NEUNZEHN
Vor dem Kunstunterricht marschiere ich schnurstracks zum Materialschrank, ziehe meinen Kittel über, sammele meine Sachen zusammen und betrete gerade wieder den Raum, als Damen mit sonderbarem Blick in der Tür steht. Es ist ein Blick, der mich aber dennoch mit Hoffnung erfüllt, da seine Augen irgendwie leer sind und sein Kinn schlaff herunterhängt, sodass er verloren und unsicher wirkt, als brauchte er meine Hilfe.
Da ich weiß, dass ich die Gelegenheit ergreifen muss, solange sie noch mit hängendem Kinn vor mir steht, beuge ich mich zu ihm, berühre ihn sachte am Arm und sage: »Damen?« Meine Stimme ist rau und zittrig, als hätte ich sie den ganzen Tag noch nicht benutzt. »Damen, ist alles okay?« Mein Blick wandert über ihn, und ich muss gegen den Drang ankämpfen, meine Lippen fest auf seine zu pressen.
Während er mich mustert, zuckt in seinem Bück ein kurzer Lichtschein des Wiedererkennens auf, rasch gefolgt von Freundlichkeit, Sehnsucht und Liebe. Meine Finger nähern sich seiner Wange, und meine Augen füllen sich mit Tränen, als ich seine rötlichbraune Aura verblassen sehe und weiß, dass er wieder mir gehört...
Doch dann:
»Hey, mach Platz, mach Platz, du hältst ja hier den ganzen Verkehr auf.«
Und im Handumdrehen ist der alte Damen weg und der neue wieder da.
Er drängelt sich an mir vorbei, wobei seine Aura aufflammt und seine Gedanken durch meine Berührung zurückgedrängt werden. Ich drücke mich gegen die Wand und zucke zusammen, als Roman direkt hinter ihm hereinkommt und ganz zufällig meinen Körper mit seinem streift.
»Tut mir leid, Süße.« Er grinst anzüglich.
Ich schließe die Augen und halte mich an der Wand fest. Mir wird schwindlig, als das euphorische Wirbeln seiner leuchtenden, sonnigen Aura - seine intensive, einnehmende, optimistische Energie - mich regelrecht überspült und mein Gehirn mit dermaßen freundlichen und unschuldigen Bildern anfüllt, dass ich mich vor Scham winde, Scham wegen meiner ganzen Verdächtigungen, Scham, weil ich so abweisend war.
Trotzdem stimmt daran etwas nicht. Irgendetwas stimmt am Rhythmus nicht. Die meisten Köpfe sind ein Harmoniengewirr, ein Wortschwall, ein Bilderpuzzle, eine Kakophonie aus Geräuschen, die alle umherpurzeln wie beim wildesten Free Jazz. Doch Romans Kopf ist ordentlich aufgeräumt, und ein Gedanke geht sauber in den nächsten über. Dadurch wirkt das Ganze gezwungen, unnatürlich, wie ein vorher festgelegtes Drehbuch.
»Deinem Blick nach zu urteilen, Süße, war das für dich fast genauso schön wie für mich. Bist du sicher, dass du dir das mit unserem Date nicht noch mal überlegen willst?«
Sein kalter Atem weht gegen meine Wange, und seine Lippen kommen so nahe, dass ich fürchte, er könnte versuchen, mich zu küssen. Gerade als ich ihn wegschieben will, geht Damen an uns vorüber und sagt: »Hey, Mann, was treibst du denn da? Der Freak ist doch reinste Zeitverschwendung.«
Der Freak ist doch reinste Zeitverschwendung der Freak ist doch reinste Zeitverschwendung der Freak ist doch reinste Zeitverschwendung der Freak ist doch reinste Zeitverschwendung der Freak ist doch reinste Zeitverschwendung der Freak ist doch ... »Ever? Bist du gewachsen?«
Als ich aufsehe, steht Sabine neben mir und reicht mir eine frisch ausgespülte Schüssel, die für die Spülmaschine gedacht ist. Erst nachdem ich ein paarmal geblinzelt habe, begreife ich, dass es meine Aufgabe ist, sie dort hineinzustellen.
»Wie bitte, was?«, frage ich, als ich nach dem nassen Porzellan greife und es auf das Korbgitter gleiten lasse. Ich kann an nichts anderes mehr denken als an Damen und die verletzenden Worte, mit denen ich mich selbst quäle, indem ich sie mir wieder und wieder in Gedanken vorsage.
»Du siehst aus, als wärst du gewachsen. Ich bin mir sogar sicher. Ist das nicht die Jeans, die ich dir neulich erst gekauft habe?«
Ich sehe zu meinen Füßen hinunter und stelle verblüfft fest, dass mehrere Zentimeter Knöchel herausschauen. Dies ist umso bizarrer, als ich mich genau erinnern kann, dass noch am selben Morgen der Saum über den Boden geschleift ist. »Ähm ... Kann sein«, lüge ich, da ich weiß, dass wir beide wissen, dass es so ist.
Sabine blinzelt und schüttelt den Kopf: »Ich war mir sicher, dass es die richtige Größe ist. Anscheinend hast du gerade einen Wachstumsschub.« Sie zuckt die Achseln. »Aber du bist ja erst sechzehn, da ist es wohl noch nicht zu spät dafür.«
Erst sechzehn, aber verdammt nah an siebzehn, denke ich und sehne mich nach dem Tag, an dem ich achtzehn werde, mit der Schule fertig bin und allein irgendwohin ziehe, wo ich mit meinen gruseligen Geheimnissen allein sein kann, während Sabine ihr gewohntes Leben wieder aufnehmen kann. Ich habe ohnehin keine Ahnung, wie ich ihr ihre Freundlichkeit je vergelten kann, und jetzt steht auch noch eine überteuerte Jeans auf der Rechnung.
»Ich war mit fünfzehn ausgewachsen, doch es sieht so aus, als würdest du wesentlich größer werden als ich«, sagt sie lächelnd und reicht mir eine Handvoll Löffel.
Ich lächele matt und frage mich, wie groß ich wohl werde. Hoffentlich verwandele ich mich nicht in eine groteske Riesin wie irgendein Covergirl von Ripley's Believe it or Not! Im Laufe eines Tages acht Zentimeter größer zu werden ist kein normales Wachstum - ganz im Gegenteil.
Doch jetzt, da sie es erwähnt, fällt mir außerdem auf, wie schnell meine Nägel mittlerweile wachsen, sodass ich sie beinahe jeden Tag schneiden muss, und dass mein Pony schon bis übers Kinn geht, obwohl ich ihn erst seit ein paar Wochen wachsen lasse. Ganz zu schweigen davon, dass das Blau meiner Augen intensiver zu werden scheint, während meine leicht schiefen Schneidezähne gerade geworden sind. Und ganz egal, wie schlecht ich sie auch behandele, wie unregelmäßig ich sie reinige, meine Gesichtshaut bleibt klar, rein und völlig makellos.
Und jetzt bin ich seit dem Frühstück auch noch acht Zentimeter gewachsen?
Das kann nur an einem liegen - dem Unsterblichkeitssaft, den ich getrunken habe. Ich meine, obwohl ich schon ein gutes halbes Jahr unsterblich bin, hat sich im Grunde nichts groß verändert (na ja, abgesehen davon, dass jede Verletzung auf der Stelle verheilt), bis ich begonnen habe, den Saft zu trinken. Doch jetzt hat es den Anschein, als würden alle meine positiven körperlichen Eigenschaften größer und schöner, während die eher unvorteilhaften verschwinden.
Und während ich mich einerseits darüber freue und gespannt darauf bin, was mich noch erwartet, drängt sich mir andererseits der Gedanke auf, dass ich mein volles unsterbliches Potenzial gerade rechtzeitig entfalte, um den Rest der Ewigkeit allein zu verbringen.
»Das muss der Saft sein, den du ständig trinkst«, lacht Sabine. »Vielleicht sollte ich den auch mal probieren. Ich hätte nichts dagegen, endlich ohne Highheels über eins zweiundsechzig zu kommen!«
»Nein!«, sage ich, wobei mir die Worte aus dem Mund schießen, ehe ich sie zurückhalten kann, obwohl ich weiß, dass das ihr Interesse bloß weiter entfachen wird.
Sie sieht mich an, die Brauen zusammengekniffen und den feuchten Schwamm noch in der Hand.
»Ich meine, der schmeckt dir garantiert nicht. Wahrscheinlich fändest du ihn total eklig. Ehrlich, er schmeckt ganz schön seltsam.« Ich ringe um eine gelassene Miene, da ich mir nicht anmerken lassen will, dass mich ihre Äußerung komplett verstört hat.
»Tja, aber das weiß ich erst, wenn ich ihn probiert habe, oder?«, sagt sie, ohne den Blick von mir zu wenden. »Wo kriegst du das Zeug eigentlich her? Ich habe es noch nie in einem Laden entdeckt. Und ein Etikett habe ich auch noch nie gesehen. Wie heißt es überhaupt?«
»Ich bekomme den Saft von Damen«, sage ich und genieße das Gefühl seines Namens auf meinen Lippen, auch wenn das nicht dazu beiträgt, die Leere zu füllen, die seine Abwesenheit hinterlassen hat.
»Tja, dann bitte ihn doch, mir auch welchen zu besorgen, ja?«
Sowie sie es ausgesprochen hat, weiß ich, dass es nicht mehr nur um den Saft geht. Sie möchte mich dazu bringen, mich ihr anzuvertrauen und ihr seine Abwesenheit bei der Essenseinladung am Samstagabend und in den Tagen danach zu erklären.
Ich mache die Spülmaschine zu und wende mich ab. Dann gebe ich vor, einen Tresen abzuwischen, der schon längst sauber ist, und vermeide jeglichen Blickkontakt. »Also, das geht leider nicht. Vor allem weil ... wir ... wir gewissermaßen Pause machen«, sage ich, wobei mir peinlicherweise die Stimme bricht.
Sie streckt die Arme nach mir aus, will mich umarmen, mich trösten, mir versichern, dass alles wieder gut wird. Und obwohl ich ihr den Rücken zuwende und sie in physikalischem Sinne nicht sehen kann, sehe ich dennoch alles in meinem Kopf, und so trete ich beiseite und gehe ihr aus dem Weg.
»O Ever - das tut mir ja so leid! Ich wusste nicht...«, sagt sie, während ihre Hände hilflos seitlich herabhängen, da sie nicht weiß, was sie mit ihnen anfangen soll, jetzt, da ich mich von ihr entfernt habe.
Ich nicke und habe ein schlechtes Gewissen, weil ich mich wie üblich so kalt und distanziert gebe. Ich wünschte, ich könnte ihr erklären, dass ich den Körperkontakt nicht riskieren kann, da es mir zu gefährlich ist, ihre Geheimnisse zu erfahren. Dass mich das bloß aufwühlt und mir Bilder liefert, die mich nichts angehen. Ich meine, ich komme schon kaum mit meinen eigenen Geheimnissen klar, also bin ich alles andere als scharf darauf, auch noch ihre mit in den Topf zu werfen.
»Es ... Es ging ziemlich schnell«, sage ich, da ich weiß, dass sie keine Ruhe geben wird, bis sie ein bisschen mehr
aus mir herausgeholt hat. »Ich meine, es ist einfach irgendwie passiert ... und, ach, ich weiß eigentlich gar nicht, was ich sagen soll.«
»Ich bin da, falls du jemanden zum Reden brauchst.«
»Ich kann noch nicht darüber reden. Es ist... Es ist noch zu frisch, und ich muss mir erst über alles klar werden. Vielleicht später.« Ich zucke die Achseln und hoffe, dass zu dem »späteren« Zeitpunkt Damen und ich wieder zusammen sein werden und die ganze Angelegenheit geklärt ist.