VIERUNDDREISSIG
Ich erstarre. Eine Flasche ungepanschter Saft baumelt auf halbem Weg zwischen dem Kühlschrank und mir. Ich merke, dass ich so intensiv über Damen nachgedacht habe, dass ich vergessen habe, mich auf ihn einzustellen, um zu erspüren, ob er in der Nähe ist.
Ava schnappt nach Luft, und auf ihrer Miene zeichnet sich mit aufgerissenen Augen und offenem Mund die Maske der totalen Panik ab, die ich mir mühsam verkneife. Ich sehe Damen an und räuspere mich, ehe ich sage: »Es ist nicht so, wie du denkst!«
Was so ungefähr das Lahmste und Albernste ist, was ich hätte sagen können, denn es ist ja ganz genau so, wie er denkt. Ava und ich sind in sein Haus eingebrochen, um an seinen Lebensmittelvorräten herumzupfuschen. Ganz einfach.
Er lässt seine Tasche fallen, geht auf mich zu und sieht mich unverwandt an. »Du hast keine Ahnung, was ich denke.«
0 doch. Ich leide unter den schrecklichen Gedanken, die durch seinen Kopf wandern, seine mentalen Beschimpfungen á la Stalkerin! Freak! und noch weitaus Schlimmeres.
»Wie zum Teufel seid ihr überhaupt hier hereingekommen?«, will er wissen und blickt zwischen uns hin und her. »Ähm, Sheila hat mich durchgelassen«, sage ich, während ich mich frage, was ich mit der Flasche machen soll, die ich noch in der Hand halte.
An seiner Schläfe zuckt eine Ader, während er den Kopf schüttelt und die Fäuste ballt. Ich habe ihn noch nie so wütend gesehen, ja, nicht einmal geahnt, dass er dazu im Stande ist, und fühle mich ziemlich mies, weil ich den Anlass dafür geliefert habe.
»Mit Sheila rede ich noch«, sagt er und kann seine Wut kaum bezähmen. »Was ich wissen wollte, ist, was hast du hier drin verloren? In meinem Haus? Was hast du in meinem Kühlschrank zu suchen?« Er kneift die Augen zusammen. »Was zum Teufel treibst du hier?«
Ich sehe Ava an, total verlegen, weil sie mit ansieht, wie meine große Liebe so mit mir spricht.
»Und was ist mit ihr?« Er zeigt auf Ava. »Hast du deine Party-Hellseherin mitgebracht, damit sie irgendeinen Zauber veranstaltet?«
»Du erinnerst dich daran?« Ich lasse die Hand mit der Flasche fallen. Ich wusste ja nicht, was er aus unserer Vergangenheit behalten hat, und auch wenn es doof ist, erfüllt es mich mit Hoffnung, dass er sich noch an Ava erinnert. »Du erinnerst dich an Halloween?«, flüstere ich und denke an unseren ersten Kuss, draußen am Pool, wir beide verkleidet in den perfekt aufeinander abgestimmten Kostümen von Marie Antoinette und ihrem Geliebten Graf Fersen, ohne es abgesprochen zu haben.
»Ja, schon.« Er schüttelt den Kopf. »Und tut mir leid, dass ich dir das sagen muss, aber das war ein schwacher Moment, der nie wieder vorkommen wird. Ein Moment, den du viel zu ernst genommen hast. Und glaub mir, wenn ich gewusst hätte, was für ein Freak du in Wahrheit bist, hätte ich mir das Ganze gespart. Das war es nicht wert.«
Ich kämpfe mit den Tränen. Ich fühle mich leer und ausgehöhlt, mein Inneres ausgeweidet und weggeworfen, während jede Aussicht darauf schwindet, unsere Liebe - das Einzige, was dieses spezielle Leben lebenswert macht - zurückzuholen. Und obwohl ich mir sage, dass dies Romans Worte sind, nicht seine - dass der echte Damen gar nicht dazu fähig ist, irgendjemanden so zu behandeln -, macht das den Schmerz nicht geringer.
»Damen, bitte«, stoße ich schließlich hervor. »Ich weiß, dass alles gegen mich spricht. Das ist mir völlig klar. Aber ich kann es erklären. Wir wollten dir nämlich nur helfen.«
Er sieht mich dermaßen verächtlich an, dass ich mich in Grund und Boden schäme. Doch ich zwinge mich weiterzusprechen. »Jemand versucht, dich zu vergiften«, presse ich hervor und sehe ihn an. »Jemand, den du kennst.«
Er schüttelt den Kopf und kauft mir kein Wort ab. Überzeugt, dass ich nicht ganz dicht bin und schnellstens in eine geschlossene Anstalt gehöre.
»Und diese Person, die mich vergiften will, diese Person, die ich kenne, bist nicht vielleicht zufällig du?« Er geht noch einen Schritt auf mich zu. »Du bist doch diejenige, die in mein Haus eingebrochen ist. Du hast dich an meinem Kühlschrank zu schaffen gemacht und an meinen Getränken herumgepfuscht. Ich denke, die Beweise sprechen doch für sich.«
Ich schüttele den Kopf und spreche an dem Brennen in meiner Kehle vorbei, als ich sage: »Ich weiß, wonach es aussieht, aber du musst mir glauben! Es ist alles wahr, ich erfinde es nicht!«
Er tritt noch einen Schritt näher und bedrängt mich so gezielt, so langsam und planvoll, als würde er sich an ein Beutetier heranpirschen. Also beschließe ich, alles auf eine Karte zu setzen und ihm reinen Wein einzuschenken. Ich habe ohnehin nichts zu verlieren.
»Es ist Roman, klar?« Ich sauge den Atem ein und sehe, wie sein Gesichtsausdruck von vorwurfsvoll zu empört übergeht. »Dein neuer Freund Roman ist ...« Ich werfe einen Blick auf Ava und weiß, dass ich nicht sagen darf, was Roman wirklich ist - nämlich ein bösartig gewordener Unsterblicher, der Damen aus einem Grund, den ich erst noch herausfinden muss, umbringen will. Doch das spielt sowieso keine Rolle. Damen hat keine Erinnerung an Drina oder ans Unsterblichsein, er ist so weit weg, dass er es niemals begreifen könnte.
»Raus jetzt«, sagt er mit so eisigem Blick, dass es mich davon mehr fröstelt als von der kalten Luft aus seinem Kühlschrank.
»Haut verdammt noch mal ab, ehe ich die Polizei rufe.«
Ich schaue zu Ava hinüber, die das vergiftete Elixier im selben Moment ins Spülbecken kippt, als er seine Drohung ausspricht. Dann sehe ich Damen an, der sein Telefon gezückt hat und mit dem Zeigefinger erst die Neun drückt, dann eine Eins und dann ...
Ich muss ihn aufhalten. Ich kann nicht zulassen, dass er diesen Anruf tätigt. Ich kann nicht riskieren, dass die Polizei sich einmischt. Und so blicke ich ihm starr in die Augen, obwohl er den Blickkontakt mit mir vermeidet. Ich konzentriere einfach all meine Energie auf ihn, lasse meine Gedanken nach ihm ausgreifen und versuche, ihn weich zu machen und zu beeinflussen. Ich überschütte ihn mit dem mitfühlendsten, liebevollsten weißen Licht, in Verbindung mit einem Strauß telepathischer roter Tulpen, während ich ununterbrochen flüstere: »Kein Grund zur Aufregung.« Langsam weiche ich zurück. »Du brauchst niemanden anzurufen, wir gehen ja schon.« Ich halte den Atem an, als er das Telefon anstarrt und nicht begreift, warum er die letzte Eins nicht drücken kann.
Er hebt den Blick, und für einen ganz kurzen Moment, eigentlich nur ein Aufblitzen lang, ist der alte Damen wieder da. Er sieht mich an wie früher und schickt ein herrliches warmes Kribbeln über meine Haut. Und obwohl es sofort wieder aufhört, erfreue ich mich an allem, was ich kriegen kann.
Er wirft sein Telefon auf den Tresen und schüttelt den Kopf. Da ich weiß, dass wir schleunigst verschwinden müssen, bevor mein Einfluss ein Ende hat, schnappe ich mir meine Tasche und laufe zur Tür. Als ich mich umdrehe, sehe ich, wie er Kühlschrank und Schränke von sämtlichen Saftflaschen leert. Er macht die Deckel ab und kippt den Inhalt ins Spülbecken, überzeugt davon, dass er sie nicht mehr gefahrlos konsumieren kann, jetzt, da ich an ihnen herumgepfuscht habe.