FÜNFZIG

Als ich durch die Tür stürme, sehe ich als Erstes Damen.

Er liegt nach wie vor auf dem Futon und ist noch genauso dünn und bleich wie zu dem Zeitpunkt, als ich ihn verlassen habe.

Das Zweite, was ich sehe, ist Rayne. Sie kauert neben ihm und drückt ihm ein feuchtes Tuch auf die Stirn. Ihre Augen werden weit, als sie mich sieht, und sie hält hastig eine Hand vor sich in die Höhe. »Ever, nein!«, schreit sie. »Komm nicht näher! Wenn du Damen retten willst, dann bleib, wo du bist - unterbrich den Kreis nicht!«

Ich richte den Blick nach unten und sehe eine körnige weiße Substanz, die so ähnlich wie Salz aussieht und einen perfekten Kreis bildet, der die beiden ein- und mich ausschließt. Dann sehe ich sie an und frage mich, was sie will, warum in aller Welt sie hier neben Damen sitzt und mich fernzuhalten versucht. Mir fällt auf, dass sie außerhalb von Sommerland sogar noch seltsamer aussieht, mit ihrem geisterhaft bleichen Teint, den puppenhaften Gesichtszügen und den großen kohlschwarzen Augen.

Doch als mein Blick auf Damen fällt und ich sehe, wie er schwer um jeden Atemzug ringt, weiß ich, dass ich zu ihm muss, ganz egal, was sie sagt. Es ist meine Schuld, dass er in diesem Zustand ist. Ich habe ihn verlassen. Ihn zurückgelassen. Ich war dumm und selbstsüchtig und naiv genug zu glauben, dass alles reibungslos klappen würde, nur weil ich es so wollte, und dass Ava sich um alles Unerledigte kümmern werde.

Ich trete einen Schritt vor, und mein Zeh trifft kurz vor der Grenze auf, als Roman hinter mir hereinkommt und brüllt: »Was zum Teufel hat sie denn hier zu suchen?« Mit vor Schreck weit aufgerissenen Augen starrt er Rayne an, die immer noch neben Damen kauert.

»Trau ihm nicht!«, sagt sie, während ihr Blick zwischen uns hin und her schießt. »Er hat die ganze Zeit gewusst, dass ich hier bin.«

»Ich hatte keine Ahnung! Ich habe dich noch nie im Leben gesehen!« Er schüttelt den Kopf. »Ich meine, tut mir leid, Schätzchen, aber katholische Schulmädchen sind einfach nicht mein Ding. Ich mag lieber ein bisschen handfestere Frauen, wie zum Beispiel die gute Ever.« Er greift nach mir und lässt seine Finger über meinen Rücken wandern, woraufhin mich dermaßen fröstelt, dass ich am liebsten reagieren würde, doch ich lasse es sein. Ich hole nur tief Luft und konzentriere mich stattdessen auf seine andere Hand - die Hand mit dem Gegengift, dem Schlüssel zu Damens Rettung.

Denn letztlich ist das doch das Einzige, was zählt - alles andere kann warten.

Ich schnappe mir die Flasche und schraube sie auf. Und gerade als ich Raynes Bannkreis durchbrechen will, legt mir Roman eine Hand auf den Arm und sagt: »Nicht so hastig.«

Ich halte inne und sehe beide an. Rayne blickt mir direkt in die Augen. »Tu's nicht, Ever!«, warnt sie. »Was auch immer er sagt, hör nicht auf ihn. Hör nur auf mich. Ava hat das Gegengift weggeworfen und ist kurz nachdem du gegangen bist, mit dem Elixier abgehauen, aber zum Glück bin ich noch vor ihm hier eingetroffen.« Sie gestikuliert zu Roman hinüber, und ihre Augen sind wie zornige Punkte aus finsterster Nacht. »Er braucht dich, um den Kreis zu durchbrechen, damit er hinein kann, weil er nicht ohne dich an Damen herankommt. Nur wer dessen würdig ist, erhält Zugang zum Kreis, nur wer gute Absichten hegt. Aber wenn du jetzt hineingehst, folgt dir Roman. Wenn dir also etwas an Damen liegt, wenn du ihn wirklich beschützen willst, dann musst du warten, bis Romy kommt.« »Romy?«

Rayne nickt. »Sie bringt das Gegengift. Es wird erst bei Einbruch der Nacht fertig sein, da es die Energie des Vollmonds braucht, um vollständig zu sein.«

Roman schüttelt lachend den Kopf. »Was für ein Gegengift?«, sagt er. »Ich bin der Einzige mit dem Gegengift. Mann, ich bin schließlich derjenige, der das Gift gemacht hat, also was zum Teufel weiß sie schon?« Als er meine verwirrte Miene sieht, fügt er hinzu: »Im Grunde hast du keine Wahl. Wenn du auf die da hörst« - er schnippt mit den Fingern zu Rayne hin -, »muss Damen sterben. Aber wenn du auf mich hörst, stirbt er nicht. Die Rechnung ist ziemlich einfach, oder?«

Ich blicke Rayne an und sehe, wie sie den Kopf schüttelt und mich beschwört, nicht auf ihn zu hören, sondern auf Romy zu warten und auf den Anbruch der Nacht, der noch Stunden entfernt liegt. Dann mustere ich Damen neben ihr, dessen Atem immer schwerer geht und der im Gesicht jegliche Farbe verloren hat...

»Und wenn du versuchst, mich reinzulegen?«, sage ich, jetzt wieder ganz auf Roman konzentriert.

Ich halte den Atem an, als er sagt: »Dann stirbt er.«

Ich schlucke schwer und blicke zu Boden, unsicher, was ich tun soll. Vertraue ich Roman, dem bösartig gewordenen Unsterblichen, der ja für all das verantwortlich ist? Oder vertraue ich Rayne, dem gruseligen Zwilling mit seinem undurchschaubaren doppelzüngigen Gerede und den nie klar gewordenen Absichten? Aber als ich die Augen zumache und mich auf mein Bauchgefühl konzentriere, da ich weiß, dass es so gut wie nie falsch liegt, auch wenn ich es oft ignoriere, bleibt es zu meiner Enttäuschung still.

Ich wende den Blick zu Roman, als er erneut zu sprechen anhebt. »Aber wenn ich dich nicht reinlege, stirbt er nicht. Also hast du meiner Meinung nach eigentlich keine andere Wahl.«

»Hör nicht auf ihn«, warnt Rayne. »Er ist nicht gekommen, um dir zu helfen, sondern ich! Ich bin diejenige, die dir im Sommerland die Vision geschickt hat, ich bin diejenige, die dir sämtliche Zutaten gezeigt hat, die du brauchst, um ihn zu retten. Du bist nicht in die Akasha-Chronik eingelassen worden, weil du deine Entscheidung bereits getroffen hattest. Und während wir versucht haben, dir den Weg zu zeigen, während wir versucht haben, dir zu helfen und dich am Weggehen zu hindern, hast du dich geweigert zuzuhören, und jetzt...«

»Ich dachte, du wüsstest nicht, was mein Anliegen ist?« Ich kneife die Augen zusammen. »Ich dachte, du und deine gruselige Schwester hättet keinen Zugang zu ...« Ich halte inne, sehe Roman an und weiß, dass ich jetzt ganz vorsichtig mit dem sein muss, was ich sage. »Ich dachte, ihr könntet bestimmte Dinge nicht sehen.«

Rayne schaut mich mit betroffener Miene an und schüttelt den Kopf. »Wir haben dich nie belogen, Ever«, sagt sie. »Und wir haben dich nie in die Irre geführt. Bestimmte Dinge können wir nicht sehen, das stimmt. Aber Romy ist ein Empath, und ich bin ein Präkog, und gemeinsam empfangen wir Gefühle und Visionen. So haben wir dich auch überhaupt erst gefunden, und seitdem versuchen wir, dich mithilfe der Informationen, die wir erspüren, zu leiten. Seit Riley uns gebeten hat, auf dich aufzupassen.«

»Riley?« Ich starre sie mit offenem Mund an, und fast dreht es mir vor Übelkeit den Magen um. Was kann Riley mit alldem zu tun haben?

»Wir haben sie im Sommerland kennen gelernt und ihr dort alles gezeigt. Wir sind sogar zusammen zur Schule gegangen, auf ein privates Internat, das sie manifestiert hat. Deshalb tragen wir auch diese Sachen.« Sie zeigt auf ihren karierten Rock und den Blazer, die Uniform, die sie und ihre Schwester stets anhaben. Ich weiß noch genau, wie Riley immer davon geträumt hat, auf ein Internat zu gehen, und zwar um von mir wegzukommen. Also klingt es völlig einleuchtend, dass sie eines manifestiert hat. »Und dann, als sie beschlossen hat« - sie hält inne und äugt zu Roman hinüber, ehe sie weiterspricht - »weiterzuziehen, hat sie uns gebeten, auf dich aufzupassen, falls wir dir je über den Weg laufen sollten.«

»Das glaube ich dir nicht«, sage ich, obwohl ich keinen Grund dazu habe. »Riley hätte es mir gesagt, sie hätte ...« Doch dann fällt mir wieder ein, wie sie einmal etwas von Leuten erzählt hat, die sie herumgeführt haben, und ich frage mich, ob sie damit die Zwillinge gemeint hat.

»Wir kennen auch Damen. Er ... Er hat uns mal geholfen, vor langer Zeit.« Und als sie mich ansieht, bin ich kurz davor einzuknicken, doch dann redet sie weiter. »Aber wenn du nur noch ein paar Stunden warten könntest, bis das Gegengift fertig ist, dann kommt auch Romy und ...«

Ich mustere Damen, seinen abgezehrten Körper, seine blasse, feuchtkalte Haut und die eingesunkenen Augen, höre seinen abgehackten Atem, der mit jedem Ein- und Ausatmen schwächer wird - und weiß, dass ich nur eine Wahl habe.

Und so wende ich Rayne den Rücken zu und sehe Roman an. »Okay«, sage ich. »Sag mir einfach, was ich tun soll.«

 

Der blaue Mond
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