KATHI THOMPSON

 

Die Reiseberaterin

 

Was sie weckte, war nicht der Donner, der scheußlich von den Bergen ringsum widerhallte, und nicht der heulende Wind, der den Regen gegen die mächtigen Mauern der Burg peitschte. Was in ihren Traum drang und letztlich den Faden zerriss, war das stete, drängende Pochen an der schweren eichenen Hallentür.

»Gütige Göttin, warum kommen die immer mitten in der Nacht?«, murrte sie und versuchte, sich an ihre Vision zu erinnern … Aber vergebens – es blieb ihr nur der vage Eindruck, dass ihr Erlebnis viel versprechend gewesen war, und das Bedauern, dass sie es nicht für ihre Kunst und Profession nutzen konnte. Je nun, vielleicht würde die nächste Nacht ja ergiebiger … Als sie so auf ihrem Nachttischchen kramte, um ihre kleine Lampe anzuzünden, pochte es so laut weiter, dass sie aufstand, ihre Robe vom Stuhl nahm und sie sich halb im Gehen anzog. An der Tür aber blieb sie stehen und sah zu ihrem Bett zurück.

»Kommst du?«, fragte sie das graue Fellbündel, das reglos und zusammengerollt am Fußende lag … Aber die Katze öffnete nur langsam ein großes goldenes Auge, sah sie einen Moment lang feierlich an und schloss es dann wieder.

»Nun, wie du willst. Wie immer!«, sagte sie, schmunzelnd, und öffnete die Zimmertür und eilte die Treppe hinab.

Sie hatte keine Angst vor niemandem, der in dieser Nacht vor ihrem Tor stand, wusste sie doch, dass nur die, denen der Sinn nach Reisen stand, zu ihrer Burg finden konnten. Wer anderes wollte, würde nur im Gebirge umherwandern, bis sein Vorsatz wankte oder die Berge ihn holten. Das Burgtor war schwer und ging bei feuchtem Wetter nicht sehr leicht … Und als sie es endlich auf hatte, stand sie einem bärtigen Hünen gegenüber.

Sie entbot ihm keinen Gruß, sah ihn nur an und wartete. Nach all seinem ungeduldigen Geklopfe wirkte er ja plötzlich sehr unsicher.

»Ist das die Burg der Reiseberaterin?«, fragte er vorsichtig.

»So ist es«, erwiderte sie, wie schon unzählige Male zuvor. »Tritt ein und sei willkommen!« Damit trat sie zurück – wäre aber fast durchnässt worden, als er an ihr vorüberdrängte und schwungvoll seinen durchweichten Umhang abnahm, noch ehe sie das Tor wieder schließen konnte … Da schüttelte sie nur den Kopf – die hatten es immer so eilig.

»Lass deinen Packen hier am Tor und häng deinen Umhang an den Kamin. Ich habe keine Bediensteten«, sagte sie. »Wenn du nun so gut wärst, dich ums Feuer zu kümmern, hätten wir beide es behaglicher. Und ich hole derweil eine kleine Erfrischung.«

Er nickte, hängte seinen Umhang auf und machte sich schon an die Arbeit, als sie hinausging. Als sie wiederkam, erhellte ein lustiges Feuer die Halle und machte er es sich in einem ihrer geschnitzten Kaminsessel bequem. Da servierte sie ihm wortlos Würzwein, Brot und Käse und nahm dann in dem anderen Sessel Platz.

Endlich brach sie das betretene Schweigen und sprach: »Sage mir, warum du reisen möchtest.« Sie musste das nicht wirklich wissen, hatte mit den Jahren aber gelernt, dass die Reisenden das Bedürfnis hatten, es zu sagen. Sie nickte hin und wieder, hörte aber nur halb zu, als er ihr eine vertraute Geschichte von Unrecht und Verrat und der Notwendigkeit erzählte, sich wiederzuholen, was rechtens sein war. Irgendwann wurde ihr bewusst, dass er verstummt war. Die Zeit war gekommen.

»Du hast das Entgelt?«, fragte sie leise. Er nickte, ging zu seinem Packen hinüber und brachte ihr ein Paket. Vorsichtig löste sie die vier Lagen Ölhaut, die dessen kostbaren Inhalt schützten. Als die letzte fort war und ein Stoß Papier, weiß und rein wie frisch gefallener Schnee, sichtbar war, lächelte sie zum ersten Mal und befühlte nachdenklich das erste Blatt, drang mit ihren Sinnen tief darin ein … Gute Qualität, kaum Unreinheiten, keine Magierückstände. Für ihre Zwecke bestens geeignet. Tinten konnte sie, mit dem reichlichen Angebot der Wälder ringsum, leicht herstellen, aber Papier war so schwer zu fertigen wie zu beschaffen – und so deckten die Reisenden ihren Bedarf.

»Gut«, sagte sie, erhob sich von ihrem Platz am Kamin, ging zu einem kleinen Holzschrank an der Wand gegenüber, öffnete ihn und legte das Papier behutsam auf ein Bord.

Darunter standen ein dickes Buch und eine Sanduhr. Das Buch hatte einen Einband aus dunkelblauem Leder, der stellenweise deutliche Gebrauchsspuren zeigte. Und manche der Seiten waren vergilbt, andere hingegen elfenbeinfarben und wieder andere ganz weiß. Sie waren aber nicht beschrieben, sondern mit je einer sehr detailgenauen und klaren Zeichnung versehen. Und auf dem Einband stand in Schmuckschrift und goldenen Lettern »Ein Reiseführer zu Anderen Welten«.

Behutsam nahm sie Buch und Stundenglas und trug sie zu einem Tischchen, winkte ihm, herzukommen und sich zu setzen, legte das Buch vor ihn hin und nahm dann, das Glas in der Linken, ihm gegenüber Platz. Da langte er rasch nach dem Buch, um es aufzuschlagen, aber sie hielt seinen Arm fest.

»Noch nicht. Es ist, dem Brauch gemäß, zuvor noch einiges zu klären. Was weißt du über dieses Buch?«

»Dass die Seiten Tore zu anderen Welten sind, in die Reisende gehen können, um zu finden, was sie suchen.«

»So ist es, aber dabei gelten gewisse Bedingungen. Sobald du das Buch öffnest, drehe ich diese Sanduhr um: Du darfst die Bilder nur betrachten, bis sie abgelaufen ist. Du kannst mir zu jeder Seite bis zu zwei Fragen stellen, die ich bloß mit Ja oder mit Nein beantworten darf, aber als Reiseberaterin wahrheitsgemäß beantworten muss … Wenn du deine Entscheidung getroffen hast, kannst du noch, ehe du durch dein Tor gehst, eine Zusatzfrage stellen. Aber du musst sie gestellt und das Tor passiert haben, ehe das letzte Sandkorn fällt, sonst ist dein Entgelt verwirkt und du musst gehen, so wie du gekommen bist. Einverstanden?«

Er zögerte einen Sekundenbruchteil lang, erwiderte dann aber entschieden: »Einverstanden.«

»Dann magst du meinethalben anfangen«, sagte sie und drehte das Stundenglas um. Und der Sand darin begann zu rinnen.

Er schlug das Buch rasch in der Mitte auf, überschlug einige Seiten, die Wüsten und Einöden und stürmische Meere zeigten, verhielt bei einer mit dem Bilde purpurner Moore und fragte: »Kann ich dort Söldner dingen?«

»Ja«, erwiderte sie.

Er sah kurz zu ihr auf, doch ihr Gesicht verriet ihm nichts. »Werden sie mir in unserer Welt loyal bleiben?«

»Nein.«

Da blätterte er weiter, und bei der Darstellung eines klaren Bergbachs setzte er zur nächsten Frage an, bremste sich aber … dachte nach und fragte lächelnd: »Kann ich dort Söldner dingen, die mir in unserer Welt loyal bleiben?«

»Ja«, antwortete sie – und nichts in ihrem Gesicht verriet, dass sie belustigt war: He, der lernte ja schnell! Vielleicht diesmal …

Die Minuten vergingen im Flug, als er da blätterte und seine Fragen immer detaillierter und präziser wurden. Und sie sah auf das Stundenglas, und als sie nun den Mund auftat, um ihn zu warnen, ihm zu sagen, dass seine Zeit fast vorüber sei, da sprach er:

»Ich habe mich entschieden«, erklärte er und kehrte zu einer Seite zurück, zu der er sie nur Minuten zuvor befragt hatte.

»Gut. Hast du noch eine letzte Frage an mich?«

Er sah auf, sah ihr einen langen Moment lang in die Augen.

»Werde ich es schaffen?«

Sie lachte leise. Wie oft sie diese Frage gehört hatte. »Ich bin keine Seherin, die weissagt, ich kann nur Informationen geben, die den Reisenden auf ihrem Weg helfen. Du darfst mir eine andere Frage stellen, da ich diese nicht wahrheitsgemäß beantworten kann. Aber mach schnell, denn deine Zeit ist fast verronnen.«

Da überlegte er noch kurz, schüttelte dann aber den Kopf und sagte: »Nein, ich bin bereit.«

»Wie du willst!« Nun holte sie ihm seine Sachen und stellte sich, als sie sie ihm gegeben hatte, einfach hinter ihn und sagte: »Sieh dir das Bild genau an, schließe dann die Augen. Stelle es dir vor, lege dann die Hand darauf und stelle dir vor, du wärest dort.« Und als ihr die letzten Worte über die Lippen gekommen waren, verschwand er, mitsamt dem Blatt.

Sie stand noch für einen Moment reglos da, bückte sich dann langsam und schloss das Buch. Oh, sie hatte solche Hoffnungen gehabt! Müde, enttäuscht, nahm sie Buch und Stundenglas und stellte beides in das Schränkchen zurück. Dann ging sie zum Kamin, bedeckte die Glut und stieg langsam die Treppe hoch, hoch in ihr Schlafgemach.

»Nun, Katze«, sagte sie, dankbar, sich wieder ins Bett legen zu können. »Schon wieder einen auf seinen Weg geschickt.« Da öffnete die Katze wieder so ein Goldauge und miaute fragend.

»Nein«, seufzte sie leise und löschte noch das Licht. »Aber vielleicht ist ja der nächste klug genug, diese letzte Frage zu stellen: ›Wie komme ich zurück?‹«

Silberschwester - 14
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