SECHSUNDDREISSIG
Ich bin fertig mit der Schule. Ich habe es satt, mich dieser unerträglichen Folter eines tagtäglichen Spießrutenlaufs zu unterwerfen. Ich meine, wozu soll ich hingehen, wenn ich bei Damen auf keinen grünen Zweig komme, sondern bloß von Roman verhöhnt sowie von Lehrern und pseudo-wohlmeinenden Exfreunden belehrt werde? Außerdem, wenn alles so läuft, wie ich es mir erhoffe, bin ich sowieso bald wieder an meiner alten Schule in Oregon und lebe mein Leben, als wäre das hier nie geschehen. Insofern hat es wirklich keinen Sinn, mir das alles noch mal anzutun.
Ich fahre den Broadway entlang, bahne mir den Weg durch die vielen Fußgänger und fahre dann weiter zum Canyon, in der Hoffnung, dort ein ruhiges Plätzchen zu finden, wo ich das Portal erscheinen lassen kann, ohne nichts ahnende Passanten zu schockieren. Erst als ich geparkt habe, fällt mir auf, dass dies genau die Stelle ist, wo mein erster Showdown mit Drina stattfand - ein Showdown, der meinen ersten Besuch im Sommerland zur Folge hatte, nachdem mir Damen den Weg gezeigt hatte.
Ich rutsche auf dem Sitz ganz nach unten und stelle mir diesen goldenen Lichtschleier vor, bis er genau vor mir schwebt und ich direkt vor der Großen Halle des Wissens lande. Ich nehme mir kaum die Zeit, um ihre großartige, sich permanent wandelnde Fassade zu würdigen, sondern laufe schnurstracks in die große Marmorhalle, in Gedanken ausschließlich bei zwei Fragen:
Gibt es ein Gegenmittel, um Damen zu retten?
Und wie finde ich das geheime Kraut, die letzte Zutat, die für die Zubereitung des Elixiers nötig ist?
Immer wieder wälze ich die Fragen hin und her, während ich darauf warte, dass der Eingang zur Akasha-Chronik erscheint.
Aber nichts.
Keine Kugeln. Keine Kristallscheiben. Weder runde weiße Räume noch Hybridfernseher. Nothing. Nada. Niente.
Nur eine leise Stimme, die hinter mir sagt: »Es ist zu spät.«
Ich wende mich um, in der Erwartung, Romy zu sehen, doch stattdessen steht Rayne vor mir. Sie folgt mir, während ich eilig auf die Tür zugehe, weil ich unbedingt Abstand zu ihr gewinnen will, während sie dieselben Worte mehrfach wiederholt.
Ich habe keine Zeit für so was. Ich habe keine Zeit, um einen Haufen unverständlichen Unsinn vom gruseligsten Zwilling der Welt zu enträtseln. Denn selbst wenn es im Sommerland, wo alles in einem permanenten Jetzt stattfindet, keine Vorstellung von Zeit gibt, weiß ich genau, dass die Zeit, die ich hier verbringe, zu Hause sehr wohl verrinnt. Was bedeutet, dass ich mich beeilen muss. Ich weiß, ich muss Damen retten, bevor ich die Zeit zurückstelle und nach Hause gehe. Und wenn die Antworten nicht hier zu finden sind - dann suche ich sie eben woanders.
Ich beginne zu laufen. Als ich in die Gasse einbiege, ergreift mich ein so heftiger plötzlicher Schmerz, dass ich zu Boden sinke. Ich bohre mir die Finger in die Schläfen, während mein Kopf schmerzt, als würde von allen Seiten mit Messern auf ihn eingestochen, und sich vor meinem geistigen Auge ein wahrer Bilderwirbel entfaltet. Eine Reihe von Skizzen, die ineinander übergehen wie Buchseiten, gefolgt von detaillierten Beschreibungen ihres Inhalts. Ich bin gerade auf der dritten Seite angelangt, als ich begreife, dass das die Anweisungen für das Gegengift sind, mit dem ich Damen retten kann, darunter Kräuter, die während eines Neumonds gepflanzt wurden, seltene Kristalle und Mineralien, von denen ich noch nie gehört habe, von tibetischen Mönchen bestickte Seidentäschchen, was alles in einer Abfolge genauestens einzuhaltender Schritte vermischt werden muss, ehe es die Energie des nächsten Vollmonds aufsaugen kann.
Und gleich nachdem mir das Kraut gezeigt wurde, das ich zur Vervollständigung des Unsterblichkeitssafts brauche, wird mein Kopf wieder klar, als wäre nie etwas gewesen. Also greife ich nach meiner Tasche, krame Zettel und Stift hervor und notiere mir den letzten Schritt, als auf einmal Ava auftaucht.
»Ich hab's durch das Portal geschafft!«, sagt sie mit leuchtender Miene und strahlt mich an. »Ich hätte nie gedacht, dass ich das kann, aber als ich mich heute Morgen zu meiner gewohnten Meditation gesetzt habe, dachte ich: Was kann es schon schaden, es einmal zu versuchen? Und im nächsten Moment...«
»Du bist schon seit heute Morgen hier?«, sage ich und mustere ihr schickes Kleid, die Designerschuhe, die schweren goldenen Armreifen und die juwelengeschmückten Finger.
»Im Sommerland gibt es keine Zeit«, mault sie.
»Mag sein, aber zu Hause ist es schon Mittag«, mahne ich sie, woraufhin sie die Stirn runzelt und sich weigert, sich von den lästigen Regeln der Erde behindern zu lassen.
»Na und? Was soll ich schon verpassen? Einen endlosen Strom von Klientinnen, die von mir hören wollen, dass sie bald steinreich und berühmt werden, obwohl alles auf das Gegenteil hindeutet?« Sie schließt die Augen und seufzt. »Ich hab's satt, Ever. Bin die Tretmühle leid. Aber hier ist alles so wundervoll, dass ich am liebsten bleiben würde.«
»Das geht nicht«, sage ich schnell und automatisch, obwohl ich gar nicht weiß, ob das stimmt.
»Warum nicht?« Sie zuckt die Achseln, reckt die Arme zum Himmel und dreht sich immer wieder um sich selbst. »Warum kann ich denn nicht hierbleiben? Nenn mir einen guten Grund.«
»Weil...«, beginne ich, wobei ich es am liebsten dabei belassen würde, doch da sie kein Kind ist, muss ich mir etwas Besseres einfallen lassen. »Weil es nicht richtig ist«, sage ich schließlich in der Hoffnung, dass sie auf mich hört. »Du hast doch etwas zu tun. Wir haben alle zu tun. Und sich hier zu verstecken ist wie - schummeln.«
»Wer sagt das?« Sie zwinkert. »Willst du mir etwa erzählen, all diese Leute wären tot?«
Ich blicke mich um und mustere die belebten Gehsteige, die langen Schlangen vor den Kinos und den Karaoke-Bars, und muss einsehen, dass ich keine Ahnung habe, was ich ihr entgegnen soll. Ich meine, wie viele von ihnen sind wie Ava - müde, lustlose, desillusionierte Seelen, die den Weg hierher gefunden und beschlossen haben, sich von der Erde zu verabschieden und nie zurückzukehren? Und wie viele von ihnen sind wohl gestorben und haben sich geweigert, überzutreten, genau wie es Riley einst getan hat?
Erneut sehe ich Ava an und weiß, dass ich nicht das Recht habe, ihr vorzuschreiben, was sie mit ihrem Leben anfangen soll, vor allem wenn ich daran denke, was ich beschlossen habe, mit meinem anzufangen.
Und so greife ich lächelnd nach ihrer Hand und sage: »Also, im Moment brauche ich dich. Erzähl mir alles, was du über Astrologie weißt.«