DREIUNDZWANZIG

Damen wohnt in einer geschlossenen Wohnanlage. Ein Detail, das Riley mir nicht mitgeteilt hat. Wahrscheinlich erschien es ihr nicht besonders wichtig, weil schwere Eisentore und uniformierte Wachleute jemanden wie sie niemals aufhalten können. Allerdings kann dergleichen jemanden wie mich wohl auch nicht aufhalten, denn ich lächele die Frau vom Sicherheitsdienst nur an und sage: »Hi, ich bin Megan Foster. Ich möchte zu Jody Howard.« Dann sehe ich zu, wie sie ihren Bildschirm hinunterscrollt und nach dem Namen sucht, von dem ich zufällig weiß, dass er an dritter Stelle aufgelistet ist.

»Legen Sie das hier ins Fenster, auf der Fahrerseite«, sagt sie und reicht mir ein Stück gelbes Papier, auf dem deutlich BESUCHER und das Datum stehen. »Und nicht auf der linken Straßenseite parken, nur auf der rechten.« Mit einem Kopfnicken kehrt sie in ihr Häuschen zurück, während ich durch das Tor fahre und hoffe, dass sie nicht mitbekommt, wie ich an Jodys Straße vorbeifahre und auf Damens zuhalte.

Ich habe schon fast die Hügelkuppe erreicht, als ich die nächste Straße auf meiner Liste sehe, und nachdem ich links abgebogen bin, und gleich darauf noch einmal nach links, halte ich am Ende seines Blocks, schalte den Motor aus und merke, dass mir jeglicher Mut abhandengekommen ist.

Ich meine, was für eine Psycho-Freundin bin ich eigentlich? Welcher klar denkende Mensch würde auch nur auf den Gedanken kommen, seine tote kleine Schwester einzuspannen, damit sie ihm hilft, dem eigenen Freund hinterherzuschnüffeln? Allerdings ist ja nichts in meinem Leben auch nur im Entferntesten normal, warum sollte es sich mit meinen Beziehungen also anders verhalten?

Ich sitze in meinem Auto und konzentriere mich auf meinen Atem, bemühe mich, ruhig und langsam zu atmen, ungeachtet der Tatsache, dass mein Herz wie wild pocht und meine Handflächen schweißnass sind. Und während ich mich in dieser sauberen, ordentlichen, wohlhabenden Wohngegend umsehe, wird mir klar, dass ich mir keinen ungeeigneteren Tag hierfür hätte aussuchen können.

Erstens ist das Wetter heiß, sonnig und wunderbar, was bedeutet, dass jedermann entweder mit dem Fahrrad unterwegs ist, seinen Hund ausführt oder im Garten arbeitet, woraus sich so ziemlich die ungünstigsten Bedingungen fürs Spionieren ergeben, die man sich nur wünschen könnte. Und zweitens habe ich mich während der ganzen Fahrt nur darauf konzentriert, herzufinden, und gar nicht darüber nachgedacht, was ich dann machen werde, daher ist es nicht etwa so, als hätte ich einen Plan.

Allerdings spielt das wahrscheinlich sowieso keine große Rolle. Ich meine, was ist das Schlimmste, was passieren könnte? Ich werde erwischt, und Damen bestätigt, dass ich nicht ganz rund laufe? Nach meiner verzweifelten, hilfsbedürftigen Klammernummer heute Morgen denkt er das wahrscheinlich ohnehin schon.

Ich steige aus und gehe auf sein Haus zu, das Haus ganz am Ende der Sackgasse, mit den Tropenpflanzen und dem gepflegten Rasen. Aber ich schleiche mich nicht an oder tue sonst irgendetwas, das unerwünschte Aufmerksamkeit erregen würde, ich schlendere einfach so dahin, als hätte ich alles Recht der Welt, hier zu sein, bis ich vor der großen, zweiflügeligen Haustür stehe und überlege, was ich als Nächstes tun soll.

Ich trete einen Schritt zurück und schaue zu den Fenstern hinauf. Rollos heruntergelassen, Vorhänge zugezogen, und obwohl ich keine Ahnung habe, was ich sagen werde, beiße ich mir auf die Lippe, drücke auf die Klingel, halte den Atem an und warte.

Doch nachdem ein paar Minuten vergehen, ohne dass sich etwas tut, klingele ich noch einmal. Und als er sich noch immer nicht rührt, drehe ich den Knauf, stelle fest, dass die Tür abgeschlossen ist, und gehe dann den Gartenweg entlang. Rasch vergewissere ich mich, dass mich keiner der Nachbarn beobachtet, als ich durch das Seitentor schlüpfe und mich zur Rückseite des Hauses schleiche.

Ich halte mich dicht an der Hauswand und würdige den Pool, die Pflanzen und die erstaunliche Aussicht kaum eines Blickes, als ich geradewegs auf die Schiebetür zusteuere, die natürlich ebenfalls abgeschlossen ist.

Und dann, gerade, als ich aufgeben und nach Hause fahren will, höre ich diese Stimme in meinem Kopf drängend sagen: das Fenster, neben dem Spülbecken. Und tatsächlich ist es einen Spalt offen, gerade genug, dass ich die Finger hineinzwängen und es ganz hochschieben kann.

Ich stemme die Hände auf das Sims und bringe meine gesamte Kraft auf, um mich hineinzuhieven. Und in dem Augenblick, wo meine Füße auf dem Boden landen, habe ich offiziell eine Grenze überschritten.

Ich sollte nicht weitermachen. Ich habe kein Recht, das hier zu tun. Ich sollte sofort wieder hinausklettern und zu meinem Auto laufen. Zu meinem sicheren, stillen Zuhause zurückfahren, solange ich noch kann. Doch die kleine Stimme in meinem Kopf treibt mich an, und da sie mich schon so weit gebracht hat, kann ich wohl genauso gut schauen, wohin sie mich führt.

Ich erkunde die große, leere Küche, das kahle Wohnzimmer, das Esszimmer, in dem weder Tisch noch Stühle stehen, und das Badezimmer, in dem nur ein kleines Stück Seife und ein einziges schwarzes Handtuch zu finden sind. Und ich denke, dass Riley Recht hatte - dieses Haus ist leer, auf eine unheimliche, verlassene Art und Weise. Keine persönlichen Erinnerungsstücke, keine Fotos, keine Bücher. Nichts als dunkle Dielenböden, Wände in gebrochenem Weiß, leere Küchenschränke, ein Kühlschrank voll unzähliger Flaschen mit dieser seltsamen roten Flüssigkeit und sonst nichts. Im Fernsehzimmer entdecke ich den Flachbildfernseher, von dem Riley gesprochen hat, einen Sessel, den sie nicht erwähnt hat, und einen großen Stapel fremdsprachiger DVDs, deren Titel ich nicht übersetzen kann. Dann halte ich am Fuß der Treppe inne; mir ist klar, dass ich verschwinden sollte, dass ich mehr als genug gesehen habe, doch irgendetwas, das ich nicht ganz definieren kann, drängt mich weiter.

Ich umklammere das Treppengeländer und zucke zusammen, als die Stufen unter mir ächzen, ihr schriller Protest klingt in diesem riesigen, leeren Raum erschreckend laut. Und als ich den Treppenabsatz erreiche, finde ich mich der Tür gegenüber, die Riley verschlossen vorgefunden hat. Nur steht sie diesmal einen Spalt breit offen.

Ich schleiche darauf zu und suche nach der Stimme in meinem Kopf, hoffe verzweifelt auf Hilfe. Aber die einzige Antwort, die ich bekomme, ist das Geräusch meines pochenden Herzens, als ich die flache Hand gegen die Tür drücke. Und dann nach Luft schnappe, als sie sich öffnet und den Blick auf einen Raum frei gibt, so überladen, so feierlich, so prachtvoll, dass er geradewegs aus Versailles zu stammen scheint.

Ich verharre im Türrahmen und gebe mir Mühe, dies alles in mich aufzunehmen. Die kunstvoll gewebten Wandbehänge, die antiken Teppiche, die Kristallkronleuchter, die goldenen Kandelaber, die schweren Seidenvorhänge, das Samtsofa, den mit dicken Büchern überhäuften Tisch mit der Marmorplatte. Sogar die Wände; der gesamte Raum ist zwischen der Täfelung und der Stuckleiste unter der Decke mit großen, goldgerahmten Gemälden bedeckt - die alle Damen darstellen, in Kostümen und Trachten, die etliche Jahrhunderte umspannen. Einschließlich einem, das Damen auf einem weißen Hengst zeigt, einen silbernen Degen an der Seite und in genau demselben Rock, den er an Halloween angehabt hat.

Ich trete darauf zu, und mein Blick sucht das Loch an der Schulter, die ausgefranste Stelle, die er scherzhaft als eine Folge von Artilleriefeuer bezeichnet hat. Und ich erschrecke, als ich sie auf dem Bild genau dort finde. Ich streiche mit den Fingern darüber, wie gebannt, wie hypnotisiert. Und ich frage mich, was für ein abgefahrenes, aufwändiges Täuschungsmanöver er da aufgezogen hat, während meine Fingerspitzen an dem Bild hinuntergleiten bis zu dem kleinen Messingschildchen am unteren Rahmen, auf dem steht:

 

DAMEN AUGUSTE EPOSITO, MAI 1775

 

Ich wende mich dem Bild daneben zu, und mein Herz rast, als ich das Porträt eines ernsten Damen betrachte, in einen strengen schwarzen Anzug gekleidet und von Blau umgeben. Auf dem Schild stehen die Worte:

 

DAMEN AUGUSTE, GEMALT VON PICASSO 1902

 

Und das Bild daneben, dessen dick aufgetragene Farbwirbel zeigen:

 

DAMEN EPOSITO, GEMALT VON VINCENT VAN GOGH

 

Und so geht es weiter, alle vier Wände zeigen Damens Abbild, wiedergegeben von sämtlichen großen Meistern.

Mit verschwommenem Blick und weichen Knien sinke ich auf das Samtsofa, und durch meinen Verstand jagen tausend verschiedene Möglichkeiten, jede davon gleichermaßen lachhaft. Dann greife ich nach dem Buch, das am nächsten liegt, schlage die Titelseite auf und lese:

 

Für Damen Auguste Eposito.

Signiert von Wlliam Shakespeare.

 

Ich lasse es zu Boden fallen und nehme das nächste zur Hand.

 

Wuthering Heights, Für Damen Auguste, signiert von Emily Bronte.

 

Jedes Buch ist Damen Auguste Eposito gewidmet, oder Damen Auguste, oder einfach nur Damen. Alle von Autoren signiert, die seit über einem Jahrhundert tot sind.

 

Ich schließe die Augen und versuche, mich darauf zu konzentrieren, langsamer zu atmen, während mein Herz hämmert und meine Hände zittern. Ich sage mir, dass das alles ein Scherz ist, dass Damen ein abgedrehter Historien-Fan ist, ein Antiquitätensammler, ein Kunstfälscher, der zu weit gegangen ist. Vielleicht sind das hier kostbare Familienerbstücke, von einer langen Reihe von Urururgroßvätern hinterlassen, die alle denselben Namen getragen und dieselbe unheimliche Ähnlichkeit miteinander gehabt haben.

Doch als ich mich abermals umsehe, verrät mir das Frösteln, das mir das Rückgrat hinunterkriecht, die unleugbare Wahrheit - das hier sind nicht einfach nur Antiquitäten, und ebenso wenig sind es Erbstücke. Dies sind Damens persönliche Besitztümer, die Schätze, die er im Laufe der Jahre angehäuft hat.

Taumelnd komme ich auf die Beine und stolpere in den Flur hinaus, will nur weg aus diesem unheimlichen Raum, diesem scheußlichen, übervollen Mausoleum, diesem gruftartigen Haus. Will so viel Abstand wie nur irgend möglich zwischen uns bringen und niemals, unter gar keinen Umständen, hierher zurückkehren.

Gerade habe ich die unterste Stufe erreicht, als ich einen lauten, durchdringenden Schrei höre, gefolgt von einem gedämpften Stöhnen, und ohne auch nur nachzudenken, fahre ich herum und renne darauf zu, folge dem Geräusch zum Ende des Flurs und stürme durch eine Tür. Und finde Damen auf dem Fußboden vor, die Kleider zerrissen, das Gesicht bluttriefend, während Haven unter ihm stöhnend um sich schlägt.

»Ever!«, brüllt er, springt auf und hält mich zurück, während ich mich mit aller Kraft wehre und mit den Füßen um mich trete, um zu ihr zu gelangen.

»Was hast du mit ihr gemacht?«, schreie ich und schaue zwischen ihnen hin und her, sehe ihre blasse Haut, wie sich ihre Augen nach oben verdrehen, und weiß, dass ich keine Zeit verlieren darf.

»Ever, bitte hör auf«, sagt er, und seine Stimme klingt zu sicher, zu gefasst für die belastende Situation, in der er sich befindet.

»WAS HAST DU MIT IHR GEMACHT?«, schreie ich gellend, trete, schlage, beiße, kreische und kratze und bringe jedes Quäntchen Kraft auf, das ich habe, doch ich bin ihm nicht gewachsen. Er steht einfach nur da, hält mich mit einer Hand fest und steckt meine Schläge ein, ohne auch nur das Gesicht zu verziehen.

»Ever, bitte lass mich erklären«, sagt er und weicht meinen Füßen aus, die nach ihm treten.

Als ich meine Freundin anstarre, die mit schmerzverzerrtem Gesicht heftig blutet, durchzuckt mich eine schreckliche Erkenntnis - deswegen wollte er mich von hier fernhalten!

»Nein! Das stimmt nicht. Da liegst du völlig falsch. Ja, ich wollte nicht, dass du das siehst, aber es ist nicht so, wie du denkst.«

Er hält mich in die Luft, und meine Beine baumeln wie die einer Stoffpuppe. Trotz meines Strampelns und all meiner Gegenwehr ist er noch nicht einmal ins Schwitzen gekommen.

Doch Damen ist mir egal. Sogar ich selbst bin mir egal. Das Einzige, was mir wichtig ist, ist Haven, deren Lippen blau anlaufen und deren Atmung beängstigend schwach wird.

»Was hast du mit ihr gemacht?« Mit allem Hass, den ich aufbringen kann, funkele ich ihn an. »Was hast du mit ihr gemacht, du Freak?«

»Ever, bitte, du musst mir zuhören«, drängt er und sieht mich flehend an.

Und trotz all meiner Wut, trotz all dem Adrenalin, kann ich noch immer jenes warme, träge Kribbeln seiner Hände auf meiner Haut spüren, und ich gebe mir alle nur erdenkliche Mühe, nicht darauf zu achten. Kreischend und schreiend trete ich um mich und ziele auf seine verwundbarsten Stellen, doch ich verfehle ihn jedes Mal, weil er so viel schneller ist als ich.

»Du kannst ihr nicht helfen, glaub mir, ich bin der Einzige, der das kann!«

»Du hilfst ihr doch gar nicht, du bringst sie um!«, schreie ich.

Er schüttelt den Kopf und sieht mich an. Sein Gesicht sieht müde aus, als er flüstert: »Wohl kaum.«

Wieder versuche ich, mich loszumachen, aber es ist sinnlos, ich komme nicht gegen ihn an. Also höre ich auf und lasse mich schlaff zusammensinken, während ich ergeben die Augen schließe.

Und denke: So passiert es also. So verschwinde ich.

Und in dem Moment, als er seinen Griff lockert, trete ich so fest zu, wie ich kann, und mein Stiefel trifft sein Ziel. Er lässt los, und ich falle zu Boden.

Mit einem Satz bin ich bei Haven, meine Finger rutschen auf ihren blutverschmierten Handgelenken aus, als ich nach einem Puls suche, den Blick starr auf die beiden kleinen Löcher in der Mitte ihres unheimlichen Tattoos geheftet, während ich sie anflehe, weiterzuatmen, durchzuhalten.

Als ich nach meinem Handy greife, um den Notarzt zu rufen, tritt Damen von hinten an mich heran, nimmt mir das Telefon aus der Hand und sagt: »Ich hatte gehofft, ich würde das nicht tun müssen.«