zusammen.
Diesen Kindern machte er Versprechungen, dass er im Herbst in die Stadt kommen würde, an den ersten Septembertagen, bevor die Schule wieder losging. Dann wollte er sie besuchen. Aber irgendwie wusste er, dass er die Freunde wohl nie mehr sehen würde.
»Erzähl mir von eurem neuen Haus«, bat Grandpa ihn am Anfang der letzten Woche, die sie noch in der Wohnung waren. Allmählich bekam sie Ähnlichkeit mit allen anderen leeren Dreizimmerwohnungen in der Stadt.
Grandpa lehnte sich an Pauls Kommode und sah zu, wie er seine Sachen in zwei große Pappkartons packte.
»Es ist einfach nur ein Haus. Man kann zu Fuß nach draußen. Keine Fahrstühle«, sagte Paul.
»Gibt es dort nicht auch etwas Schönes?«, fragte Grandpa drängend.
Paul dachte nach. »Den Treppenabsatz«, sagte er nach einer Weile. »Nach dem zweiten Stock macht die Treppe einen Bogen. Und dort, wo sie abbiegt, gibt es eine Art Plattform und ein rundes Fenster mit bunten Scheiben.«
»Und dein Zimmer?«
»Geht so«, sagte Paul. »Zum Haus gehört noch ein großer Garten mit Bäumen und Sträuchern und einem Vogelbad; das leckt zwar, aber Daddy will es wieder zusammenflicken. Ich kann’s von meinem Zimmer aus sehen.«
»Und die Küche? Ist sie so groß, dass man darin essen kann?«
»Es gibt ein Esszimmer«, sagte Paul.
»Jacob bekommt jetzt sein eigenes Zimmer«, sagte Grandpa nachdenklich.
Dazu sagte Paul nichts. Wieso fragte Grandpa ihn überhaupt nach dem Haus, wenn Mom oder Daddy es ihm doch bestimmt schon beschrieben hatten?
Als hätte er Pauls Gedanken gehört, sagte Grandpa: »Ich wollte deine Sichtweise erfahren.«
»Mir gefällt die Tierklinik, in der Daddy arbeiten wird«, sagte Paul. »Er hat mir gesagt, dass sie vor langer Zeit mal ein Bauernhof war. Es gibt eine große Wiese mit Wald dahinter und einen Parkplatz unter einem Kastanienbaum.«
»Es wird sich vieles verändern«, stellte Grandpa fest.
»Und das alles nur, weil Jacob mehr Platz braucht«, sagte Paul.
»Ihr alle braucht mehr Platz«, sagte Grandpa.
Selbst Grandpa gegenüber wurde Paul die Kehle eng, wenn Jacob erwähnt wurde. Er hustete.
»Hier, nimm einen von den sauren Drops«, sagte Grandpa und reichte ihm ein grünes Bonbon.
Es stimmte zwar, dass Paul von Monat zu Monat besser darin wurde, nicht an Jacob zu denken. Aber ihm fiel auf, dass er noch etwas anderes gelernt hatte: Er merkte es jetzt immer, wenn Mom, Daddy oder Grandpa wollten, dass er an Jacob dachte. Damit hatte er nicht gerechnet.
Freundliche Gedanken, sagte er sich spöttisch.
Eine Weile lutschte er an dem Bonbon. Dann überlegte er, wie viel er noch in den Karton stopfen konnte, und nachdem er noch ein weiteres Buch hineingequetscht hatte, stellte er eine Frage, die ihn sehr beschäftigte: »Wie werden wir uns sehen, Grandpa?«
»Ich fahre gern mit der Bahn«, gab sein Großvater zurück. »Es wird mir ein Vergnügen sein, nach Brasston zu fahren, wenn der Zug pünktlich ist. Dein Daddy hat gesagt, dass es im ersten Stock von eurem Haus ein kleines Zimmer gibt, in dem sich ein Bett aufstellen lässt, damit ich dort übernachten kann. Dann bringe ich natürlich Lindy mit, in seinem Katzenkorb. Später wirst du in die Stadt kommen und mich auf eigene Faust besuchen können.«
»Schreibst du mir?«, fragte Paul. Ihm war aufgefallen, dass Grandpas Briefe längst nicht mehr so oft kamen wie früher.
Grandpa hielt ihm die Hände hin und streckte die Finger aus. »Ich habe Arthritis«, sagte er.
Paul berührte das dick geschwollene Gelenk des Daumens.
»Ist das Arthritis?«, fragte er.
Grandpa nickte.
»Tut das weh?«, fragte Paul.
»Ja, aber manchmal geht die Arthritis wieder weg. Bei Regen und schwülem Wetter kommt sie wieder. Normalerweise denke ich gar nicht daran, nur beim Briefeschreiben oder wenn ich Manschettenknöpfe vom Boden aufheben muss – die flutschen mir durch die Finger. Aber du bist ja schon zehn und wirst bald elf. Jetzt können wir lange Telefongespräche führen.«
Ein Schauer durchlief Paul, obwohl die Luft voller Juniwärme war. Neues Haus, neue Schule, ein neuer Ort und ein neuer Gedanke: Grandpa war nicht einfach nur alt. Er wurde mit jedem Tag, mit jeder Minute des Tages älter.
Paul wurde bewusst, dass er Grandpa anstarrte. Und Grandpa hielt ihm das Gesicht hin, als strecke er Paul einen Blumenstrauß entgegen.
Er hatte dichtes, graues Haar, das er kurz geschnitten trug. Seine braunen Augen lagen in einem Nest aus lauter Fältchen. Er war groß und dünn. Wangen und Kinn waren glatt rasiert und die Haut glänzte. »Ich habe noch meine eigenen Zähne«, sagte Grandpa lächelnd.
Paul erwiderte das Lächeln. Zwischen ihnen lag ein Gedanke, für den Paul kein Wort fand, ein Gedanke, von dem ein leichtes Surren ausging wie von einer sonnentrunkenen Fliege.
Bei ihrem Lächeln ging es nicht um etwas Lustiges, sondern um etwas Trauriges.
Im Wohnzimmer heulte Jacob.
»Er hat mal wieder seine Brille verloren«, stellte Paul fest.
»Komm, wir helfen ihm suchen«, sagte Grandpa und ging zur Tür.
»Ich hab noch nicht fertig gepackt«, sagte Paul.
Grandpa blieb an der Tür stehen. »Weißt du immer, weshalb er weint?«, fragte er.
Paul schüttelte den Kopf, aber auf eine Weise, die weder das eine noch das andere besagte.
Grandpa ging und kurz darauf hörte das Weinen auf. In der Stille, die daraufhin einsetzte, ertappte sich Paul dabei, dass er einen Fußball in einen vollgestopften Karton packen wollte. Ein Gedanke kam ihm in den Sinn: War nicht an Jacob zu denken nur auch eine Art, an ihn zu denken? Bevor er diese Frage in ihrer Bedeutung so ganz erfassen konnte, verschwand sie wieder.
Mit einem Mal fiel ihm ein Tag ein, an dem er mit Grandpa im Central Park gewesen war. Als sie an einem dunklen Tunnel vorbeikamen, hatte er Grandpa gebeten, ein paar Schritte vor dem Eingang stehen zu bleiben und zu warten. Dann war er in den Tunnel hineingerannt.
An die Tunnelwand waren mit Farbspray Wörter und skizzenhafte Bilder gesprüht, die er zuerst nicht genau erkennen konnte. Ein modrig-feuchter Geruch erfüllte den Tunnel wie dicker Qualm. Paul war von seinem eigenen Wagemut ganz aufgekratzt gewesen, aber der verließ ihn einige Meter hinter dem Eingang und schlug in Panik um. Und später, als er mit Grandpa im Central Park in den Zoo ging, hatte er das Gefühl gehabt, dass er immer noch lief, dass der grelle weiße Schimmer dieser gesprühten Wörter und Bilder an der Tunnelwand ihn verfolgte.