SECHSUNDZWANZIG

Sowie ich mich der Tür zuwende, geht sie vor mir auf. Und da es keine von diesen automatischen Türen ist, wie man sie in Supermärkten findet, nehme ich an, es heißt, dass ich für würdig erachtet werde einzutreten.

Ich komme in eine große, weite Eingangshalle, die von strahlendem, warmem Licht erfüllt ist - ein allgegenwärtiges leuchtendes Strahlen, das wie überall im Sommerland jede Ecke durchdringt, jeden Winkel, jeden Raum und keinen Platz für Schatten oder dunkle Stellen lässt und nicht aus einer bestimmten Quelle zu kommen scheint. Dann gehe ich durch einen Korridor, der auf jeder Seite von einer Reihe weißer Marmorsäulen im Stil des antiken Griechenland flankiert wird. Dort sitzen an langen Holztischen Mönche in Kutten neben Priestern, Rabbis, Schamanen und allen Arten von Suchenden. Sie alle spähen in große Kristallkugeln und auf Levitationstafeln und betrachten die sich darbietenden Bilder.

Ich bleibe stehen und überlege, ob es unhöflich wäre, sie zu unterbrechen und zu fragen, ob sie mir sagen können, wie ich die Akasha-Chronik finde. Doch es herrscht solche Stille, und sie sind alle so vertieft, dass ich sie nicht stören will und stattdessen weitergehe. Ich komme an mehreren großartigen Statuen aus strahlend weißem Marmor vorbei, ehe ich einen großen, ausgeschmückten Raum betrete, der mich an die Kathedralen Italiens erinnert (oder zumindest an die Bilder, die ich davon gesehen habe). Genau wie diese besitzen sie Kuppeln, Buntglasfenster und aufwändige Fresken mit derart herrlichen Bildern, dass selbst Michelangelo zu Tränen gerührt gewesen wäre.

Ich stehe in der Mitte, den Kopf staunend in den Nacken gelegt, während ich versuche, alles aufzunehmen. Wieder und wieder drehe ich mich um mich selbst, bis ich müde bin und mir schwindelig wird und ich begreife, dass es unmöglich ist, alles in nur einem Besuch zu erfassen. Da ich bereits genug Zeit verschwendet habe, mache ich die Augen fest zu und folge Romys Rat - dass ich mir zuerst etwas wünschen muss, damit es existieren kann. Und kaum habe ich darum gebeten, zu den Antworten geführt zu werden, die ich suche, schlage ich die Augen auf, und ein langer Korridor erscheint.

Dort ist das Licht schwächer, als ich es bisher gewohnt bin - es ist eher ein schimmerndes Glühen. Und obwohl ich keine Ahnung habe, wohin der Gang führt, gehe ich los. Ich folge dem schönen, scheinbar endlosen persischen Läufer, fahre mit den Händen über eine von Hieroglyphen bedeckte Wand, wobei meine Fingerspitzen die Bilder berühren, während ihr Inhalt in meinem Kopf erscheint. Die gesamte Geschichte entfaltet sich nur durch Berührung, wie eine Art telepathische Blindenschrift.

Dann, auf einmal, ohne Vorwarnung, stehe ich am Eingang zu einem weiteren kunstvoll ausgestalteten Raum, nur dass dieser auf andere Art kunstvoll ist - nämlich nicht durch Statuen oder Wandschmuck, sondern durch seine reine, unverfälschte Schlichtheit.

Die gerundeten Wände sind glatt und glänzend, und obwohl sie im ersten Moment nur schlicht weiß erscheinen, erkenne ich bei näherer Inspektion, dass an ihnen überhaupt nichts schlicht ist. Es ist ein echtes Weiß, ein Weiß im reinsten Sinne. Eines, das man nur erhält, wenn man alle Farben miteinander mischt - ein ganzes Spektrum von Pigmenten, die allesamt miteinander verschmelzen, um die ultimative Lichtfarbe zu erzeugen -, genau wie ich es im Kunstunterricht gelernt habe. Und abgesehen von der üppigen Ansammlung von Prismen, die von der Decke hängen und mit ihren gewiss mehreren Tausend fein geschliffener Kristalle schimmernd und blinkend ein durch den Raum wirbelndes Farbkaleidoskop erzeugen, ist der einzige andere Gegenstand im Raum eine einzelne Marmorbank, die merkwürdig warm und bequem ist, vor allem für ein Material, das dafür bekannt ist, alles andere als das zu sein.

Nachdem ich mich gesetzt und die Hände im Schoß gefaltet habe, sehe ich zu, wie sich die Wände hinter mir hermetisch verschließen, als hätte es den Korridor, der mich hierher geführt hat, nie gegeben.

Doch ich habe keine Angst. Obwohl es keinen sichtbaren Ausgang gibt und es den Anschein hat, als sei ich in diesem merkwürdigen runden Raum gefangen, fühle ich mich sicher, in Frieden und geborgen. Als würde der Raum mich umhüllen, mich trösten und mich in seinen runden Wänden wie in großen, starken Armen aufnehmen.

Ich hole tief Luft und wünsche mir Antworten auf alle meine Fragen, während eine große Kristallscheibe direkt vor mir erscheint, dort an einer zuvor leeren Stelle schwebt und darauf wartet, dass ich den nächsten Schritt tue.

Doch jetzt, da ich der Antwort so nahe bin, hat sich auf einmal meine Frage verändert.

Anstatt mich also auf die Frage: Was ist mit Damen los, und wie kann ich es beheben?  zu konzentrieren, denke ich jetzt: Zeig mir alles, was ich über Damen wissen muss.

Dies könnte meine einzige Chance sein, so viel wie möglich über seine nebulöse Vergangenheit zu erfahren, über die er nicht sprechen will. Ich rede mir selbst ein, dass ich nicht spioniere, sondern nur nach Lösungen suche, und jede Information, die ich bekomme, lediglich meinem Anliegen dient. Denn wenn ich tatsächlich nicht würdig bin, es zu erfahren, dann wird mir auch nichts enthüllt. Also, was kann es dann schaden zu fragen? Und kaum habe ich den Gedanken zu Ende gedacht, als der Kristall zu surren beginnt. Er vibriert vor Energie, während eine Bilderflut seine Fläche überzieht, mit einem so klaren Bild, als wäre es HDTV.

Da ist eine kleine, vollgestopfte Werkstatt, deren Fenster mit einem schweren, dunklen Baumwollstoff verhängt sind und die von zahlreichen Kerzen erleuchtet wird. Und Damen ist da, kaum älter als drei Jahre, in einem einfachen braunen Kittel, der ihm bis über die Knie reicht. Er sitzt an einem Tisch voller kleiner, blubbernder Glaskolben, einem Haufen Steine, Dosen voller farbiger Pulver, Mörser und Stößel, Häufchen von Kräutern und Phiolen voller Färbemittel und sieht seinem Vater dabei zu, wie dieser seinen Federkiel in ein kleines Tintenfass tunkt und die Arbeit des Tages in einer Reihe komplizierter Symbole aufzeichnet. Immer wieder hält er inne und liest in einem Buch namens Corpus Hermeticum von Marsilio Ficino, während Damen ihn nachahmt und auf einem Blatt herumkritzelt.

Und er sieht so allerliebst aus, so rundwangig und engelsgleich, mit den braunen Haaren, die ihm über seine unverwechselbaren dunklen Augen fallen und sich in seinem zarten Babynacken kräuseln. Es sieht alles so real, so zugänglich und so nah aus, dass ich mir einbilde, ich brauchte nur Kontakt aufzunehmen, dann könnte ich seine Welt an seiner Seite miterleben.

Doch gerade als mein Finger sich nähert, erhitzt sich die Kristallscheibe auf eine unerträgliche Temperatur, und ich reiße die Hand zurück und sehe zu, wie meine Haut kurz Blasen schlägt und verbrennt, ehe sie augenblicklich wieder heilt. Die Grenzen stehen nun fest, ich darf zusehen, aber nicht eingreifen.

Das Bild springt im Schnellvorlauf zu Damens zehntem Geburtstag, einem ganz besonderen Tag, an dem er mit süßen Leckereien und einem spätnachmittäglichen Besuch in der Werkstatt seines Vaters verwöhnt wird. Die beiden teilen das wellige dunkle Haar, die glatte bräunliche Haut und das markante Kinn ebenso wie den Wunsch, das alchemistische Gebräu zu perfektionieren, das nicht nur Blei zu Gold zu machen verspricht, sondern auch das Leben auf unbestimmte Zeit verlängern kann - den sagenhaften Stein der Weisen.

Sie vertiefen sich in ihre Arbeit, ihre gewohnte Routine, wobei Damen ausgewählte Kräuter mit Mörser und Stößel zermahlt, ehe er sorgfältig Salze, Öle, farbige Tinkturen und Erze abwiegt, die sein Vater anschließend in die blubbernden Glaskolben gibt. Vor jedem Schritt hält er inne und kündigt an, was er tut, um seinen Sohn in der gemeinsamen Aufgabe zu unterweisen.

»Wir streben nach Verwandlung. Nach dem Wandel von Krankheit zu Gesundheit, von Alter zu Jugend, von Blei zu Gold, und vielleicht sogar nach Unsterblichkeit. Alles stammt von einem einzigen Grundelement ab, und wenn wir das auf seinen Kern zurückführen können, dann können wir daraus alles erschaffen!«

Damen lauscht fasziniert und saugt jedes Wort seines Vaters gierig auf, obwohl er die gleichen Sätze schon mehrmals vernommen hat. Und obwohl sie Italienisch sprechen, eine Sprache, die ich nie gelernt habe, verstehe ich irgendwie jedes Wort.

Er nennt jede Zutat, ehe er sie hinein gibt und dann, nur für heute, beschließt, die letzte noch wegzulassen - überzeugt, dass diese letzte Zutat, dieses merkwürdig aussehende Kraut, den Zauber noch verstärkt, wenn er es zu einem Elixier dazugibt, das schon drei Tage gereift ist.

Nachdem er das schillernde rote Gebräu in ein kleineres Glasfläschchen gegeben hat, deckt Damen es sorgfältig ab und stellt es in einen verborgenen Schrank. Sie haben gerade ihr Durcheinander aufgeräumt, als Damens Mutter -eine Schönheit mit sahneweißem Teint in einem schlichten Kleid aus Moireseide, das goldblonde Haar an den Seiten gewellt und am Hinterkopf von einer kleinen Kappe zusammengehalten - hereinkommt, um sie zum Essen zu rufen. Ihre Liebe ist so offensichtlich, so unleugbar und zeigt sich in dem Lächeln, das sie ihrem Gatten schenkt ebenso wie in dem Blick, den sie Damen zuwirft, und die dunklen, seelenvollen Augen der beiden geben einen perfekten Spiegel füreinander ab.

Gerade als sie sich zum Abendessen nach Hause aufmachen wollen, kommen drei dunkelhäutige Männer zur Tür hereingestürmt. Sie überwältigen Damens Vater und fordern das Elixier. Damens Mutter stößt ihren Sohn in den Schrank, wo es steht, und schärft ihm ein, drinnen zu bleiben und mucksmäuschenstill zu sein, bis er gefahrlos wieder herauskommen kann.

Damen kauert sich in den dunklen, feuchten Schrank und späht durch ein winziges Astloch hinaus. Er sieht, wie die Männer bei ihrer Suche die Werkstatt seines Vaters - sein Lebenswerk - zerstören. Doch obwohl sein Vater ihnen seine Notizen übergibt, reicht das nicht aus, um sie zu retten. Der zitternde Damen muss hilflos zusehen, wie seine Eltern ermordet werden.

Ich sitze auf der weißen Marmorbank, mir ist schwindelig, und mein Magen rebelliert, und ich spüre alles, was Damen spürt, seinen Gefühlsaufruhr, seine abgrundtiefe Verzweiflung - mein Blick ist getrübt von seinen Tränen, und mein Atem geht heiß, abgehackt und ununterscheidbar von seinem. Wir sind jetzt eins, verbunden in unvorstellbarem Schmerz.

Wir kennen beide die gleiche Art von Verlust.

Wir glauben beide, dass wir irgendwie daran schuld sind.

Er wäscht ihre Wunden und versorgt ihre Leichname in der festen Überzeugung, dass er binnen dreier Tage die letzte Zutat, das merkwürdig aussehende Kraut, beimengen und sie beide wieder zum Leben erwecken kann. Doch an diesem dritten und letzten Tag wird er von einer Gruppe Nachbarn aufgescheucht, die der Geruch gestört hat. Sie finden ihn zusammengerollt neben den beiden Toten, das Fläschchen mit dem Elixier fest in der Hand.

Er wehrt sich, schnappt sich das Kraut und mischt es mit letzter Kraft hinein. Entschlossen, seinen Eltern das Elixier zu geben und sie beide davon trinken zu lassen, wird er jedoch von seinen Nachbarn überwältigt, ehe er dazu kommt.

Da die Nachbarn ihn verdächtigen, eine Form von Hexerei zu praktizieren, wird er zum Kirchenmündel erklärt. Untröstlich über den Verlust seiner Eltern und aus allem, was er kennt und liebt, herausgerissen, wird er daraufhin von Priestern misshandelt, die ihm den Teufel austreiben wollen.

Er leidet schweigend, jahrelang - bis Drina auf den Plan tritt. Und Damen, inzwischen ein starker und schöner junger Mann von vierzehn Jahren, ist gebannt von ihrem feuerroten Haar, ihren smaragdgrünen Augen und ihrer milchweißen Haut. Sie ist so schön, dass man den Blick kaum abwenden kann.

Ich sehe sie zusammen und kann fast nicht mehr atmen, als sie eine derart liebevolle und beschützende Beziehung zueinander aufbauen, dass ich es bereue, je darum gebeten zu haben, dies sehen zu dürfen. Ich war voreilig, impulsiv und skrupellos und habe mir nicht die Zeit genommen, alles zu durchdenken. Denn obwohl sie nun tot ist und keine Bedrohung mehr für mich darstellt, ist es unerträglich für mich zuzusehen, wie er ihrem Zauber erliegt.

Er versorgt die Wunden, die ihr die Priester zugefügt haben, und behandelt sie mit großem Respekt und enormer Umsicht. Dabei unterdrückt er seine unleugbare Faszination für sie, entschlossen, sie lediglich zu beschützen, zu retten und ihr zur Flucht zu verhelfen. Die Gelegenheit kommt wesentlich früher als erwartet, als die Pest durch Florenz zieht - der gefürchtete Schwarze Tod, der Millionen von Menschen umbringt und seine Opfer zu einer leidenden Masse aufgeblähter, von Eiterbeulen geplagter Kranker macht.

Hilflos sieht er zu, wie etliche der anderen Waisenkinder krank werden und sterben, doch erst als Drina betroffen ist, kehrt er zum Lebenswerk seines Vaters zurück. Erneut mischt er das Elixier, dem er all die Jahre abgeschworen hat, da es für ihn untrennbar mit allem verbunden ist, was ihm lieb und teuer war. Doch jetzt bleibt ihm keine andere Wahl, und da er Drina nicht verlieren will, lässt er sie davon trinken. Dabei behält er genug für sich selbst und die anderen Waisenkinder zurück, in der Hoffnung, sie vor der Krankheit zu schützen, ohne zu ahnen, dass der Trank auch unsterblich macht.

Beseelt von einer Macht, die sie nicht begreifen, und immun gegenüber den Todesklagen der kranken und sterbenden Priester, verlassen die Waisen ihre Wohnstatt. Sie ziehen durch die Straßen von Florenz, wo sie die Leichen fleddern, während Damen mit Drina an seiner Seite nur ein Ziel kennt: die Rache an den drei Männern, die seine Eltern ermordet haben. Schließlich findet er sie sogar, jedoch nur um festzustellen, dass sie in Ermangelung der letzten Zutat von der Pest befallen worden sind.

Er wartet auf ihren Tod und quält sie mit dem Versprechen einer Heilung, das er nie zu halten beabsichtigt. Erstaunt von der Schalheit seines Sieges, als ihre Körper schließlich der Pest erliegen, wendet er sich Drina zu und sucht Trost in ihrer liebenden Umarmung ...

Ich schließe die Augen und will das alles aussperren, obwohl ich weiß, dass es für immer dort eingebrannt ist, ganz gleich, wie sehr ich mich auch bemühe. Denn zu wissen, dass sie fast sechshundert Jahre lang immer wieder ein Liebespaar waren, ist eine Sache. Das Ganze mit eigenen Augen mit ansehen zu müssen aber eine ganz andere.

Und obwohl ich es nur höchst ungern zugebe, kann ich einfach nicht übersehen, dass der alte Damen mit seiner Grausamkeit, seiner Gier und seiner Eitelkeit viel mit dem neuen Damen gemein hat - dem Damen, der mich wegen Stacia verlassen hat.

Nachdem ich mehr als ein Jahrhundert lang verfolgt habe, wie die beiden durch ein Band nie endender Lust und Gier miteinander verbunden waren, habe ich kein Interesse mehr an dem Teil, wo wir uns kennen lernen. Kein Interesse mehr daran, frühere Versionen von mir zu sehen. Wenn das heißt, dass ich mir noch mal hundert Jahre davon ansehen muss, dann ist es die Sache einfach nicht wert.

Und gerade als ich die Augen schließe und innerlich flehe - Bitte komm einfach zum Ende! Bitte! Ich ertrage es nicht, auch nur noch eine weitere Szene von alldem zu sehen! -, beginnt die Kristallscheibe zu flackern und zu flimmern, und ein Gewirr von Bildern rast darüber hinweg, so schnell, dass ich ein Bild kaum vom nächsten unterscheiden kann. Nur kurz mache ich Damen, Drina und mich in meinen verschiedenen Inkarnationen aus - brünett, rothaarig, blond -, während alles an mir vorübersaust, Gesicht und Körper unkenntlich, nur die Augen sind stets vertraut.

Selbst als ich es mir anders überlege und darum bitte, die Bilder langsamer ablaufen zu lassen, sausen sie ungebremst weiter. Schließlich erscheint ein Bild von Roman mit aufgeworfenen Lippen und triumphierender Miene, wie er auf einen sehr alten, sehr toten Damen herabblickt.

Und dann ...

Und dann - nichts.

Die Kristallscheibe erlischt.

»Nein!« schreie ich, wobei meine Stimme von den Wänden des hohen, leeren Raums abprallt und als Echo zurückkommt. »Bitte!«, flehe ich. »Komm zurück! Ich benehme mich besser. Ehrlich! Ich verspreche, weder eifersüchtig noch wütend zu werden. Ich sehe mir alles an, aber bitte spul zurück!«

Doch wie sehr ich auch bettele, wie sehr ich darum flehe, es noch einmal sehen zu dürfen - die Kristallscheibe ist weg, spurlos verschwunden.

Ich sehe mich um, suche nach jemandem, der mir helfen kann, irgendeine Art Bibliothekarin der Akasha-Chronik, obwohl ich ganz allein hier bin. Ich stütze den Kopf in die Hände und frage mich, wie ich so dumm sein konnte, meinen kleinlichen Eifersuchtsgefühlen und Unsicherheiten freien Lauf zu lassen.

Es ist ja nicht so, dass ich nicht über Damen und Drina Bescheid gewusst hätte oder nicht geahnt hätte, was ich zu sehen bekommen würde. Und jetzt, da ich zu feige war, um es mir anzuschauen und die darin enthaltenen Informationen zu verarbeiten, habe ich noch immer keine Ahnung, wie ich ihn retten kann. Keine Ahnung, wie wir von einem so wundervollen Anfang zu einem so schrecklichen Ende kommen konnten.

Ich weiß nur, dass Roman dafür verantwortlich ist - die jämmerliche Bestätigung dessen, was ich bereits erraten hatte. Irgendwie schwächt er Damen und beraubt ihn seiner Unsterblichkeit. Und wenn ich auch nur die geringste Chance haben will, ihn zu retten, muss ich herausfinden, wie und am besten auch, warum.

Denn ich weiß ganz sicher, dass Damen nicht altert. Er lebt schon seit über sechshundert Jahren und sieht immer noch aus wie ein Teenager.

Ich stütze den Kopf in die Hände und hasse mich selbst für meine Dummheit. Es ist so erbärmlich, dass ich mich selbst um die Möglichkeit gebracht habe, das zu erfahren, weswegen ich hergekommen bin. Ich wünschte, ich könnte die ganze Sitzung zurückspulen und noch mal von vorn anfangen, noch mal neu beginnen ...

»Du kannst nicht noch mal von vorn anfangen.«

Ich wende mich um, als ich hinter mir Romys Stimme höre, und frage mich, wie sie hier hereingekommen ist. Doch als ich mich umsehe, erkenne ich, dass ich gar nicht mehr in dem herrlichen runden Raum bin, sondern wieder in der Halle stehe - gleich neben den Tischen, wo vorhin die Mönche, Priester, Schamanen und Rabbis saßen.

»Und du solltest nie in die Zukunft vorspulen. Denn jedes Mal, wenn du das tust, nimmst du dir selbst den Weg dorthin weg, den Moment der Gegenwart, der ja letztlich das Einzige ist, was wirklich zählt.«

Ich frage mich, ob sie mein Debakel mit der Kristallscheibe meint oder das Leben im Allgemeinen.

Doch sie lächelt nur. »Alles okay?«

Ich zucke die Achseln. Warum soll ich es ihr erklären? Sie weiß es wahrscheinlich ohnehin schon.

»Nö.« Sie lehnt sich an den Tisch und schüttelt den Kopf. »Ich weiß überhaupt nichts. Was dort drinnen passiert, gehört dir und nur dir allein. Ich habe nur deinen entsetzten Schrei gehört und gedacht, ich sehe mal nach. Das ist alles. Nicht mehr und nicht weniger.«

»Und wo ist deine böse Schwester?«, frage ich, während ich mich umsehe und überlege, ob sie sich wohl irgendwo versteckt hält.

Aber Romy lächelt nur und bedeutet mir, ihr zu folgen. »Sie ist draußen und behält deine Freundin im Auge.«

»Ava ist hier?«, frage ich, erstaunt, wie sehr mich das erleichtert. Vor allem angesichts dessen, dass ich immer noch wütend auf sie bin, weil sie mich einfach so stehen lassen hat.

Doch Romy winkt nur noch ein letztes Mal, ehe sie mich durch die Vordertür zu der Treppe hinausführt, wo Ava wartet.

»Wo bist du denn gewesen?«, frage ich, wobei meine Frage eher wie ein Vorwurf klingt.

»Ich wurde ein bisschen abgelenkt.« Sie zuckt die Achseln. »Dieses Land ist ja so faszinierend. Ich ...« Sie sieht mich an in der Hoffnung, dass ich meinen Ärger ablege und ihr entgegenkomme, und wendet den Blick ab, als sie begreift, dass ich das nicht tue.

»Wie bist du hierher gekommen? Haben dich Romy und Rayne ...« Doch als ich mich umdrehe, sind sie alle beide verschwunden.

Ava blinzelt und spielt mit den frisch manifestierten goldenen Kreolen in ihrem Ohr. »Ich habe mir gewünscht, dich zu finden. Aber irgendwie komme ich nicht hinein.« Sie mustert mit gerunzelter Stirn die Eingangstür. »Ist sie das? Die Halle, die du gesucht hast?«

Ich nicke und mustere ihre teuren Schuhe und die Designer-Handtasche und werde immer wütender. Da nehme ich sie mit ins Sommerland, damit sie mir helfen kann, jemandem das Leben zu retten, und das Einzige, was sie will, ist shoppen.

»Ich weiß«, sagt sie und reagiert damit auf die Gedanken in meinem Kopf. »Ich habe mich hinreißen lassen, und das tut mir leid. Aber ich bin nach wie vor bereit, dir zu helfen, wenn du noch Hilfe brauchst. Oder hast du schon all die Antworten bekommen, die du gesucht hast?«

Ich presse die Lippen aufeinander, senke den Blick und schüttele den Kopf. »Ich ... ähm ... hatte gewisse Schwierigkeiten«, antworte ich, während mich eine Welle der Scham überkommt, vor allem, wenn ich daran denke, dass die Schwierigkeiten weitgehend selbst gemacht waren. »Ich fürchte, ich bin wieder genau da, wo ich angefangen habe«, füge ich hinzu und fühle mich wie die schlimmste Versagerin weit und breit.

»Vielleicht kann ich dir helfen?« Sie lächelt und drückt meinen Arm, damit ich weiß, dass sie es ehrlich meint.

Doch ich zucke nur die Achseln und bezweifle, dass sie momentan viel machen kann.

»Gib nicht so leicht auf«, sagt sie. »Das hier ist schließlich Sommerland. Hier ist alles möglich.«

Ich weiß, dass sie Recht hat, doch ich weiß auch, dass zu Hause, in der normalen Welt, große Aufgaben auf mich warten. Aufgaben, die meine gesamte Aufmerksamkeit und Konzentration erfordern werden und keinerlei Ablenkungen zulassen.

Als ich mit ihr die Treppe hinuntergehe, sehe ich sie an und sage: »Also, eines könntest du tun.«

 

Der blaue Mond
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