GEBURTSTAGSFEIERN

 

 

 

 

 

 

Obwohl Grandpa nicht weit weg wohnte und die Colemans oft besuchte, schrieb er Paul einmal im Monat einen Brief. Das machte er schon so, seit Paul drei Jahre alt war. Mom oder Daddy lasen ihm die Briefe laut vor, und sie waren wie Geschichten aus einem Buch, das nie zu Ende ging.

Oft kam ein Satz über Kater Lindy darin vor. Dass er den Vorhang hochgeklettert war, der vor dem einen großen Fenster in Grandpas Studio hing, und mit seinen Krallen Fäden aus dem Synthetikstoff gezogen hatte. Dass er das Lammkotelett vom Herd geklaut hatte, als Grandpa gerade nicht hinsah, und zwar ausgerechnet in dem Moment, als es so durchgebraten war, wie Grandpa es am liebsten mochte. Dass er Grandpa hinter einer Tür hervor angesprungen und sich mindestens eine Minute lang an seiner Hose festgekrallt hatte und dass Grandpa mit Lindy am Bein durchs Zimmer gegangen war.

Paul verwahrte alle Briefe in einer speziellen Schachtel, die so ähnlich aussah wie ein großes Buch.

Er hatte zwei Lieblingsbriefe, die Mom ihm immer wieder vorlesen musste. In einem stand: Ich ging gerade die West Street entlang, hing meinen Gedanken nach und atmete die rauchige Luft ein, die nach Flusswasser roch – und da sah ich auf einmal einen riesigen Krebs, der langsam über den Bürgersteig kroch. Was machte so ein Wesen hier in der Großstadt? Mir fiel nur eine Antwort darauf ein, auch wenn es möglicherweise noch andere gibt. Der Krebs musste mit einem der Lastwagen gekommen sein, die Lebensmittel in die Stadt bringen, vermutlich von Chesapeake Bay, die an der Küste im Osten von Maryland und Virginia verläuft. Es war ihm gelungen, aus seinem Behälter zu entkommen und sich hinten am Lastwagen herunterzulassen. Und da war er jetzt, bewegte sich nach Krebsart seitwärts voran und war, wie ich vermute, auf der Suche nach etwas Vertrautem. Ich hob ihn an einer Schere hoch und ging mit ihm in Richtung Fluss.

Die meisten Leute merkten nichts davon, was ich trug – oder sie taten jedenfalls so, als merkten sie nichts. Aber ein alter Herr, der ganz ähnlich aussah wie ich, nur dass er viel kleiner und runder war, rief: ›Was machen Sie mit diesem Krustentier? Setzen Sie es sofort wieder ab!‹

Ich ging an ihm vorbei, so schnell ich nur konnte. Zum Glück kam er mir nicht hinterher. Als ich zu einem wackeligen, baufälligen Pier kam, der weit über den Hudson hinausführte, ließ ich den Krebs ins Wasser fallen. Er verschwand. Hoffentlich schwimmt er jetzt wieder zur Chesapeake Bay.

Der andere Brief, den Paul immer wieder hören wollte, handelte von einer neuen Freundschaft.

Ich kaufe mir meine Zeitung an einem Kiosk, zu dem ich von meinem Studio ein Stück den Häuserblock entlanggehen muss. Vor ein paar Wochen entdeckte ich einen neuen Mann hinter der Theke. Seine Haut hat die Farbe von dem dunklen griechischen Honig, den Du so gern isst. Und wenn er lächelt, leuchten seine braunen Augen. Er hat eine melodische Stimme und einen prächtigen Schnurrbart und er heißt Nawaz. Zuerst haben wir nur Guten Morgen gesagt, dann fingen wir an, ein bisschen übers Wetter und das Verkehrschaos zu reden. Und schon bald erzählten wir uns gegenseitig persönliche Dinge aus unserem Leben. Er ist in Islamabad zur Welt gekommen, einer Stadt in Pakistan, und er musste feststellen, dass sieben Brüder schon vor ihm angekommen waren. Stell Dir das mal vor!

Eines Tages, als sein Cousin ihm dabei half, die Sonntagszeitungen zu ordnen, lud ich ihn auf einen Kaffee ein. Das schien ihn sehr zu freuen. Wir gingen in ein nettes, ziemlich dunkles kleines italienisches Café und verbrachten ungefähr zwanzig Minuten damit, so allerhand über einander zu erfahren. Jetzt denke ich jeden Morgen schon beim Aufstehen an Nawaz und daran, was für interessante Sachen er mir erzählen wird, wenn ich die Zeitung kaufe.

Es war komisch, aber wenn Paul und sein Großvater zusammen waren, sprachen sie nie über die Briefe. Paul schrieb Grandpa nicht zurück. Dazu hätte er seiner Mutter oder seinem Vater den Brief diktieren müssen. Was er hätte sagen wollen, handelte meistens von Jacob. Dass er größer wurde, sich sonst aber nicht sehr veränderte; dass er heulte und plärrte und seine große Zunge rausstreckte, die wie ein Kaugummi aussah; dass er keine Ahnung davon hatte, wie er mit Paul spielen sollte; dass Mom abends nach dem Essen nicht mehr Klavier spielte, weil Jacob davon aufwachen würde; dass sie ihn dauernd zu irgendwelchen Ärzten schleppten und dass Paul mitkommen und in Wartezimmern herumsitzen musste, wo er tagelang – so kam es ihm jedenfalls vor – zerfledderte Zeitschriften im Schoß hielt und auf sie hinunterstarrte.

Aber er schrieb Briefe in seinem Kopf, und als er in der dritten Klasse war und Jacob stehen und laufen gelernt hatte und sogar ein paar Wörter sprechen konnte, hätte Paul Grandpa durchaus schreiben können. Aber als es so weit war, wollte er kein Wort mehr über Jacob schreiben.

Die ganze Zeit, während er lesen und schreiben lernte, hatte er sich beigebracht, nicht an Jacob zu denken. Das war ganz leicht, wenn er in der Schule war oder einen Freund besuchte oder etwas mit Grandpa unternahm. Aber es war schwer, wenn er zu Hause war und Jacob wie ein Springteufel überall da auftauchte, wo Paul hinging.

Besonders schwer war es auf der Feier zu Pauls achtem Geburtstag gewesen. Am frühen Nachmittag war der Ausläufer eines September-Hurrikans über die Stadt hereingebrochen. Am Himmel brodelten schwarze Wolken. Windböen und heftiger Regen brachten die Fenster zum Klappern. Von den sechs Schulfreunden, die er eingeladen hatte, kam kein einziger. Noch nicht mal Grandpa ließ sich blicken. Im Haus fiel der Strom aus und der Tag wurde so finster wie die Nacht.

Aber Jacob hatte gequietscht und gelacht und mit seinen dicken Händen Beifall geklatscht, als fände der tobende Sturm ihm zu Ehren statt. Soweit sich Paul erinnerte, war es das erste Mal, dass er »auf Jacob aufpassen« sollte, während seine Eltern Folie auf alle Fenster klebten, damit die Scherben daran haften blieben, falls die Scheibe zu Bruch ging. Dafür brauchten sie nicht mehr als eine Dreiviertelstunde, aber Paul war schon nahe am Durchdrehen, weil Jacob plapperte und in seiner eigenen Sprache sang. Es war fast so, als wären sie beide allein in der Wohnung und Jacob wäre eine Art menschliches Unwetter, das mit Donnergetöse und brausendem Wind über Paul hereinbrach.

Der Sturm legte sich. Der Regen ließ nach. Die Lichter gingen wieder an. Der Hurrikan verzog sich aufs Meer hinaus. Für Geburtstagsgäste war es jetzt schon zu spät. Seine Mutter setzte sich aufs Sofa und sah Paul mit einem teilnahmsvollen Lächeln an. »… und das an deinem Geburtstag«, sagte sie leise.

Daddy sagte: »Dann feiern wir eben morgen.«

Paul schüttelte den Kopf. »Ich will keine Feier mehr«, sagte er.

Er sah den Blick, der zwischen ihnen hin- und herging.

Seine Mutter sagte: »Vielleicht überlegst du dir’s ja noch mal.«

Wortlos schüttelte er den Kopf.

»Also, wir können ja die Torte essen, auch wenn das Eis geschmolzen ist, weil es eine Weile keinen Strom gab. Dann machen wir die Päckchen auf – die Geschenke, die du von uns bekommen hast«, sagte sein Vater.

»Ich hab im Moment keine Lust auf Torte«, sagte Paul.

Jacob war auf einen Sessel geklettert und schlief schon halb. Paul fühlte sich weit weg von den drei anderen, so als schaute er durchs falsche Ende eines Fernrohrs auf das Wohnzimmer, in dem sie saßen. Aber die Entfernung machte ihm ein wenig Angst, und daher hatte er rasch eingewilligt, als sein Vater sagte, er könnte sich die Geschenke doch zumindest mal ansehen.

 

Viele Monate später, als Paul an einem Nachmittag seine Schultasche im Wohnzimmer auf den Fußboden geschmissen hatte und unterwegs zur Küche war, um sich eine Orange und einen Keks zu holen, tauchte Jacob plötzlich hinter dem Sofa auf. In seinem holprigen Gang, mit Schlenkerbewegungen wie eine Lumpenpuppe, rannte er auf Paul zu, schlang ihm die Arme um die Taille und bohrte seinen Kopf in Pauls Bauch.

»Paul! Paul!«, rief er. Paul stand wie erstarrt.

»Er hat dich lieb«, sagte Mom, die an der Schlafzimmertür stand.

Paul wollte Jacobs Liebe nicht.

Als Daddy ihm sagte, dass sie zur Feier von Jacobs viertem Geburtstag eine kleine Party veranstalten wollten, konnte Paul nur daran denken, wie gern er woanders gewesen wäre.

»Bis zu diesem Jahr konnten wir noch keine Party für ihn geben«, sagte Daddy. »In den drei ersten Jahren hätte ihm das nichts bedeutet.«

Wenn sein Vater geahnt hätte, was Paul dachte, wäre er nicht so ruhig geblieben. Paul malte sich ein Erdbeben aus, einen späten Frühjahrs-Schneesturm, ein Feuer hier im Haus – alles, egal was, nur damit er nicht hier sein musste, wenn Jacob mit Mom und Daddy und Grandpa einstimmte und sich mit seiner Krähstimme, die immer so verrückt auf und ab kippte, selbst das Geburtstagslied sang.

Der Tag kam. Jacob, seine mit gelben Kaninchen bestickte Wollmütze auf dem Kopf, lief lachend kreuz und quer im Wohnzimmer herum und purzelte hin. Die Mütze hatte Grandpa ihm geschenkt und er trug sie nachts im Bett. Paul ging in sein Zimmer, legte sich auf sein Bett und versuchte an gar nichts zu denken. Wie konnte man überhaupt an nichts denken?

Er fühlte sich ganz jämmerlich, wie ein Waisenkind, das man bei Sturm und Regen aus dem Haus gejagt hatte.

Er hörte, wie Papier zerfetzt wurde. Jubelrufe. Er hörte Grandpa sagen: »Der Junge versteht sich aufs Feiern!«

»Paul«, rief seine Mutter. »Jacob packt gerade das Geschenk aus, das er von dir bekommen hat. Komm doch her!«

Er hatte kein Geschenk für Jacob besorgt. Das hatten die Eltern gemacht. Er wusste nicht mal, was es war. Sie hatten seinen Namen auf die Geburtstagskarte geschrieben.

»Paul!«, rief Jacob. »Mein Spiel!«

Grandpa tauchte an der Tür zu Pauls Zimmer auf. »Jetzt komm schon«, drängte er. »Dann geht’s dir gleich viel besser.«

Er stand langsam auf und ging ins Wohnzimmer. Woher wollte denn jemand wissen, wie es ihm gehen würde?

Jacob saß auf dem Fußboden und hielt einen Gegenstand umklammert, der aus bunten Holzperlen auf dicken Drähten bestand. Er schaute zu Paul hoch und ließ das Spielzeug los. »Paul!«, schrie er. »Danke!«

Unwillkürlich fiel Pauls Blick auf Jacobs kleine Finger. Sie sahen aus wie kurze, dicke Bleistiftstummel. »Bitte schön«, hörte er sich mit dünner, schwankender Stimme sagen.

Später gab es Torte. Als Mom sie auf ein niedriges Tischchen stellte, rief Jacob »Oh!« und fuhr sofort mit der Hand hinein, dann mit dem ganzen Gesicht.

»Du bist zum Kotzen!«, rief Paul, als Jacob ihn mit Schokoladenglasur im Gesicht angrinste.

»So etwas darfst du niemals zu deinem Bruder sagen«, sagte Daddy streng.

»Zu meinen Freunden sag ich das doch auch«, verteidigte sich Paul. Sein Gesicht glühte.

»Jacob ist dein Bruder, nicht dein Freund«, sagte Daddy.

Mom sah ihn mit stummem Vorwurf an. Daddys strenger Tonfall war ihm sehr viel lieber als ihr Blick, der wie ein feuchtes Tuch an ihm haftete.

Genau in diesem Augenblick wurde Jacob schläfrig. Sein Kopf baumelte hin und her und sein Mund ging auf. Mom brachte Jacob ins Schlafzimmer, in dem Pauls altes Gitterbett durch ein kleines Sofa ersetzt worden war. Jacob glitt schwerfällig aus ihrem Arm auf die Bettdecke und vergrub sich dann unter ihr wie ein kleines Tier im Wald.

Daddy wischte die Schweinerei weg, die Jacob mit seiner Geburtstagstorte veranstaltet hatte. Grandpa sagte: »Komm, wir gehen ins Naturkundemuseum«, und Paul lief erleichtert los, um seine Jacke zu holen. Er war heilfroh, aus der Wohnung wegzukommen.

Im Museum wartete Grandpa, während Paul sich die gewaltigen Tiere ansah, die vor Millionen von Jahren über die Erde gezogen waren.

Offenbar hatte Grandpa etwas Bestimmtes vor. Sobald Paul mit den Dinosauriern fertig war, führte Grandpa ihn durch eine riesige Halle, in der Elefanten aufmarschierten. Ihre Rüssel waren zu der prächtig verzierten Decke emporgereckt, aber ihr Trompeten war für immer verstummt, so als wäre ihnen ein Zauberer begegnet, der sie in dunkelgrauen Stein verwandelt hatte.

»Hier!«, sagte Grandpa.

Paul sah zu einem hell erleuchteten Kreis hoch, der ziemlich trübes Wasser umschloss. Blätter und Äste und Zweige und insektenförmige Wesen trieben darin.

»Das sind drei Zentimeter Teichwasser, das viele hundert Male vergrößert wurde. Schau auf meine Hand.« Grandpa bildete mit Daumen und Zeigefinger einen Kreis. »Das sind drei Zentimeter«, sagte er. »Und das hier« – er wies auf das Ausstellungsstück hin – »siehst du, wenn du diese drei Zentimeter durch ein Mikroskop betrachtest.«

»Das ist wie ein ganzer, kleiner Teich … ein richtiger kleiner Ort«, sagte Paul.

»Welten innerhalb von Welten«, stellte Grandpa fest. »Je länger du hinschaust, desto mehr siehst du.«

»Wenn man einen von den Zweigen so vergrößert, findet man vielleicht einen ganzen Baum mit vielen Käfern vor«, sagte Paul.

»Ich glaub schon«, sagte Grandpa.

Als Paul am Abend im Bett lag und den Tag Revue passieren ließ, erinnerte er sich ganz besonders an zwei Sachen.

Eine davon war das vergrößerte Teichwasser. Er hatte diese drei Zentimeter ausgiebig betrachtet, und danach hatte er in allem, was er sah, etwas Geheimnisvolles entdeckt: in den Gesichtern von Menschen, an den Vögeln, die gegenüber vom Museum über den Central Park flogen, in den Blüten der Bäume.

Nach einer Weile ließ das jedoch nach und ihm blieb nur noch die zweite Sache. Die bestand darin, dass er irgendwie reingefallen war, als er Jacob, der in seine Geburtstagstorte kroch, zum Kotzen gefunden hatte. Es war nicht nur, dass Daddy ihn so scharf zurechtgewiesen hatte. Einen Augenblick lang hatte Paul vergessen, dass er Jacob vergessen wollte und das schon ganz gut gelernt hatte.