Kapitel 8
Als ich versuchte, meinen verwundeten Gemahl zu Bett zu bringen, mußte ich feststellen, daß er entschlossen war, nach draußen zu gehen. »Ich muß mit den Männern sprechen«, beharrte er. »Sie werden von diesem jüngsten Zwischenfall gehört haben, da kannst du sicher sein, und wenn ich nicht völlig aufrichtig zu ihnen bin …«
»Ich kann dich verstehen«, sagte ich kühl. »Aber wenigstens könntest du dir ein anderes Hemd anziehen, bitte. Dieses hier ist nicht mehr zu gebrauchen. Ich habe dir doch geraten, vor unserer Abreise aus England noch ein Dutzend zu bestellen. Du bist der destruktivste Mensch …«
Bei diesen Worten verließ Emerson überstürzt das Zimmer. Natürlich ging ich hinter ihm her.
Die Männer waren in einem Gebäude untergebracht, das ursprünglich als Lagerschuppen gedacht war. Es befand sich ein Stück von unserem Haus entfernt, und wir hatten es mit allem nötigen Komfort ausstatten lassen. Als wir dort ankamen, sah ich, daß Emerson recht gehabt hatte. Die Männer hatten tatsächlich die Neuigkeiten erfahren und erörterten sie gerade.
Sie starrten Emerson an, als sei er ein Gespenst. Dann erhob sich Abdullah, der beim Feuer gesessen hatte, zu seiner vollen, beeindruckenden Körpergröße.
»Du lebst also«, sagte er, doch die unterdrückte Gefühlsregung, die in seinen Augen aufglomm, strafte seinen ruhigen Ton Lügen. »Wir hatten gehört …«
»Lügen«, sagte Emerson. »Ein Feind hat einen Stein nach mir geworfen. Aber er hat mich nur gestreift.«
Er strich sich die dichten Locken aus der Stirn und zeigte die häßliche Wunde. Im roten Schein des Feuers, das seine kräftige Gestalt beleuchtete, sahen die Blutflecken auf seinem Hemd schwarz aus. Er stand reglos da, die Hand zur Stirn erhoben, und sein Blick war so stolz und ruhig wie der einer Pharaonenskulptur. Die Schatten ließen die Kerbe in seinem Kinn noch tiefer und seine festen Lippen wie schwarz umrandet erscheinen.
Nachdem er ihnen Zeit gelassen hatte, ihn gründlich zu mustern, senkte er die Hand, so daß ihm die schwarzen Locken wieder in die Stirn fielen.
»Die Geister der Toten werfen nicht mit Steinen«, sagte er. »Welcher Mann in Gurneh haßt mich so sehr, daß er mich tot sehen möchte?«
Bei diesen Worten nickten die Männer und wechselten vielsagende Blicke. Es war Abdullah, der mit einem heiteren Blick auf seinem strengen, bärtigen Gesicht antwortete.
»Emerson, es gibt viele Männer in Gurneh und anderswo, die dich so hassen. Der Schuldige haßt den Richter, und das getadelte Kind grollt dem gestrengen Vater.«
»Ihr seid weder schuldige Männer noch Kinder«, erwiderte Emerson. »Ihr seid meine Freunde. Ich bin sofort zu euch gekommen, um zu berichten, was vorgefallen ist. Allah yimmessikum bilkheir.«
Wäre ich wirklich der Ansicht gewesen, daß Emerson im Bett hätte bleiben sollen, hätte ich natürlich auf die eine oder andere Weise dafür gesorgt, daß er auch wirklich dort blieb. Allerdings verfügte er über die denkbar robusteste Gesundheit. Am nächsten Morgen sprang er behende aus dem Bett. Er verschmähte meine Hilfe und klebte sich – jedem Versuch, seine Verletzung zu verbergen, zum Hohn – ein riesiges Stück Heftpflaster auf die Stirn.
Meine Geduld mit ihm war am Ende. Die archaische Szene, die sich zwischen ihm und unseren Männern abgespielt hatte, hatte in mir die entsprechenden archaischen Gefühle wachgerufen; doch als ich selbige gegenüber Emerson zum Ausdruck brachte, erwiderte er, er habe Kopfschmerzen. Das war sicherlich eine akzeptable Entschuldigung, doch ich war trotzdem verärgert.
Natürlich ließ ich mir meine Gefühle mit der mir eigenen Würde nicht anmerken, und als wir uns auf den Weg ins Tal machten, verbesserte sich meine Stimmung. Es war einer jener herrlichen Morgen, wie sie in Oberägypten typisch sind. Die aufgehende Sonne erhob sich majestätisch über den östlichen Bergen, und ihre goldenen Strahlen schienen uns mit liebevollen Armen zu umfangen, so wie die Arme des Gottes Aton den göttlichen König, seinen Sohn, umfingen.
Doch an diesem Tag, der so vielversprechend begonnen hatte, folgte ein Unglück auf das andere. Kaum waren wir am Grab angekommen, stand schon der Imam vor uns. Er fuchtelte drohend mit einem langen Stab und ließ eine leidenschaftliche Tirade gegen uns los, in deren Verlauf er uns mit Tod und Verdammnis drohte und dramatisch auf Emersons verpflasterte Stirn deutete, den jüngsten Beweis dafür, daß der Fluch des Pharaos immer noch wirksam sei.
Emerson mag das abstreiten, doch ich bin überzeugt, daß er derartige Auseinandersetzungen genießt. Mit verschränkten Armen hörte er höflich und gelangweilt zu. Einmal gähnte er sogar. Anstatt den Mann zu unterbrechen, ließ er ihn endlos weiterreden, und schließlich geschah das Unvermeidliche. Als der Imam anfing, sich zu wiederholen und sich das erhoffte Wortgefecht zu einem Monolog entwickelte, zeigten auch die Zuhörer allmählich Anzeichen von Langeweile. Schließlich fielen dem Imam keine Verwünschungen mehr ein, was selbst dem größten Fanatiker irgendwann einmal passieren muß. Nachdem er aufgehört hatte, sich zu ereifern, wartete Emerson noch ein Weilchen ab. Dann sagte er höflich: »War das alles? Heiliger Mann, ich danke Euch für Euer Interesse«, schritt respektvoll an dem aufgebrachten Geistlichen vorbei und stieg ins Grab hinab.
Eine knappe Stunde später kam es zu einer weiteren Störung. Ich hörte aus dem Grab wütendes Geschrei und ging deshalb los, um nachzusehen, was vorgefallen war. Karl und Mr. Milverton standen sich in Kampfhaltung gegenüber. Milverton hatte die Beine gespreizt und die Fäuste erhoben. Karl versuchte, sich aus dem Griff von Emerson, der ihn festhielt, zu befreien und verlangte, losgelassen zu werden, damit er eine nicht näher erläuterte Strafmaßnahme durchführen könne. Eine anschwellende Beule an Karls Kinn zeigte, daß der Kampf nicht allein mit Worten geführt worden war.
»Er hat Miss Mary beleidigt!« schrie Milverton, wobei er in Boxerhaltung verharrte.
Karl erwiderte aufgebracht: Nicht er habe die Dame beleidigt, sondern Milverton. Als er sich dagegen verwahrt habe, habe Milverton ihn geschlagen.
Milvertons sonst eher blasses Gesicht lief rot an, und die Prügelei wäre wohl weitergegangen, hätte Emerson nicht den einen jungen Mann mit eisernem Griff am Oberarm festgehalten und dem anderen die Luft abgeschnürt, indem er ihn am Kragen packte.
»Wie lächerlich!« Mary, die stumm danebengestanden hatte, trat nun vor. Ihre Wangen waren gerötet, und ihre Augen funkelten. Sie sah erstaunlich hübsch aus; und einen Augenblick lang hörten die Männer, einschließlich meines Gatten, auf zu streiten und starrten sie hingerissen an.
»Niemand hat mich beleidigt«, verkündete sie. »Ich schätze Ihre Bemühungen, mich zu verteidigen. Doch Sie benehmen sich sehr kindisch, und ich bestehe darauf, daß Sie sich die Hand reichen und sich wie gute Kameraden wieder vertragen.«
Diese Worte – bei denen sie unter ihren dichten schwarzen Wimpern Karl und Milverton gleichermaßen verführerisch ansah – bewirkten zwar nicht, daß die beiden sich wieder vertrugen, doch sie zwangen sie zu einer Geste der Versöhnung. Mit frostiger Miene reichten sie einander die Fingerspitzen. Mary lächelte. Emerson hob verzweifelt die Hände, und ich kehrte zu meinem Schutthaufen zurück.
Am frühen Nachmittag kam Emerson zu mir herauf.
»Wie läuft’s denn so?« fragte er freundlich und fächelte sich dabei mit seinem Hut zu.
Wir unterhielten uns leise über dieses und jenes, als Emerson plötzlich seinen Blick von mir abwandte. Auf seinem Gesicht vollzog sich eine solch schreckliche Veränderung, daß ich mich bestürzt umdrehte.
Eine bizarre Prozession war im Anmarsch. Die Vorhut bildeten sechs Männer, die auf ihren gebeugten Schultern zwei lange Balken trugen. Darauf ruhte ein kastenförmiges Gebilde, das auf allen Seiten mit Vorhängen verhüllt war. Der Aufbau schwankte bedenklich, da die Träger unter ihrer offensichtlich beträchtlichen Last nur mit größter Mühe vorankamen. Eine Menge von Einheimischen mit Turbanen und langen Gewändern folgte der Erscheinung auf den Fersen.
Unter großer Anstrengung steuerte die Prozession genau auf die Stelle zu, wo wir mit weit aufgerissenen Augen standen. Da sah ich, daß ein Mann in europäischer Kleidung hinter der Sänfte ging. Zwar hatte er sich den Hut in die Stirn gezogen, doch ein paar Locken seines roten Haars lugten hervor und verrieten seine Identität, die er wohl gerne verheimlicht hätte.
Die keuchenden und schwitzenden Träger hielten an und setzten die Tragebalken ab. Leider taten sie das nicht gleichzeitig, so daß die Sänfte kippte und eine korpulente Gestalt hinausrollte, liegenblieb und vor Schmerzen und Schreck laute Schreie ausstieß. Ich hatte bereits vermutet, wer der Passagier in diesem merkwürdigen Fortbewegungsmittel war. Niemand sonst in Luxor hätte versucht, auf solche Art zu reisen.
Madame Berengeria trug ihr Leinengewand, eine plumpe Imitation der exquisiten plissierten Roben, die adelige Damen zur Zeit der Pharaonen zu tragen pflegten. Durch ihren Sturz war dieses Gewand in Unordnung geraten und enthüllte eine wirklich erschreckende Masse fetten, blassen Fleisches. Ihre schwarze Perücke, die von einer Wolke kleiner Insekten umschwirrt wurde, war ihr über die Augen gerutscht.
Emerson stand, die Hände in die Hüften gestemmt, da und starrte auf die sich krümmende Gestalt der Dame. »Los, helfen Sie ihr schon hoch, O’Connell«, sagte er. »Und wenn Sie einen häßlichen Auftritt verhindern wollen, hieven Sie sie wieder in dieses lächerliche Ding und bringen Sie sie weg.«
»Mr. O’Connell hat nicht das Bedürfnis, Auftritte zu verhindern«, sagte ich. »Er führt sie herbei.«
Mein bissiger Kommentar bewirkte, daß der junge Mann seine Fassung wiederfand. Er lächelte und schob sich lässig den Hut in den Nacken.
»Wie unfreundlich, Mrs. Emerson. Könnte mir vielleicht jemand von Ihnen behilflich sein? Ehrlich gesagt, schaffe ich es nicht allein.«
Die Träger hatten sich keuchend und schimpfend auf den Boden gesetzt. Es war klar, daß wir von ihnen keine Hilfe erwarten konnten. Als ich sah, daß Emerson nicht die Absicht hatte, die am Boden liegende Gestalt anzurühren – und das konnte ich ihm wirklich nicht zum Vorwurf machen –, half ich Mr. O’Connell bei dem Versuch, Madame Berengeria auf die Beine zu stellen. Es gelang uns auch, obgleich ich mir dabei wahrscheinlich mehrere Rückenmuskeln zerrte.
Angelockt vom Tumult, kamen auch die anderen aus dem Grab heraufgestiegen. Ich hörte klar und deutlich, wie Mary ein Wort von sich gab, das ich von einem wohlerzogenen englischen Mädchen niemals erwartet hätte.
»Mutter, was um Himmels willen machst du denn hier? Du hättest nicht kommen sollen. Die Sonne – die Anstrengung …«
»Man hat mich gerufen!« Madame Berengeria wischte die Hand ihrer Tochter von sich, die diese ihr auf die Schulter gelegt hatte. »Man hat mir befohlen zu kommen. Die Warnung muß weitergegeben werden. Mein Kind, verlasse diesen Ort!«
»Verdammt«, sagte Emerson. »Halt ihr den Mund zu, Amelia, schnell.«
Natürlich tat ich nichts dergleichen. Der Schaden war nicht mehr abzuwenden. Die gaffenden Touristen, die Einheimischen, die der Sänfte gefolgt waren – alle hörten aufmerksam zu. Madame warf sich in Positur und sprach weiter:
»Es kam über mich, als ich vor dem Schrein des Amon und Serapis, dem Herrn der Unterwelt, meditierte. Gefahr! Verderben! Es war meine Pflicht zu kommen, koste es, was es wolle, um die zu warnen, die das Grab entweihen. Das Herz einer Mutter verlieh einer sterbenden Frau die Kraft, ihrem Kind zu Hilfe zu eilen …«
»Mutter!« Mary stampfte mit dem Fuß auf. So könnte die göttliche Kleopatra ausgesehen haben, als sie sich Cäsar widersetzte – falls man sich Kleopatra in Hemdbluse und saloppem Rock vorstellen kann, mit Tränen der Verlegenheit in den Augen.
Madame Berengeria hielt inne, doch nur, weil alles gesagt war, was sie hatte loswerden wollen. Um ihren bösen kleinen Mund spielte ein selbstzufriedenes Grinsen.
»Es tut mir leid, Mutter«, sagte Mary. »Ich möchte nicht ungezogen sein, aber …«
»Ich vergebe dir«, erwiderte Madame.
»Aber du darfst nicht so reden. Du mußt sofort nach Hause gehen.«
Einer der Träger verstand Englisch. Er ließ einen Aufschrei los und redete in arabisch erregt auf Mary ein. Obgleich seine Tirade mit Flüchen und Klagen gespickt war, war der Kernpunkt sehr einfach. Er habe Rückenschmerzen, seine Freunde hätten Rückenschmerzen; sie könnten die Dame keinen Schritt weiter tragen.
Emerson löste mittels Drohungen und Bestechung das Problem. Nachdem sie den Preis hoch genug getrieben hatten, stellten die Männer auf einmal fest, daß ihre Rückenschmerzen plötzlich verflogen waren. Ohne Umschweife packten wir Madame Berengeria in die Sänfte, wobei wir sie daran hindern mußten, Emerson zu umarmen, den sie liebevoll als Ramses den Großen, ihren Liebhaber und Gatten, titulierte. Mit einem mitleiderregenden Stöhnen machten sich die Männer daran, die Sänfte hochzustemmen. Da erschien zwischen den Vorhängen noch einmal der zerzauste Kopf von Madame. Sie streckte einen Arm heraus und versetzte dem nächstbesten Träger einen Schubs.
»Zum Haus von Lord Baskerville«, sagte sie.
»Nein, Mutter!« rief Mary aus. »Lady Baskerville will nicht … Es wäre unhöflich, sie aufzusuchen, ohne eingeladen zu sein.«
»Ein Liebesdienst bedarf keiner Einladung«, lautete die Antwort. »Ich gehe, den Mantel meines Schutzes über dieses Haus des Blutes zu breiten. Durch Gebet und Meditation werde ich die Gefahr bannen.« Dann, mit einem plötzlichen Wechsel in ihrem pathetischen Ton, fügte sie hinzu: »Ich habe auch deine Sachen mitgebracht, Mary. Du brauchst heute abend nicht mehr nach Luxor zurückzukehren.«
»Du meinst … du meinst, du willst dort bleiben?« Mary rang nach Luft. »Mutter, du kannst doch nicht …«
»Ich habe nicht die Absicht, eine weitere Nacht in jenem Haus zu verbringen, wo ich gestern in meinem Bett fast ermordet wurde.«
»Warum bannen Sie die Gefahr nicht durch Gebet und Meditation?« wollte ich wissen.
Madame Berengeria funkelte mich böse an. »Sie sind nicht die Herrin in Baskerville House. Lady Baskerville selbst soll mich abweisen, wenn sie es kann.« Erneut versetzte sie dem Träger einen Schubs. »Geht – jetzt – Baskerville House.«
»Ist ja auch gleichgültig«, sagte ich leise zu Emerson. »Wenn sie tatsächlich dort einzieht, können wir ein Auge auf sie haben.«
»Was für eine entsetzliche Vorstellung«, meinte Emerson. »Wirklich, Amelia, ich glaube nicht, daß Lady Baskerville …«
»Dann halte sie auf. Ich weiß nicht, wie du das anstellen willst, es sei denn, du fesselst und knebelst sie. Doch wenn du diesen Wunsch verspüren solltest …«
»Ach was!« Emerson verschränkte die Arme. »Ich halte mich aus der ganzen Angelegenheit raus.«
Mary, die vor Scham fast in den Boden versank, hatte es ebenfalls aufgegeben, zu widersprechen. Als Madame Berengeria begriff, daß sie gewonnen hatte, verzog sich ihr Gesicht zu einem verkniffenen krötengleichen Grinsen. Die Prozession machte sich wieder auf den Weg; Mr. O’Connell blieb zurück und stand herum wie ein begossener Pudel.
Emerson platzte fast vor Wut, als er sich zu dem jungen Mann umwandte, doch noch ehe er etwas sagen konnte, kam Mary ihm zuvor.
»Was haben Sie sich dabei gedacht, Kevin? Wie konnten Sie sie auch noch dazu ermutigen?«
»Ach, meine Liebe, ich habe ja alles versucht, sie davon abzuhalten, das ist die Wahrheit. Was hätte ich denn sonst tun sollen, als mitzukommen, um sie zu schützen, falls sie in Schwierigkeiten gerät? Sie glauben mir doch, Mary?«
Er versuchte, sie bei der Hand zu nehmen. Sie verweigerte sie ihm mit einer Geste unbeschreiblicher Verachtung. Tränen des Kummers glänzten in ihren Augen. Sie drehte sich rasch um und ging zum Grab zurück.
In Mr. O’Connells sommersprossigem Gesicht war Enttäuschung zu lesen. Karl und Milverton hatten einen selbstzufriedenen Ausdruck im Gesicht. Gleichzeitig machten sie kehrt und folgten Mary.
O’Connell sah mich an. Er zuckte mit den Schultern und versuchte zu lächeln. »Verschonen Sie mich mit Ihren Kommentaren, Mrs. Emerson. Ich werde bald wieder in ihrer Gunst stehen, keine Sorge.«
»Wenn auch nur ein Wort über diesen Vorfall in den Zeitungen erscheint …«, begann ich.
»Aber was kann ich denn tun?« O’Connell riß die kobaltblauen Augen auf. »Jeder Journalist in Luxor wird bis heute abend von der Sache erfahren haben, wenn sie es nicht schon jetzt wissen. Ich würde meinen Posten verlieren, wenn ich meine persönlichen Gefühle über die Pflicht gegenüber meinen Lesern stellen würde.«
»Sie sollten sich besser aus dem Staub machen«, sagte ich, als ich bemerkte, daß Emerson wie ein Stier vor dem Angriff anfing, mit dem Fuß zu scharren, und knurrende Geräusche von sich gab. Mr. O’Connell grinste mich breit an. Mit Hilfe von Mr. Vandergelt schaffte ich es, meinen Gatten zu entfernen; und nachdem Emerson eine Weile gegrübelt hatte, meinte er bedrückt: »Vandergelt, ich glaube, ich muß Ihr Angebot doch noch annehmen – nicht, um die Damen zu beschützen, sondern um mich vor ihnen in Sicherheit zu bringen.«
»Ich fühle mich sehr geschmeichelt«, sagte der Amerikaner prompt.
Ich kehrte wieder zu meinem Schutthaufen zurück und sah, daß Mr. O’Connell verschwunden war. Während ich mich wieder der eintönigen Aufgabe widmete, den Schutt durchzusieben, überdachte ich eine Idee, die mir während des Gesprächs mit dem jungen Journalisten gekommen war. Es war klar, daß er für den Preis einer guten Geschichte auch gerne Prügel in Kauf nehmen würde, und früher oder später würde Emerson, wenn man ihn entsprechend reizte, ihm diesen Gefallen tun. Wenn wir uns seiner Neugier schon nicht entziehen konnten, konnten wir sie auch zu unserem eigenen Vorteil nutzen, indem wir ihm die Exklusivrechte an unserer Geschichte anboten. Dann hätten wir gleichzeitig unter Kontrolle, was er schrieb. Um diese privilegierte Stellung zu behalten, würde er gezwungen sein, sich unseren Wünschen zu fügen und davon abzulassen, meinen leicht erregbaren Gatten zu ärgern.
Je länger ich über diesen Plan nachdachte, um so brillanter erschien er mir. Ich war versucht, auf der Stelle Emerson davon zu erzählen; da aber seine erste Reaktion auf meine Vorschläge in aller Regel entschieden ablehnend ausfällt, beschloß ich, noch zu warten, bis er die schlechte Laune wegen der jüngsten Begegnung mit Madame Berengeria überwunden hatte.
Später am Nachmittag kam es zu einem besorgniserregenden Vorfall. Ein Teil der freigelegten Decke des Grabgangs stürzte ein und verfehlte einen der Männer nur um Haaresbreite. Das donnernde Geräusch und die Staubwolke, die aus dem Treppenschacht aufstieg, sorgte für Aufregung unter den Schaulustigen; ich lief rasch zum Ort des Geschehens. Durch den aufgewirbelten Staub hindurch erkannte ich – schemenhaft wie ein Dämon in einer Pantomime – Emerson, der sich mit dem Ärmel das Gesicht abwischte und herzhaft fluchte.
»Beim Weitergraben werden wir die Decke abstützen müssen«, erklärte er. »Ich wußte, daß der Fels brüchig ist, aber ich hoffte, daß sich das ändern würde, je weiter wir vorankämen. Leider scheint das Gegenteil der Fall zu sein. Abdullah, schick Daoud und seinen Bruder zum Haus, damit sie Holz und einen Sack Nägel holen. Hol’s der Teufel, das wird die Arbeit noch mehr verlangsamen.«
»Es ist aber notwendig«, sagte ich. »Ein schwerer Unfall zu diesem Zeitpunkt würde die Männer davon überzeugen, daß wir mit einem Fluch belegt sind.«
»Danke für deine zartfühlende Besorgnis«, knurrte Emerson. »Was machst du überhaupt hier unten? Geh zurück an deine Arbeit.«
Offensichtlich war die Zeit noch nicht reif, um über meine Pläne mit Mr. O’Connell zu diskutieren.
Erst bei Einbruch der Nacht ließ Emerson die erschöpften Männer nach Hause gehen. Müde machte sich unser Trüppchen auf den steinigen Rückweg. Ich hatte Mary zu überreden versucht, auf einem Esel den längeren Weg zu reiten, doch sie bestand darauf, uns zu begleiten, und natürlich trotteten die beiden jungen Männer wie Schafe hinter ihr her.
Vandergelt war schon früher aufgebrochen; er wollte sein Gepäck aus dem Hotel holen und danach zum Haus kommen.
Ich war immer noch begeistert von meiner Idee, Mr. O’Connell anzuwerben, doch ich war weise genug, Emerson gegenüber nichts zu erwähnen. Die Hände in den Taschen vergraben und gesenkten Hauptes trottete er mißmutig schweigend dahin. Zusätzlich zu allem übrigen Unglück an diesem Tag war in den letzten Arbeitsstunden etwas entdeckt worden, was nichts Gutes verhieß. Die Männer hatten den Gang auf einer Länge von fast zehn Metern freigeräumt und waren schließlich auf die Abbildung eines Mitglieds der königlichen Familie gestoßen, vermutlich der Besitzer des Grabes; doch leider war der Kopf der Figur böswillig verstümmelt worden, und der königliche Name in der Inschrift darüber war auf ähnliche Weise unkenntlich gemacht. Dieser Beweis, daß das Grab geschändet worden war, schlug uns allen auf die Stimmung. Würden wir, nachdem wir Berge von Stein beiseite geräumt hatten, nur einen leeren Sarkophag vorfinden?
Diese Befürchtung allein hätte schon genügt, das Schweigen und die Niedergeschlagenheit meines Gatten zu rechtfertigen. Und die Aussicht auf eine Begegnung mit Madame Berengeria und Lady Baskerville, deren Laune zweifellos unerfreulich sein würde, bedrückte ihn zusätzlich.
Falls Mary sich wegen der peinlichen Szene, die ihr mit Sicherheit bevorstand, Sorgen machte, ließ sie sich das nicht anmerken. Sie hatte die Plackerei an diesem langen Tag viel besser durchgestanden, als ich das aufgrund ihrer zierlichen Gestalt von ihr erwartet hatte. Sie und die jungen Männer gingen vor uns her, denn Emerson hatte es nicht eilig, und ich hörte, wie sie fröhlich plauderte und sogar lachte. Ich beobachtete, daß sie sich bei Karl untergehakt hatte und die meiste Zeit mit ihm sprach. Milverton, der an ihrer anderen Seite ging, versuchte erfolglos, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Nach einer Weile blieb Milverton stehen und ließ die anderen vorangehen. Als Emerson und ich ihn eingeholt hatten, fiel mir auf, daß er der schlanken Gestalt des Mädchens mit einem gequälten Blick hinterhersah.
Emerson trottete weiter, ohne den untröstlichen jungen Mann auch nur eines Blickes zu würdigen, doch ich hielt es nicht für richtig, solch deutliche Zeichen seelischer Aufwühlung zu mißachten. Deshalb ließ ich meinen Mann vorausgehen und bat Milverton, wobei ich seinen Arm nahm, mir behilflich zu sein. Ich habe keine Skrupel, fälschlicherweise den Eindruck weiblicher Schwäche zu erwecken, wenn die Situation es erfordert.
Milverton verhielt sich wie ein Gentleman. Eine Weile gingen wir schweigend nebeneinander her, doch dann suchte sein gekränktes Herz, wie ich es erwartet hatte, Erleichterung in einem Gespräch.
»Was findet sie nur an ihm?« platzte er heraus. »Er ist unansehnlich, pedantisch und mittellos!«
Ich war versucht, über diesen vernichtenden Katalog von Unzulänglichkeiten zu lachen. Statt dessen jedoch seufzte ich und schüttelte den Kopf.
»Ich fürchte, sie ist ein herzloses, kokettes Mädchen, Mr. Milverton.«
»Ich bin da leider nicht Ihrer Meinung«, erwiderte Mr. Milverton aufgeregt. »Sie ist ein Engel.«
»Sie ist sicherlich so schön wie ein Engel«, stimmte ich freundlich zu.
»Ja, das ist sie, das ist sie! Sie erinnert mich an diese ägyptische Königin, wissen Sie nicht! – Ich habe den Namen vergessen …«
»Nefertiti?«
»Ja, so heißt sie. Und ihre Gestalt … Sehen Sie nur, wie anmutig sie geht.«
Ich konnte nicht viel erkennen, denn die Dämmerung war bereits weit fortgeschritten, und als mir auffiel, wie sich das Halbdunkel auf die Landschaft senkte, beschlich mich erneut Unruhe. Bei Tageslicht war der Weg schon schwierig genug; in der Dunkelheit würde der Abstieg durch die Felsen nicht einfach werden. Außerdem bot die Nacht Feinden eine gute Tarnung. Ich hoffte nur, daß Emersons Starrsinn uns nicht einen Unfall oder Schlimmeres bescheren würde. Ich klammerte mich noch fester an Milvertons Arm und beschleunigte meinen Schritt. Wir waren weit hinter die anderen zurückgefallen, und Emersons Gestalt war nur noch schemenhaft vor dem Hintergrund der aufgehenden Sterne zu erkennen.
Milverton hörte nicht auf, Mary abwechselnd überschwenglich zu preisen und zu tadeln. Ich bezwang meine Besorgnis und versuchte, ihn zu einer vernünftigeren Betrachtungsweise zu bewegen.
»Vielleicht zweifelt sie an Ihren Absichten, Mr. Milverton. Sie sind, wie ich vermute, doch die eines ehrenwerten Gentleman?«
»Sie verletzen mich unsäglich, Mrs. Emerson«, stieß der junge Mann hervor. »Meine Gefühle sind so tief, so lauter …«
»Warum legen Sie sie dann nicht der Frau gegenüber offen, an die sie sich richten? Haben Sie um ihre Hand angehalten?«
Milverton seufzte. »Wie könnte ich denn? Was hätte ich ihr denn zu bieten, in meiner Lage …«
Er hielt inne und rang nach Atem.
Ich glaube, daß mir selbst für einen Augenblick der Atem stockte, als mir die Bedeutung dieser verräterischen Pause dämmerte. Hätte er seinen Satz mit jenem Wort beendet oder ihn in bedrücktem Schweigen und Ungewißheit ausklingen lassen, wäre ich wohl davon ausgegangen, daß er auf seine untergeordnete Position, seine Jugend und seinen Mangel an finanzieller Sicherheit anspielte. Mit meinen detektivischen Instinkten – Folge natürlicher Begabung wie auch meiner gewiß nicht unbeträchtlichen Erfahrung – folgerte ich jedoch sofort, was es mit diesem Seufzer in Wirklichkeit für eine Bewandtnis hatte. Im tröstlichen Schutz der Dunkelheit und unter dem beruhigenden Einfluß weiblicher Anteilnahme hatte seine Wachsamkeit nachgelassen. Er stand kurz davor, ein Geständnis abzulegen!
Der detektivische Instinkt drängt, wenn er voll erwacht, unbarmherzig alle zarteren Gefühle in den Hintergrund. Obgleich es mir unangenehm ist, muß ich zugeben, daß meine folgenden Worte nicht von Anteilnahme, sondern von Arglist bestimmt waren. Ich war entschlossen, seinen Schutzwall zu durchbrechen und ihm ein Geständnis zu entlocken.
»Ihre Lage ist schwierig«, sagte ich. »Doch ich weiß, daß Mary zu Ihnen halten wird, wenn sie Sie liebt. Jede richtige Frau würde das tun.«
»Würde sie das? Würden Sie das?« Noch bevor ich antworten konnte, wandte er sich mir zu und packte mich bei den Schultern.
Ich gestehe, daß ein leichter Argwohn meinen detektivischen Eifer dämpfte. Inzwischen war es völlig dunkel, und Milvertons hochgewachsene Gestalt ragte vor mir auf wie ein gespenstisches Geschöpf der Nacht. Ich spürte seinen heißen Atem auf meinem Gesicht und fühlte, wie sich seine Finger schmerzhaft in mein Fleisch gruben. Mir kam der Gedanke, daß ich möglicherweise einem kleinen Trugschluß erlegen war.
Noch ehe ich mich hinreißen ließ, etwas so Dummes zu tun wie um Hilfe zu rufen oder mit meinem Sonnenschirm auf Mr. Milverton einzuschlagen, erhellte ein silbriges Licht die Dunkelheit; der Mond, nahezu voll gerundet, erhob sich über den Klippen. Ich hatte vergessen, daß dieses Ereignis zwangsläufig eintreten mußte, denn in Luxor ist der Himmel fast nie bewölkt. In diesen südlichen Gefilden ist das Licht des Mondes so klar und rein, daß man bei seinem Schein ein Buch lesen könnte; doch wer würde schon seinen Blick auf ein lebloses Blatt Papier heften, wenn eine zauberhafte Landschaft aus Schatten und Silber vor einem liegt? Mondschein im alten Theben! Oft schon und aus gutem Grund ist das Stoff für literarische Meisterwerke gewesen!
Meine unbeholfene Feder, geleitet von einem Verstand, der mehr für kühle Vernunft als für Poesie empfänglich ist, (doch dürfen Sie nicht glauben, die Poesie ließe ihn gänzlich unberührt) … meine unbeholfene Feder, wollte ich sagen, wird nicht versuchen, sich mit den Ergüssen begnadeterer Autoren zu messen. Um deshalb wieder zur Sache zu kommen: Dank des Lichts konnte ich Mr. Milverton, der mich aus nächster Nähe anstarrte, ins Gesicht blicken. Gehörig erleichtert stellte ich fest, daß auf seinen schönen Zügen ein ängstlicher und bekümmerter Ausdruck lag, jedoch keine Spur von Wahnsinn, wie ich befürchtet hatte.
Eben dieses Licht erlaubte es ihm, mein Gesicht zu sehen, das wohl mein Unbehagen verriet. Sogleich ließ er von mir ab.
»Vergeben Sie mir. Ich … ich bin nicht ganz bei mir, Mrs. Emerson, wirklich, ich bin nicht ganz bei mir. Ich glaube, in diesen letzten Wochen muß ich mich wie ein Verrückter aufgeführt haben. So kann es nicht weitergehen. Ich muß reden. Darf ich Ihnen mein Herz ausschütten? Kann ich Ihnen vertrauen?«
»Das können Sie!« rief ich.
Der junge Mann holte tief Luft, richtete sich zu voller Größe auf und reckte die Schultern. Er hob an zu sprechen.
Just in diesem Augenblick hallte ein langgezogener Schrei durch die Steinwüste. Eine Sekunde lang glaubte ich schon, Mr. Milverton hätte aufgeheult wie ein Werwolf. Doch er war ebenso verblüfft wie ich; und auf einmal begriff ich, daß die besonderen akustischen Gegebenheiten in diesem Gelände einen Laut zu uns hinübergetragen hatten, dessen Quelle in einiger Entfernung lag, so daß der Eindruck entstand, er komme ganz aus der Nähe. Der Mond war inzwischen ganz aufgegangen, und als ich mich nach dem Ursprung dieses unheimlichen Schreis umblickte, bot sich mir ein beängstigender Anblick.
Quer über die Ebene kam Emerson herangestürmt, wobei er im Sprung über Felsbrocken und Gesteinsspalten setzte. Seine rasende Gestalt, die eine silbrig glänzende Staubwolke hinter sich aufwirbelte, und seine schauerlichen Schreie hätten in Verbindung mit der nebligen Aura, die ihn umgab, ein abergläubisches Herz in Angst und Schrecken versetzt. Er jagte zwar in unsere Richtung, doch kam er dabei immer weiter von unserem Pfad ab. Also schwenkte ich meinen Sonnenschirm und lief ihm entgegen, wobei ich einen Weg nahm, der den seinen kreuzen mußte.
Es gelang mir, ihn abzufangen, denn ich hatte den Schnittpunkt unserer beider Wege richtig berechnet. Da ich ihn nur zu gut kannte, versuchte ich gar nicht erst, ihn durch eine Berührung oder mit sanftem Griff aufzuhalten. Statt dessen warf ich mich mit meinem ganzen Körpergewicht gegen ihn, so daß wir beide zu Boden stürzten. Wie ich geplant hatte, lag Emerson unter mir.
Nachdem er wieder zu Atem gekommen war, hallte die in Mondlicht getauchte Landschaft erneut von seinem Gebrüll wider, das nun jedoch gänzlich irdisch klang und fast ausschließlich mir galt. Ich machte es mir auf einem Stein bequem und wartete, bis er sich wieder beruhigt hatte.
»Das ist zuviel«, meinte er und setzte sich auf. »Nicht nur, daß jeder Nörgler und religiöser Eiferer in Luxor es auf mich abgesehen hat, nun wendet sich auch noch meine eigene Frau gegen mich. Ich habe jemanden verfolgt, Amelia – ich war ihm ganz nah auf den Fersen! Ich hätte den Schurken erwischt, wenn du dich nicht eingemischt hättest.«
»Ich versichere dir, das hättest du nicht«, sagte ich. »Außer dir war niemand zu sehen. Zweifellos hat er sich zwischen die Felsen verkrochen, während du schreiend herumgerast bist. Wer war es?«
»Habib vermutlich«, erwiderte Emerson. »Ich habe bloß flüchtig einen Turban und ein flatterndes Gewand gesehen. Hol’s der Teufel, Amelia, ich hätte fast …«
»Und ich wäre beinahe zu Mr. Milvertons Beichtmutter geworden«, sagte ich mit gehöriger Erbitterung in der Stimme. »Er war kurz davor, mir das Verbrechen zu gestehen. Ich wünschte nur, du würdest endlich lernen, diesen jugendlichen Überschwang im Zaum zu halten, der dich dazu verleitet, erst zu handeln und dann erst …«
»Das schlägt doch dem Faß den Boden aus!« schrie Emerson. »Überschwang ist noch viel zu freundlich für den unausrottbaren Dünkel, der dich glauben läßt, du …«
Bevor er diese beleidigende Bemerkung zu Ende führen konnte, stießen unsere Begleiter zu uns. Aufgeregte Fragen und Erklärungen folgten. Dann machten wir uns wieder auf den Weg, wobei Emerson widerstrebend einräumte, daß es sinnlos sei, die Verfolgung eines Menschen fortzusetzen, der schon längst verschwunden war. Er setzte sich an die Spitze unseres Zugs, wobei er sich die Hüfte rieb und demonstrativ hinkte.
Erneut fand ich mich an Mr. Milvertons Seite. Als er mir den Arm bot, sah ich, daß er nur mühsam ein Lächeln unterdrücken konnte.
»Ich habe wider Willen einen Teil Ihrer Unterhaltung mit angehört«, begann er.
Ich versuchte, mich zu erinnern, was ich gesagt hatte. Mir fiel ein, daß ich von einem Geständnis gesprochen hatte. Doch aus Milvertons weiteren Worten ging, wie ich erleichtert feststellte, hervor, daß er diesen Teil des Gesprächs nicht gehört hatte.
»Ich möchte ja nicht unverschämt sein, Mrs. Emerson, doch das Verhältnis zwischen Ihnen und dem Professor fasziniert mich. War es wirklich notwendig, ihn zu Boden zu stoßen?«
»Natürlich. Nichts außer körperlicher Gewalt kann Emerson bremsen, wenn er in Wut gerät, und wenn ich ihn nicht aufgehalten hätte, wäre er solange weitergerannt, bis er über einen Felsabhang gestürzt oder mit dem Fuß in einer Spalte steckengeblieben wäre.«
»Ich verstehe. Er schien Ihre Besorgnis um seine Sicherheit nicht – äh – zu schätzen.«
»Ach, das ist so seine Art«, sagte ich. Emerson, der immer noch unbeholfen und nicht sehr überzeugend humpelte, war nicht weit vor uns, doch es fiel mir nicht ein, deswegen leiser zu sprechen. »Wie alle Engländer hat er Hemmungen, in der Öffentlichkeit seine wahren Empfindungen zu zeigen. Privat jedoch, versichere ich Ihnen, ist er der zärtlichste und liebevollste …«
Das war zuviel für Emerson; er drehte sich um und rief: »Beeilt euch, ihr beiden. Warum trödelt ihr so herum?«
Reichlich verärgert gab ich endgültig die Hoffnung auf, daß Milverton mich noch einmal ins Vertrauen ziehen würde. Als wir den kurvigen und gefährlichen Weg hinabstiegen, ergab sich keine Gelegenheit zu einem privaten Gespräch. Wir waren nur noch ein kurzes Stück vom Haus entfernt und konnten die Lichter bereits hinter den Palmen sehen, als Mr. Vandergelt zu uns stieß, der sich, beunruhigt über unsere Verspätung, auf die Suche nach uns begeben hatte.
Als wir den Hof betraten, ergriff Milverton meine Hand.
»Haben Sie es wirklich ernst gemeint?« flüsterte er. »Sie haben mir versichert …«
Ein Flämmchen flackerte aus der ersterbenden Glut der Hoffnung auf.
»Jedes Wort war ernst gemeint«, flüsterte auch ich. »Vertrauen Sie mir.«
»Amelia, was tuschelst du da?« fragte Emerson gereizt. »Beeil’ dich gefälligst.«
Ich nahm meinen Sonnenschirm fest in den Griff, und es gelang mir, ihn nicht damit zu schlagen.
»Ich komme schon«, erwiderte ich. »Geh du nur voraus.«
Wir waren fast schon an der Tür, da hörte ich, wie jemand mir zuflüsterte: »Um Mitternacht; in der Loggia.«
Sobald wir im Haus waren, stürmte Emerson wie von wilden Furien gehetzt in Richtung unseres Zimmers, und wirklich, der entfernte Klang einer durchdringenden Stimme, die Madame Berengeria gehören konnte, war ein verständlicher Grund für seine Flucht. Als ich unser Gemach betrat, fing er an, zu stöhnen und zu zucken. Er zeigte mir einen großen Flecken aufgeschürfter, blutunterlaufener Haut und warf mir vor, daran schuld zu sein.
Ich schenkte diesem kindischen Schauspiel keinerlei Aufmerksamkeit.
»Emerson«, rief ich ungeduldig, »du wirst nie erraten, was passiert ist. Trotz deiner dummen Einmischung …« An dieser Stelle begann er, mir Vorhaltungen zu machen. Ich aber erhob die Stimme und fuhr fort: »Ich habe Mr. Milvertons Vertrauen gewonnen. Er wird gestehen!«
»Schön, brüll doch noch ein bißchen lauter«, sagte Emerson. »Es gibt ein paar Leute im Haus, die es noch nicht gehört haben.«
Die Rüge war berechtigt, doch unfein formuliert. Ich senkte meine Stimme zu einem Flüstern. »Er ist völlig verstört, Emerson. Ich bin sicher, es war kein vorsätzlicher Mord. Zweifellos hatte er keine andere Wahl.«
»Hmmm.« Emerson stellte sich auf eine Matte, zog sein Hemd aus und begann, sich mit einem Schwamm abzuwaschen. »Was genau hat er gesagt?«
»Du nimmst das so gelassen auf«, rief ich. Ich nahm ihm den Schwamm aus der Hand und wusch ihm Sand und Staub vom Rücken. »Er hatte nicht die Gelegenheit, mir Einzelheiten zu erzählen. Das kommt später. Ich werde mich mit ihm um Mitternacht treffen, in …«
»Du hast wohl den Verstand verloren«, sagte Emerson. Seine Stimme war nun ruhiger, und als ich mit dem Schwamm rhythmisch über seine harten Rückenmuskeln strich, gab er vor Wonne ein albernes leises Schnurren von sich. »Glaubst du wirklich, meine liebe Peabody, daß ich dich losgehen lasse, damit du dich mitten in der Nacht mit einem Mörder triffst?«
»Ich habe alles genau geplant«, erwiderte ich und nahm statt des Schwamms ein Handtuch. »Du wirst dich in der Nähe verstecken.«
»Nein, das werde ich nicht«, sagte Emerson. Er nahm das Handtuch und trocknete sich hastig ab. »Ich verbringe die Nacht am Grab, und du wirst dich in diesem Zimmer einschließen und drin bleiben.«
»Was sagst du da?«
»Wir sind jetzt schon fast bis ans Ende des Gangs vorgedrungen. Noch ein oder zwei Tage, und er ist freigeräumt. Ein paar entschlossene Diebe können, wenn sie flink arbeiten, in wenigen Stunden einen Tunnel hindurch graben.«
Ich fragte nicht, woher er wußte, daß das Ende des Gangs in Reichweite war. Beruflich gesehen ist Emerson der größte Archäologe dieses Jahrhunderts – und vielleicht sogar aller Zeiten. Nur im Hinblick auf die alltäglichen Aspekte des Lebens legt er das übliche Maß männlicher Inkompetenz an den Tag.
»Aber unsere Männer halten doch Wache, oder etwa nicht?« fragte ich.
»Zwei Männer, die mittlerweile so verängstigt sind, daß sie sich vor dem Heulen eines Schakals verkriechen würden. Außerdem könnten zwei Männer einer Überzahl von Gegnern nicht standhalten. Die Gurnawis haben schon früher Archäologen angegriffen.«
»Also willst du dich ihnen selbst als Opfer anbieten?«
»Sie werden es nicht wagen, einen Engländer anzugreifen«, erwiderte Emerson triumphierend.
»Ha!« entgegnete ich. »Ich kenne den wahren Grund, warum du dich davonmachen willst. Du fürchtest dich vor Madame Berengeria.«
»Lächerlich.« Emerson lachte gekünstelt. »Wir wollen uns nicht streiten, Peabody. Warum ziehst du nicht dieses staubige Kostüm aus? Es muß dir ja heiß und unbequem sein.«
Ich wich behende zurück, als er die Hände nach mir ausstreckte. »Diese Methode funktioniert nicht, Emerson. Und zieh dir doch etwas über. Wenn du meinst, der Anblick deines, wie ich zugebe, muskulösen und wohlgeformten Körpers könnte mich von meiner selbstverständlichen Pflicht abbringen …«
Dieses Mal war es nicht Emerson, der mich unterbrach, obgleich er sich mir unverkennbar in dieser Absicht näherte. Ein Klopfen an der Tür bewirkte, daß er hastig nach seiner Hose griff; eine Stimme verkündete, Lady Baskerville wünsche uns zu sehen.
Während ich mich wusch und umzog, hatten sich die anderen schon im Salon versammelt. Die Atmosphäre dort erinnerte weniger an eine gesellschaftliche Zusammenkunft als an einen Kriegsrat. Erfreut stellte ich fest, daß Madame Berengeria wieder in einen Zustand der Benommenheit versunken war, und der starke Brandydunst, der um sie schwebte, überraschte mich nicht im geringsten. Schläfrig lächelte sie Emerson zu, war aber ansonsten nicht fähig, zu sprechen oder sich zu bewegen.
Da ihn der Zusammenbruch von Madame von seiner größten Sorge befreit hatte, trug Emerson seine Absichten und Pläne so entschieden vor wie gewöhnlich. Lady Baskerville stieß einen Klagelaut aus.
»Nein, Radcliffe, Sie dürfen sich nicht in Gefahr begeben. Lieber soll das ganze Grab verwüstet werden, als daß Ihnen auch nur ein Haar gekrümmt wird.«
Diese idiotische Äußerung, die mir einen scharfen Tadel eingetragen hätte, zauberte einen verzückten Ausdruck auf Emersons Gesicht. Er tätschelte die weiße Hand, die sich an seinen Ärmel klammerte.
»Es besteht nicht die geringste Gefahr, das versichere ich Ihnen.«
»Da haben Sie vermutlich recht«, meinte Vandergelt, dem diese Zurschaustellung von Besorgnis durch die Dame gar nicht gefallen hatte. »Wie dem auch sei, ich glaube, ich werde einfach mit Ihnen kommen, Professor. Zwei Pistolen sind besser als eine, und ein Mann fühlt sich sicherer, wenn ihm ein Kumpel den Rücken deckt.«
Doch bei diesen Worten schrie Lady Baskerville noch ängstlicher auf. Ob sie sie denn der Gnade dieser gespenstischen Gestalt ausliefern wollten, die bereits einen Mann getötet und einen Mordanschlag auf Emerson verübt hatte? Vandergelt, an den sie sich nunmehr klammerte, schien für ihr Laienspiel ebenso empfänglich zu sein wie mein Gatte.
»Sie hat recht, denke ich«, sagte er in besorgtem Ton. »Wir können die Damen nicht ohne Schutz zurücklassen.«
Daraufhin erklärten sowohl Milverton als auch Karl ihre Bereitschaft, zu Diensten zu sein. Schließlich wurde entschieden, daß Karl Emerson bei der Bewachung des Grabes unterstützen sollte. Emerson brannte so sehr darauf, endlich aufzubrechen, daß er nicht einmal zu Abend essen wollte. Also wurde ein Picknickkorb zurechtgemacht, und die beiden Männer bereiteten sich auf den Abmarsch vor. Obwohl Emerson sich bemühte, mir aus dem Weg zu gehen, gelang es mir, ihn für einen Augenblick beiseite zu nehmen.
»Emerson, es ist unbedingt notwendig, daß ich mit Mr. Milverton spreche, solange ihn das schlechte Gewissen plagt. Vielleicht beschließt er schon morgen, alles eiskalt abzuleugnen.«
»Amelia, es besteht nicht das geringste Anzeichen dafür, daß Milverton ein Geständnis ablegen will. Entweder ist diese Zusammenkunft eine Falle – und falls das zutrifft, wäre es unendlich dumm von dir, hineinzutappen –, oder es handelt sich, was ich eher vermute, um ein Gespinst deiner blühenden Phantasie. Jedenfalls verbiete ich dir, heute nacht das Haus zu verlassen.«
Sein ernster, ruhiger Tonfall beeindruckte mich nachhaltig. Dennoch hätte ich etwas entgegnet, wenn er mich nicht plötzlich in die Arme geschlossen und mich fest an sich gedrückt hätte, ohne auf Mary zu achten, die auf dem Weg zu ihrem Zimmer den Hof überquerte.
»Tu nur einmal in deinem Leben, was ich dir sage, Peabody! Wenn dir irgend etwas geschieht, bringe ich dich um!«
Nach einer leidenschaftlichen Umarmung, die mir einen Augenblick lang den Atem raubte, ging er. Kurz darauf hörte ich, wie er Karl zurief, er solle sich beeilen.
Ich lehnte mich an die Mauer, hielt mir die gequetschten Rippen und versuchte, die Gefühle in den Griff zu bekommen, die sein zärtlicher Abschied in mir aufgewühlt hatte. Eine Hand berührte mich sanft an der Schulter. Mary stand neben mir.
»Machen Sie sich um ihn keine Sorgen, Mrs. Emerson. Karl wird auf ihn achten; er verehrt den Professor sehr.«
»Ich mache mir überhaupt keine Sorgen, danke.« Unauffällig führte ich mir mein Taschentuch ans Gesicht. »Himmel, wie ich schwitze. Es ist sehr heiß hier.«
Das Mädchen legte den Arm um meine Schulter. »Es ist tatsächlich sehr warm«, stimmte sie zu. »Kommen Sie, gehen wir wieder in den Salon.«
Der Abend war einer der unangenehmsten, die ich je erlebt habe. Lady Baskerville konzentrierte ihren unleugbaren Charme auf Mr. Vandergelt. Milverton schwieg trübsinnig vor sich hin und wich meinen Blicken aus. Man hatte zwar Madame Berengeria auf ihr Zimmer geführt, doch ihre Anwesenheit hier im Haus schien wie ein gewaltiger, bedrohlicher Schatten über uns zu schweben. Doch vor allem war es ein Gedanke, der jedes Wort trübte und mir jeden Bissen im Mund vergällte – der Gedanke, daß Emerson am Grab Wache hielt, ungeschützt den Unholden ausgeliefert, die es bekanntlich auf sein Leben abgesehen hatten. Selbst wenn es keine weiteren Feinde gegeben hätte – und ich war mir sicher, daß es welche gab –, so hatte allein schon der bösartig gesinnte Habib ein zweifaches Motiv für einen Überfall, nämlich Geldgier und Rache.
Die Tischgesellschaft ging schon bald auseinander. Es war erst zehn Uhr, als ich mich zu Bett legte und das Moskitonetz befestigte. Der Gedanke, daß mein Gatte in Gefahr schwebte, hatte mich so zermürbt, daß ich fast schon bereit gewesen wäre, mich seiner letzten Anordnung zu fügen. Doch ich konnte einfach nicht einschlafen. Ich beobachtete den geheimnisvollen Weg, den das Mondlicht auf den Fußboden zeichnete, und nach einer Weile lockte es mich wie eine Straße, die in fremde, unbekannte Gefilde führt. Ich mußte ihr ganz einfach folgen.
Ich stand auf. Vorsichtig öffnete ich die Tür.
Die träumerische Stille der Nacht wurde nur vom Schwirren nächtlicher Insekten und vom traurigen Heulen der Schakale in den weit entfernten Hügeln gestört. Das ganze Haus lag in Schlaf versunken. Ich wartete und spähte hinaus; nach einiger Zeit sah ich, wie die dunkle Gestalt eines Mannes leise über den Hof ging. Nach Hassans Tod hatte Emerson einen unserer eigenen Männer zum Wachestehen abkommandiert.
Da ich nicht beabsichtigt hatte, diesen Weg zu nehmen, war ich nicht im geringsten entmutigt, schloß leise die Tür und kleidete mich an. Ich spähte noch einmal hinaus, um sicherzugehen, daß alles ruhig war und der Wächter sich noch im Hof befand. Dann trat ich ans Fenster.
Ich hatte ein Knie bereits auf der Fensterbank und wollte gerade den zweiten Fuß nachziehen, als plötzlich eine dunkle Gestalt vor mir aufragte und eine vertraute Stimme in arabisch flüsterte: »Hat die Sitt einen Wunsch? Ihr Diener wird es ihr bringen.«
Hätte ich mich nicht an der Fensterbank festgehalten, wäre ich rückwärts hinabgefallen. Ich faßte mich wieder und kletterte ganz hinauf.
»Die Sitt möchte aus dem Fenster steigen, Abdullah«, erwiderte ich. »Reich mir die Hand oder geh mir aus dem Weg.«
Die große Gestalt des Vorarbeiters rührte sich nicht. »Efreets und Schurken spuken in der Dunkelheit«, sagte er. »Die Sitt sollte besser wieder zu Bett gehen.«
Ich sah, daß sich eine Diskussion nicht vermeiden ließ, setzte mich deshalb und ließ die Beine baumeln. »Warum bist du nicht mit Emerson gegangen, um ihn zu beschützen?«
»Emerson ließ mich hier, um den Schatz zu bewachen, der ihm mehr wert ist als das Gold des Pharaos.«
Ich bezweifelte, daß Emerson diese Worte gewählt hatte – obgleich er sich auf arabisch reichlich blumig ausdrückte. Meine Gewissensbisse deswegen, weil ich seiner Anordnung nicht gefolgt war, waren völlig verflogen. Er hatte mir nicht getraut!
»Hilf mir hinunter«, sagte ich und streckte die Hände aus.
Abdullah stöhnte auf. »Sitt Hakim, bitte laß das. Emerson wird meinen Kopf auf eine Stange pflanzen, wenn dir ein Schaden zustößt.«
»Wie kann mir ein Schaden zustoßen, wenn du mich beschützt? Ich werde nicht weit weg gehen, Abdullah. Ich möchte, daß du mir folgst, dich dabei aber nicht sehen läßt, und dich dann hinter einem Busch oder Baum versteckst, wenn ich die Loggia erreicht habe.«
Ich ließ mich auf den Boden hinab. Abdullah schüttelte verzweifelt den Kopf, aber er wußte, daß der Versuch, mich aufzuhalten, keinen Sinn hatte. Als ich durch das Gebüsch schlich, wobei ich die vom Mondlicht erhellten Stellen zu vermeiden suchte, wußte ich, daß er mir folgte, obgleich ich keinerlei Geräusch vernahm. Denn trotz seiner Größe konnte sich Abdullah wie ein körperloser Geist bewegen, wenn es nötig war.
Ich bog um die Ecke des Hauses und sah die Loggia vor mir. Die helle Farbe der Pfeiler sah in dem unheimlichen Licht seltsam verändert aus. Das Innere lag in tiefem Schatten. Ich erkannte die Umrisse der weißen Korbstühle und Tische, entdeckte aber nirgends eine menschliche Gestalt. Ich hielt inne und sagte ganz leise: »Warte hier, Abdullah. Mach keinen Lärm und misch dich nicht ein, es sei denn, ich rufe um Hilfe.«
Ich schlich weiter. Auch wenn Emerson mir oft mangelnde Vorsicht vorwirft, war mir doch sehr wohl klar, daß ich nicht einfach drauflosgehen durfte. Ich wollte im Schutze eines Pfeilers erst einmal die Lage sondieren, bevor ich mich zeigte.
Emersons Behauptung, dieses mitternächtliche Rendezvous sei ein reines Hirngespinst, war natürlich lächerlich. Durch kühle Überlegung kam ich jedoch zu dem Schluß, daß ich nicht absolut sicher sein konnte, ob Milverton beabsichtigte, den Mord an Lord Baskerville zu gestehen. Vielleicht wollte er mir bloß irgendwelche, weniger interessante Informationen mitteilen oder sich – welch unangenehmer Gedanke – meiner Anteilnahme, während er über Mary sprach, versichern. Junge Männer leiden gewöhnlich an der Wahnvorstellung, die ganze Welt sei an ihren Liebesaffären interessiert.
Ein Schaudern durchfuhr mich, als ich am anderen Ende der Loggia die rotglühende Spitze einer Zigarre entdeckte. Ich trat aus meinem Versteck und schlich vorsichtig in diese Richtung.
»Mrs. Emerson!« Milverton erhob sich und drückte die Zigarre aus. »Sie sind also doch gekommen. Gott segne Sie.«
»Sie müssen Augen wie eine Katze haben«, sagte ich verdrossen, weil es mir nicht gelungen war, mich ihm unbemerkt zu nähern.
Wir unterhielten uns im Flüsterton. »Mein Gehör ist außergewöhnlich gut ausgeprägt«, erwiderte er. »Ich hörte Ihr Kommen.«
Ich setzte mich. Milverton folgte meinem Beispiel und wählte den Stuhl neben mir. Die kühle Brise rüttelte an den Weinreben, die sich wie grüne Arme um die Pfeiler rankten.
Eine Weile sprach keiner von uns ein Wort. Ich fürchtete, in dieser delikaten Situation das Falsche zu sagen, und schwieg deshalb.
Milverton rang mit seinen Ängsten und seinem Schuldgefühl. Zumindest hoffte ich, daß er aus diesem Grund schwieg und nicht deshalb, weil er über die schnellstmögliche Weise, mich zu beseitigen, nachdachte. Wenn er mich an der Gurgel packte, konnte ich nicht Abdullah zu Hilfe rufen. Ich wünschte, ich hätte meinen Sonnenschirm dabeigehabt.
Milvertons erste Bemerkung war nicht dazu angetan, meine Befürchtungen zu zerstreuen. »Sie sind eine couragierte Frau, Mrs. Emerson«, sagte er in bedrohlichem Ton. »Allein hierher zu kommen, mitten in der Nacht, nach einem mysteriösen Todesfall und einer Serie merkwürdiger Vorfälle.«
»Das war ziemlich dumm von mir«, gab ich zu. »Ich fürchte, daß übersteigertes Selbstvertrauen einer meiner Fehler ist. Emerson macht mir das häufig zum Vorwurf.«
»Ich hatte nicht die Absicht, etwas so Beleidigendes anzudeuten«, stieß Milverton hervor. »Ich würde eher meinen, daß Ihre Entscheidung auf einer profunden Kenntnis der menschlichen Natur beruht und auf weiblicher Anteilnahme.«
»Nun, wenn Sie es so nennen …«
»Und Sie haben recht«, fuhr Milverton fort. »Sie haben meinen Charakter richtig beurteilt. Ich bin schwach und dumm, aber nicht verschlagen, Mrs. Emerson. Von mir droht Ihnen keine Gefahr. Ich bin nicht fähig, eine Frau zu verletzen – oder genau gesagt, irgend jemanden zu verletzen. Und Ihr Vertrauen zu mir hat Sie in meiner Wertschätzung sehr gehoben. Ich würde mein Leben geben, um Sie zu schützen.«
»Hoffen wir, daß sich diese Notwendigkeit nicht ergibt«, sagte ich. Obgleich ich mich wieder sicher fühlte, verspürte ich eine gewisse Lustlosigkeit. Diese Worte klangen nicht wie der Auftakt zu einem Mordgeständnis. »Doch«, fuhr ich fort, »ich weiß Ihr Angebot zu schätzen, Mr. Milverton. Es ist bereits sehr spät. Darf ich Sie bitten, mir zu sagen … was ist es, was Sie mir mitteilen wollten?«
Der Mann neben mir, von dem in der Dunkelheit nur eine vage Kontur zu erkennen war, gab einen merkwürdigen unterdrückten Ton von sich, der vielleicht ein Lachen war. »Sie haben den Kernpunkt meines Geständnisses berührt, Mrs. Emerson. Sie haben mich mit einem Namen angesprochen, der nicht mein eigener ist.«
»Wer sind Sie dann?« fragte ich überrascht.
»Ich bin Lord Baskerville«, lautete seine verblüffende Antwort.