ZWEIUNDVIERZIG
Ich hätte nie gedacht, dass ich irgendwann über meinen plötzlichen Wachstumsschub und meinen auf einmal so kräftigen Bizeps froh wäre, doch nur aufgrund meiner neuen Größe und Stärke (ganz zu schweigen von Damens abgemagertem Zustand) trage ich Damen jetzt praktisch den ganzen Weg von meinem Auto zu Avas Haustür. Ich stütze ihn, während ich an die Tür klopfe, und bereite mich seelisch darauf vor, bei ihr einzubrechen, wenn es sein muss, freue mich aber doch, als sie aufmacht und uns beide hineinwinkt.
Ich gehe mit dem stolpernden Damen an meiner Seite durch den Flur, bleibe vor der indigoblauen Tür stehen und starre Ava entgeistert an, als sie sie nicht aufmacht.
»Wenn dein Raum so heilig und so rein ist, wie du meinst, glaubst du dann nicht, dass das Damen nur helfen würde? Glaubst du nicht, dass er so viel positive Energie braucht, wie er nur kriegen kann?«, frage ich, obwohl ich weiß, dass es ihr Kopfzerbrechen macht, die »kontaminierte« Energie eines kranken, dem Tode nahen Mannes hineinzulassen, was aber derart lächerlich ist, dass ich gar nicht weiß, was ich dazu sagen soll.
Sie sieht mich an und hält den Blickkontakt weit länger aufrecht, als es meiner begrenzten Geduld lieb ist, und als sie schließlich nachgibt, stürme ich an ihr vorbei, bette Damen auf den Futon in der Ecke und decke ihn mit der Wolldecke zu, die dort bereitliegt.
»Der Saft ist im Kofferraum, zusammen mit dem Gegengift«, sage ich und werfe ihr die Schlüssel zu. »Der Saft ist erst in zwei Tagen richtig reif, aber heute Abend müsste es Damen schon viel besser gehen, wenn der Vollmond aufgeht und das Gegengift fertig ist. Du kannst ihm den Saft später geben, um seine Kräfte wieder aufzubauen. Wahrscheinlich wird er ihn aber gar nicht brauchen, da ohnehin alles rückgängig gemacht wird. Aber trotzdem - nur für den Notfall«, sage ich nickend und wünschte, ich wäre nur halb so zuversichtlich, wie ich klinge.
»Bist du sicher, dass es funktioniert?«, fragt sie und sieht mir zu, wie ich meine allerletzte Flasche von dem Elixier aus der Tasche ziehe.
»Es muss funktionieren.« Ich betrachte Damen, so bleich, so schwach und so - alt. Doch es ist immer noch Damen. Nach wie vor sind Spuren seiner umwerfenden Schönheit sichtbar, nur leicht überschattet von dem schnellen Alterungsprozess, der ihm das silbergraue Haar, die fast durchscheinende Haut und die fächerförmigen Fältchen um die Augen beschert hat. »Es ist unsere einzige Hoffnung«, füge ich hinzu und winke sie hinaus, ehe ich vor ihm auf die Knie falle, ihm das Haar aus dem Gesicht streiche und ihn sanft zum Trinken nötige.
Zuerst wehrt er sich, indem er den Kopf hin und her wirft und den Mund fest geschlossen hält. Doch als ihm klar wird, dass ich nicht lockerlassen werde, gibt er nach und lässt die Flüssigkeit seine Kehle hinabrinnen, bis seine Haut wärmer wird und er wieder Farbe bekommt. Er trinkt die Flasche leer und sieht mich mit so viel Liebe und Verehrung an, dass ich überglücklich bin, weil er wieder da ist.
»Du hast mir gefehlt«, flüstere ich, und mein Herz platzt beinahe vor Sehnsucht, als ich ihm die Lippen auf die Wange drücke. All die aufgestauten Gefühle, die ich so lange im Zaum halten musste, drängen jetzt an die Oberfläche und sprudeln heraus, während ich ihn wieder und wieder küsse. »Du wirst wieder gesund«, versichere ich ihm. »Du bist bald wieder wie früher.«
Meine plötzliche Glücksaufwallung zerplatzt wie ein Luftballon, als sein Blick sich verdüstert und über mein Gesicht wandert.
»Du hast mich verlassen«, wispert er.
Ich schüttele den Kopf, da er wissen soll, dass das nicht stimmt. Ich habe ihn nicht verlassen, sondern er mich, doch das war nicht seine Schuld, und ich verzeihe ihm. Ich verzeihe ihm alles, was er je getan - oder gesagt - hat, obwohl es schon zu spät ist, obwohl es eigentlich keine Rolle mehr spielt.
Stattdessen sage ich nur: »Nein, hab ich nicht. Du warst krank. Sehr krank. Doch das ist jetzt vorbei, und es geht dir bald wieder besser. Du musst nur versprechen, das Gegengift zu trinken, wenn ...« Wenn Ava es dir gibt — die Worte, die ich nicht sagen kann, nicht sagen will, da er nicht wissen soll, dass dies unser letzter gemeinsamer Augenblick ist, unser endgültiger Abschied.
»Du brauchst nichts weiter zu wissen, als dass du wieder gesund wirst. Aber du musst dich vor Roman in Acht nehmen. Er ist nicht dein Freund. Er ist böse. Er will dich töten. Deshalb musst du wieder zu Kräften kommen, damit du ihn ausschalten kannst.«
Ich presse die Lippen auf seine Stirn, seine Wange und kann nicht aufhören, bis ich sein ganzes Gesicht mit Küssen bedeckt habe. In seinem Mundwinkel schmecke ich das Salz meiner eigenen Tränen. Ich atme ihn ein, in der Hoffnung, seinen Duft, seinen Geschmack, das Gefühl seiner Haut in mich aufzusaugen, um die Erinnerung an ihn mit mir zu nehmen, wohin ich auch gehe.
Doch auch nachdem ich ihm geschworen habe, dass ich ihn liebe - selbst nachdem ich mich neben ihn gelegt, ihn in die Arme genommen und an mich gedrückt habe -, selbst nachdem ich stundenlang bei ihm geblieben bin, während er schlief - selbst nachdem ich die Augen geschlossen und mich darauf konzentriert habe, meine Energie mit seiner zu verschmelzen, in der Hoffnung, ihn mit meiner Liebe, meinem Wesen, meinem ganzen Sein zu heilen, zu versuchen, ihm einen kleinen Teil von mir einzuprägen, selbst nach alldem sagt er es erneut, sowie ich mich von ihm löse.
Ein Vorwurf aus seiner Traumwelt, allein für mich bestimmt.
»Du hast mich verlassen.«
Erst als ich endgültig Abschied genommen und die Tür hinter mir geschlossen habe, begreife ich, dass er nicht von der Vergangenheit spricht.
Er sagt unsere Zukunft voraus.