PATRICIA DUFFY NOVAK

 

Der Troll am Mondtor

 

Der Troll starrte sie an, und sie starrte ihn an. Nur einen Moment zuvor hatte sie allein vor der Mondburg gestanden und sich vorsichtig umgesehen. Dann war dieser Troll erschienen, einfach aus dem Nichts, wie auf den Fleck gezaubert.

»Arggg«, keuchte er nun.

Hoffentlich ist das Trollunterhaltungston, dachte Shale. Ihr Schwert wäre gegen seine harte Trollschwarte ja nutzlos. Sie machte kurz eine Bestandsaufnahme ihrer sonstigen Ausrüstung – ein Paar abgewetzte Stiefel, lederne Reithosen, Lederwams, bronzene Armschützer …

Hmm. Sie warf einen Blick auf ihre dicken erzenen Armbänder. Trolle waren ja bekanntlich ganz wild auf goldenen Tand. Und sie waren bekanntlich auch recht dumm, und das Mondlicht war –Vollmond hin, Vollmond her – nicht eben blendend hell! Sie streifte einen ihrer Armschützer ab, schwenkte ihn einladend vor ihm. »Troll mag schönes Gold? Wunderschön. Siehst du?«

Und er nahm sich mit einem Prankenhieb das dargebotene Band, hielt es über seinen Kopf, musterte, begutachtete es kurz, schniefte dann verächtlich und schleuderte das Ding in hohem Bogen den Hang hinab in Richtung Wald. Nicht misszuverstehen, das, dachte sie, und gar nicht so dumm, der Kerl, wenigstens in puncto Bronze oder Gold.

Eher Instinkt als Schläue lenkte nun ihren nächsten Zug: Sie ließ sich fallen, den Hang hinabrollen. Der war nicht steil, doch steil genug für ihre Zwecke. Drunten angelangt, sprang sie auf und rannte los und versuchte, die polternden Schritt in ihrem Rücken zu ignorieren. Zuvor, bei der Erkundung der Örtlichkeit, hatte sie eine schmale Spalte entdeckt, die in den Felsen genau unter der hohen glatten Burgmauer führte … Mit etwas Glück passte sie nun in diese Öffnung. Sonst endete sie wohl als Mitternachtshappen des Trolls.

So schnell ihre Beine sie tragen wollten, lief sie die Mauer entlang. Der üble Atem des Trolls schlug ihr heiß und feucht gegen die bloßen Oberarme, und der Luftzug seiner rudernden mächtigen Arme ließ ihr kurzes Haar flattern … Mutter eines Moorbrenners, das wird knapp, dachte sie, als sie sich so hastig in das enge Loch zwängte, dass sie sich die Arme schrammte. Bloß gut, dass sie und Karl auf so knappen Rationen gewesen waren, seit dem Aufbruch von Noria, sechs Wochen zuvor … Mit ihrer Normalfigur hätte sie da vielleicht nicht hineingepasst!

Als sie sich seitlich in den Spalt gequetscht hatte, drehte sie behutsam den Kopf, um nach dem Kerl zu sehen. Vielleicht geht er ja nach Hause, dachte sie. Was immer für jenes Wesen »zu Hause« heißen mochte. In diesem Teil Askuriens sollte es doch eigentlich überhaupt keine Trolle geben!

Aber nein … der Troll kauerte sich hin und glotzte sie mit seinen scheußlichen gelben Lichtern an. Bis zum Morgengrauen waren es noch Stunden. Sie hatte also eine lange, grässliche Nacht vor sich. Jetzt legte er den Kopf zurück, stieß ein langes, trauriges Geheul aus und kam dann etwas näher herangekrochen, so nahe, dass ihr sein ekliger, stinkender Atem ins Gesicht schlug. Und in eben diesem Moment wurde ihr schmerzlich bewusst, dass ihre Blase übervoll war. Eine lange Nacht, in der Tat!

 

Kurz nach Tagesanbruch stieß Shale die Tür des Gasthauses in der Straße der Narren auf, wo sie und ihr Partner Karl – für Kost und Logis – in den betriebsamen Nachtstunden für Ruhe und Ordnung sorgten. Die Muskeln pochten ihr von der langen Hockerei im Felsspalt, und die tiefen Schrammen in den Armen brannten wie Feuer.

Karl lag unter seiner Decke auf den Dielen und schlief. Als Shale näher kam, erwachte er mit einem lauten Schnarcher und setzte sich schwerfällig auf. Seine langen roten Haare waren in seinen Bart verheddert und seine Augen so umschattet, als ob er auch nicht viel mehr Schlaf gehabt hätte als sie.

»Du siehst ja schlimmer aus als der Troll!«, sagte Shale.

»Welcher Troll?«, brummte er und fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen.

»Der, der mich die ganze verdammte Nacht in einer Felsspalte festgehalten hat!«, knurrte sie, legte ihr Schwertgehenk ab und warf es zu Boden, dass es dröhnte.

Karl schüttelte den Kopf und streckte sich. »So weit westlich der Eisenhundberge gibt es keine Trolle.«

»Geh, sag das dem Troll! Bei Frams Stirn, Karl, ist dir denn gar nicht aufgefallen, dass ich nicht zurückkam?«

»Ich dachte mir eben, du hättest es wohl vorgezogen, im Wald zu übernachten. Der Boden dort ist sicher weicher als das!« Damit erhob er sich, in allen Gelenken knackend. Er hatte in Hose, Hemd und Wams geschlafen. Aber wo waren seine Stiefel? Sie erspähte sie auf der anderen Seite der Stube, bei einem der Tische: wie betrunken an ihre Packen gelehnt.

»Ich«, fauchte sie, »verbrachte die Nacht in eine Felsspalte gezwängt, vor der ein Troll auf mich lauerte!«

»Tut mir Leid!« Das klang ehrlich zerknirscht. »Ich habe mir deinetwegen wirklich keine Sorgen gemacht … Du kommst immer gut mit allem zurecht. Besser als drei Männer, sage ich immer!«

»War vielleicht auch besser«, erwiderte sie, durch sein Lob schon etwas besänftigt. »Wärest du gekommen, um nach mir zu suchen, hätte der Troll wohl kurzen Prozess mit dir gemacht. Du hättest nicht in diese Spalte gepasst, die mir Schutz bot, auch wenn du seit Noria sicher ein Dutzend Pfund abgenommen hast.«

Er strich sich über seine mageren Rippen. »Wenn uns diese Arbeit glückt, brauchen wir uns um das Essen nie mehr Sorgen zu machen.«

»Ein riesiges Wenn, Karl«, sagte sie stirnrunzelnd. »In dem alten Pergament war nicht von einem Troll als Wächter die Rede.«

»Nein, wirklich nicht«, pflichtete er ihr bei. »Und was ist mit der Burgmauer? Kommen wir da drüber?«

Sie schüttelte den Kopf. »Unersteigbar. Wir müssen durch das Tor, und das erscheint laut Pergament ja nur beim Schein des Vollmonds.«

Da schlurfte er quer durch die Stube zu einer der Bänke mit Rückenlehne, nahm Platz und machte sich daran, seine Stiefel anzuziehen. »Das wird morgen sein. Ob der Troll dann noch da ist?«

»Ich sehe keinen Grund, warum nicht.«

»Dann überlege ich mir wohl besser, wie wir ihn loswerden!«

»Schön.« Karl kämpfte nicht so gut wie sie, konnte aber, wenn er wollte, recht gut denken. Sie war mehr als glücklich, es ihm überlassen zu können, das Rätsel um den Troll zu lösen … Zu müde, auch bloß daran zu denken, sich das Blut von den Armen und den Dreck vom Rest des Körpers abzuwaschen, streckte sie sich auf Karls verwaister Decke aus und hoffte einfach, dass ihr bis zum Eintreffen des Personals Zeit für ein kurzes Nickerchen bliebe. Oder auch für ein längeres. Das Wirtshaus öffnete ja erst zu Mittag.

 

Von einem Poltern wachte sie auf. Pochenden Herzens sprang sie hoch und tastete nach ihrem Schwert.

»Entschuldige, Fräulein.« Aus dem hinteren Teil der Stube, wo das durchs Türfenster fallende Sonnenlicht nicht hindrang, war eine tiefe Stimme zu vernehmen.

Sie spähte in das Dunkel. Die Stimme, stellte sie bald fest, gehörte Will, dem Wirtssohn. Ein junger Mann mit angenehmen Manieren, den sie den Morgen zuvor, als sie mit Karl hier im Dörfchen Lachsfall eintraf, kennen gelernt hatte.

Mit dem Besen in der Hand stand er da neben einem umgefallenen Stuhl. »Ich habe versucht, leise zu sein, um dich nicht zu wecken. Aber da geriet mir der Besenstiel unter die Lehne und warf den Stuhl um.«

Schon wieder mit fast normalem Herzschlag, brachte Shale ein Lächeln zuwege. »Schon gut. Übrigens, wie spät ist es denn?«

»Elf Uhr«, sagte Will, ihr Lächeln erwidernd. »Ich hatte nicht damit gerechnet, dich um die Zeit noch schlafend hier vorzufinden. Hat dich denn niemand vor dem starken Wein der Region gewarnt?«

»Der Wein war gestern Abend meine kleinste Sorge. Ich habe mit einem Troll Fangen gespielt!«

»Hier herum gibt es doch gar keine Trolle.«

»Das habe ich auch gedacht.«

Da trat er, den Besen noch in der Hand, aus dem Dunkel – der große, blonde Kerl mit dem langen Kinn und der kerzengeraden schmalen Nase seines Vaters und den kohlschwarzen Augen, den schweren Lidern seiner Mutter –, und er zog den Mund schief und musterte sie mit einem seltsamen Blick: »Deine Arme sind ja blutig. Bist du verletzt?«

»Nicht ernstlich.«

Er löste den Blick nicht von ihrem Gesicht. »Wollt ihr diese Prinzessin retten?«

Sie nickte.

»Das hat meine Mutter ja auch gemeint, aber mein Vater sagt, nein, ihr seid bloß zwei abgebrannte Söldner und seht beide nicht wie Hexer aus«, sagte er und musterte sie schräg. »Und du siehst immer noch nicht danach aus … Aber dann denke ich wieder, dass Magier ja auch nicht ständig in Roben gehen!«

»Keiner von uns beiden praktiziert Magie«, sagte Shale. »Ich bin geprüfte Schwertmeisterin. Und er …« Sie zögerte. Karl hatte als Junge Magie studiert, sich aber nicht qualifiziert. Doch er kannte sich da aus, wenn auch nur theoretisch, und war nicht ungeschickt im Umgang mit dem Schwert. »Karl ist ein guter Gefährte in kitzligen Lagen.«

»Die anderen waren alle Magier«, erwiderte Will mit ziemlich skeptischem Blick.

»Die anderen sind alle gescheitert«, sagte sie und wog ihre Klinge in der Hand. »Also ich, ich baue auf das Schwert.«

»Je nun, dann viel Glück, Fräulein. Über euer Metier bewahrt ihr aber besser Stillschweigen. Mutter und Vater mögen hier keinen Helden. «

»Nein?« Shale hob eine Braue. Normalerweise hatten Wirte die Abenteurer mit ihren wilden Geschichten, ihrer romantischen Aura doch ab und zu recht gerne.

»Meine Schwester ist mit dem letzten Abenteurer, den wir zu Gast hatten, abgehauen«, versetzte er mit düsterer Stimme. »Ein Magier namens Frolo war das. Jetzt muss ich hier die Arbeit für zwei machen!«

Shale runzelte die Stirn – sie hatte gedacht, das Los derer, die versucht hatten, Prinzessin Arminna aus der Mondburg zu holen, sei der Tod gewesen. »Und Frolo ist noch am Leben?«

»Ja«, sagte er. »Meine Schwester hat ihm, soweit wir wissen, jenes Burgabenteuer ausgeredet. Er kam hier eines Abends vor etwa einem Monat an. Am nächsten Morgen waren er und Belinda auf und davon. Und ein Händler, der am Nachmittag des Weges kam, erzählte, er habe einen Mann im Magiergewand, mit einer jungen Frau hinter sich, nach Norden reiten gesehen. Und das war das Letzte, was wir von ihm wie von ihr gehört haben.«

»Tut mir Leid«, murmelte sie. Das erklärte jedoch, warum das Gasthaus Hilfe hatte gebrauchen können. Will sah aus, als ob er eine zähe Kraft in seinen langen Gliedmaßen hätte. Er hatte hier vor seiner Ernennung zum Kellner wohl als Rausschmeißer Dienst getan. Sie sah sich in der Schankstube um, entdeckte hinten eine Tür. »Könnte ich mich denn in der Küche etwas waschen?«

»Nur zu! Über dem Herd hängen Handtücher!«, erwiderte er, sah sie aber weiter so grüblerisch an.

»Was ist?«

Er bekam einen ziemlich lüsternen Blick, wurde puterrot im Gesicht. »Du hast wohl nicht Lust, mich mitzunehmen, oder?«

»Was?«

»Mich mitnehmen. Ach, weißt du, mich hinter dich aufs Pferd nehmen und von all dem hier fortbringen«, brummte der junge Mann und wies mit dem Besen so in die Runde. »Ich habe diese Arbeit schrecklich satt!«

»Tut mir Leid«, sagte sie, nicht im Leisesten interessiert, mochte der Junge auch gut aussehen. Er konnte ja nicht viel über zwanzig sein – gut ein Dutzend Jährchen jünger als sie. »Junge Männer zu verführen zählt nicht zu meinen Hobbys. Und außerdem, ich habe kein Pferd.«

Will stieß einen Seufzer aus. »Das wäre es dann«, sagte er mit verdrossener Miene. »Ich habe keine zweite Abenteurerin mehr gesehen. Und werde das wohl auch nicht. Ich sitze hier offenbar fest. Belinda, die hat immer Schwein gehabt!« Damit machte er sich, wie in sein irdisches Los ergeben, wieder ans Kehren.

Ein Lachen unterdrückend, verzog sie sich in die Küche. Nach ein paar Pumpbewegungen donnerte ein Schwall kalten Wassers in das metallene Spülbecken. Jetzt fing Shale nun doch an zu kichern: Den Jungen mitnehmen! Was für eine Idee! Über beide Ohren grinsend, nahm sie sich ein Stück grobe, gelbe Seife und begann, sich die Arme zu waschen.

 

Shale musterte stirnrunzelnd das kleine Säckchen, das Karl ihr in seiner riesigen Hand hinhielt. Links und rechts von ihnen schlenderten schon die ersten Gäste des Abends in die Schänke. Ruhig bisher. Bis Ärger in der Luft läge, brauchte es noch einige Stunden und viele Humpen Bier. »Was ist das?«

»Trollblume, altes Gegenmittel. Eine Kräuterhexe aus dem Ort hat es mir verkauft.«

»Wie viel?«

»Zwei Rote«, brummte er, achselzuckend ob ihres skeptischen Blickes. »Wenn wir die Prinzessin erlösen, ist Geld ja kein Problem mehr. Kennst du ein besseres Mittel gegen Trolle?«

»Nein«, gab sie zu, nahm ihm das Säcklein ab und roch daran. Das Kraut hatte einen starken, stechenden Geruch, der ihr fremd und unvertraut war. »Wie wirkt es?«

»Das sei wie Katzenminze für Trolle, meinte die Hexe. Man streut es auf den Boden, und der Troll rollt sich und tollt herum wie ein Kätzchen.«

Das wird ja ein Anblick! dachte Shale. Aber, wenn es diesen Kerl außer Gefecht setzt, solange sie die Prinzessin Arminna von Noria aus der Hand dieser Zauberin befreiten … Arminnas Vater hatte ja auf ihre glückliche Errettung eine stattliche Belohnung ausgesetzt!

Aber bislang war keiner jener Abenteurer, die durchs Mondtor gegangen waren, zurückgekehrt. Ja, eine ernüchternde Bilanz, aber sie war bereit, dieses Risiko einzugehen … Zehn Jahre zuvor, bei ihrem Eintritt in die Schwertgilde, da hatte sie gelobt, für das Recht zu kämpfen. Und die Prinzessin hatte ja nichts getan, wodurch sie diese Gefangenschaft verdient hätte – nichts, außer den eifersüchtigen Hass dieser Hexe zu erregen, die bis zu Arminnas Erblühen als die schönste Frau im ganzen Lande gegolten hatte. Und die Götter, ihre Götter, schätzten gute Taten aller Arten. Wenn sie also bei diesem Unternehmen reich würde, umso besser!

 

Es wurde spät, weit nach Mitternacht, bis sie und Karl endlich aufbrechen konnten. Es war an diesem Abend laut und gereizt zugegangen in der Schänke, und sie hatten manchen Krakeeler an die frische Luft setzen müssen, ehe sie Feierabend machen konnten.

Bald hatten sie die Burg, die etwa eine Meile östlich am Fuß einer kleineren Gebirgskette lag, erreicht. In der Schlucht unweit davon brauste der Wasserfall, dem das Dorf den Namen verdankte. Nun kauerten die beiden, sein gedämpftes Tosen im Ohr, eine Bogenschussweite vom Zentrum der grellweißen Mauer entfernt, hinter einer stämmigen Kiefer. Eine Wolke bedeckte den Mond, so dass Dunkel über den Wäldern lag. Von dem Troll war noch nichts zu sehen oder zu hören … aber letzte Nacht war das »Ding« ja auch erst aufgetaucht, als sie schon fast am Tor stand.

Als der Mond wieder hinter der Wolke hervorkam, tat sich in der fünfzig Fuß hohen Wand eine golden glühende Öffnung auf, durch die der hohe Turm im Zentrum der verzauberten Burg zu erkennen war. »Das Tor!«, flüsterte Karl und wies darauf.

»Warum ein Mondtor, frage ich mich?«, murmelte Shale.

»Vielleicht, weil die Zauberin eine Mondhexe ist«, sagte er. »Sie muss die Macht ja irgendwie einfallen lassen. Sonst würde der Bau, der wohl auf Illusionen gründet, einstürzen, in Trümmer fallen. Darum das Tor. Nur Pech für uns, dass ihre Macht mit dem Mond abnimmt …« Und er musterte eingehend und mit leicht gerunzelter Stirn die ragende Pforte. »Die beste Waffe gegen Illusionen ist harter Stahl. So lass dein Schwert tanzen, was immer du zu erblicken glaubst, und wir schaffen es.«

Jetzt konnte sie nur hoffen, dass seine Kenntnis des Obskuren auf der Höhe der anstehenden Aufgabe sei – denn ihre eigenen Fähigkeiten beschränkten sich auf die zum Schwertkampf. »Der Troll wirkte ganz schön wirklich«, sagte sie.

»Er ist das Rätselhafte daran. Diese Hexe muss ihn irgendwie hergelockt haben«, versetzte er und löste dann das Säcklein Trollblumen vom Gürtel. »Und ab geht’s!« Damit lief er los, den Hang hoch und aufs Tor zu.

Doch ehe er es erreichte … kam der Troll um die westliche Mauerecke geschlurft. Da leerte er hastig sein Säcklein aus und wich etwas zurück.

Der Troll blieb, mit erhobenem Haupt und bebenden Nüstern, ein paar Schritte vor ihm jäh stehen, setzte sich genau auf die Stelle, wo das Kraut verstreut war … legte aber, statt herumzutollen, den monströsen Kopf in die Pfoten und stimmte ein herzzerreißendes Geheul an. Vor Verblüffung alles Übrige vergessend, starrte Shale ihn an – bis ein vor ihren Füßen landender Stein ihr Augenmerk auf Karl lenkte, der ihr vom Tor aus hektisch winkte.

Da zog sie ihr Schwert, jagte den Hang hoch und folgte nach einem letzten Blick auf den armen Troll ihrem Partner durch das enge Tor, durch das der Troll nur halb gepasst hätte, ja, selbst Karl nur mit Mühe passte.

Mondlicht lag auf dem kaltweißen Pflaster des Burghofs. Kein Baum, Strauch oder anderes Lebewesen störte die kristalline Schönheit dieses Orts. Wie eingefangenes Mondlicht, in Stein verwandelt, genau wie Karl vermutete, dachte Shale. Aus der Mitte des gepflasterten Hofes aber erhob sich der Bergfried, ebenso kalt und schön, gen Himmel. Droben, an der Seite, sah Shale eine Öffnung – ein schmales Fenster, aus dem silberner Schein fiel … Und bis auf ihr Atemgeräusch war kein Laut zu hören. Das Geheul des Trolls und das Murmeln des Wasserfalls sperrten wohl die Mauern aus.

»Was ist nun mit dem Troll?«, flüsterte Shale. »So sollte das Kraut doch nicht wirken, oder?«

»Wen schert’s?«, meinte Karl nur und hob die Hände. »Wir sind drin!«

»Was nun?«, fragte sie und zeigte auf die glatte Turmmauer.

»Ich gedachte, zur Vordertür hineinzugehen«, meinte er und musterte kopfschüttelnd den Turm. »Nur ist da keine … Doch vielleicht kann ich dir ja hochhelfen.«

Aber auch auf seinen Schultern stehend, reichte sie nur halb so hoch wie nötig. Leise fluchend sprang sie zu Boden. »Wir müssen zurück, ein Seil holen. Ich hoffe aber nur, dass deine Trollblume auch lange genug wirkt.«

Ein Lärm am Tor ließ sie aufhorchen. Sie fuhr herum, Schwert in der Hand, bereit, jedweden Dämon zu verjagen. Doch bei dem Anblick, der sich ihr bot, riss sie Mund und Augen auf – Will, der Sohn des Wirts, mit Seil und Axt bewaffnet, stand vor ihr.

Ein Seil! Ihr Ärger über seine Einmischung wich rasch einem Anflug von Dankbarkeit. »Woher wusstest du denn, dass wir das brauchen?«, fragte sie und wies auf das schöne Seil.

»Bevor Belinda fortlief, kam ich bei Mondschein oft hierher, um die Burg anzustarren. Ich hätte wohl auch versucht, diese Prinzessin zu retten, wenn nicht all die Magier gescheitert wären. Dachte, da hätte ich doch erst recht keine Chance!«

»Und der Troll?«, fragte Karl. »Hattest du keine Angst vor ihm?«

»Den habe ich ja früher nie gesehen«, sagte Will. »Aber ich konnte auch schon ein paar Wochen nicht mehr herkommen … Ich habe übrigens gesehen, was du mit dem Gewürzbeutelchen gemacht hast.« Das war nun an Karl gerichtet. »Erstaunlich, dass es gewirkt hat! Die alte Maria hat dir doch einen Beutel Oregano verkauft. Nun hat sie sich in der ganzen Stadt schon darüber lustig gemacht!«

»Oregano?«, staunte Shale über das exotische Wort. »Was ist das?«

»Ein Lieblingsgewürz meiner Mutter«, erklärte Will grinsend. »Prima für Tomatensoßen … Aber ohne eine Spur von magischer Kraft. «

»Schwester des Eissplitters!«, fluchte Karl. »Die widerliche alte Hexe hätte uns umbringen können!«

»Nun, wie du gesagt hast: Es hat gewirkt!«, meinte Shale aber achselzuckend. »Also, weiter denn mit dieser Rettungsaktion. Gib mir das Seil, Will!«

Da schlang sie ein Seilende um ihren Dolch, stieg wieder auf Karls Schultern und warf ihren improvisierten Anker ein ums andere Mal durch das Turmfenster, bis er irgendwo fasste, und kletterte dann, im Vertrauen auf ihr Glück und auf ihr zähes Fell, an dem Seil hoch und in die Kammer hinein.

Außerhalb des Mondscheinkegels war es finster in der Kammer. Tastend fand Shale das Seilende, das sich um irgendeine Steinstatue gewickelt hatte. Sie löste den Dolch wieder und schlang das eine Seilende um diese Skulptur, ließ das andere vom Fenster hinab. »Komm herauf, Karl!« Doch als der große, schwere Mann heraufstieg, sah sie unten Will warten, bereit nachzukommen, und so zog sie, sobald Karl hereingeklettert war, das lose Ende mit einem Ruck herauf und rief Will zu: »Mach, dass du nach Hause kommst! Deine Mutter hat schon ein Kind verloren. Das genügt!«

Will fiel der Unterkiefer herab. »Das ist unfair!«, rief er.

»Dein Pech!«, spottete sie und zog sich ins Dunkel der Stube zurück. »Karl?«, flüsterte sie nun. Keine Antwort. Sie zückte ihr Schwert, tappte im Dunkeln vor. Und stieß mit dem Fuß an den Sockel der Statue. Aber als sie die Hand ausstreckte, um irgendwo Halt zu finden, trafen ihre Finger einen steinernen Bart. Also … den Bart hatte sie doch vorher nicht!, dachte sie verdutzt und suchte mit dem Fuß den Sockel ab. Kein Seil zu spüren … Und als sie hastig das Steingesicht abtastete, fanden ihre Finger allzu vertraute Züge wieder. Karl! Irgendetwas in dieser Stube hatte ihn zu Stein verwandelt.

Die beste Waffe gegen Mondmagie ist harter Stahl. Sie fasste ihr Schwert beidhändig und schloss beide Augen, um gar nicht erst in Versuchung zu kommen, sich in dieser Finsternis auf sie zu verlassen – eine Schwertmeisterin kann ja blind, bloß nach Gehör und Geruch, kämpfen … Die Nüstern gebläht, holte sie tief Luft, versuchte die Düfte in dem Raum zu erkennen, zuzuordnen –Seide, Stein, Kupfer, ein Hauch von Knoblauch aus Karls vergangenem Atem … Da: ein seltsam moschusartiger Geruch, von ihrer Linken her! Sie hielt die Luft an, spitzte die Ohren. Leise, unregelmäßige Atemgeräusche, aus derselben Richtung wie dieser tierische Gestank …

Das Biest hatte sicher Nachtaugen! Sie machte kehrt, wie um in die andere Ecke zu … Ein Lufthauch im Nacken – das Biest sprang sie an. Sie fuhr herum, schwang ihr Schwert – es traf auf Widerstand, Fleisch und Bein. Ein Schrei! Sie riss hastig die Klinge heraus, schlug wieder zu, höher diesmal, dorthin, wo sie den Hals der Kreatur vermutete … Diesmal erstarb der Schrei gleich wieder, folgte ein dumpfer Aufschlag.

Da zog sie das Schwert aus dem Kadaver, rief wieder leise nach Karl.

»Heh?«, kam seine gemurmelte Antwort. »Wo bist du, Shale? Ich kann gar nichts sehen. Bin ich blind?«

»Nein, es ist stockdunkel hier drinnen. Hast du keine Fackel dabei?«

Und sie hatte kaum geendet, als sie schon ein leises Zischen vernahm. Ein schwaches grünliches Licht, das ihr nach dieser Finsternis aber wie ein Flutlicht erschien, erhellte nun die Kammer. Da sah sie zu ihren Füßen ein hässliches Warzenwesen liegen, das voller gräulicher Beulen war.

»Ein Steindämon«, sagte Karl. »Gute Arbeit, Shale!«

Anders als das Tier, wirkte der Raum eigentlich recht normal – wie der Salon in einem Adelshaus, wenn nicht an einer Wand die Statuen aufgereiht gewesen wären. Und eine hatte noch das Seil um den Fuß … Keine davon war sonderlich schön, und die meisten hatten eher bizarre Mienen in ihren Steingesichtern. »Eine seltsame Kollektion von Dekorationen!«, murmelte sie.

»Keine Dekorationen«, erwiderte er. »Die übrigen Opfer des Dämons. «

»Warum sind sie nicht wieder zum Leben erwacht, als ich ihn tötete?«

»Der Bann ist nach Ablauf eines Tages nicht mehr zu lösen«, sagte er seufzend und sah sich um. »Oh, wie dumm. Wir könnten Hilfe brauchen!«

Von der dunklen Marmorwand gegenüber zeichnete sich der Umriss einer Tür ab. »Da durch!«, rief Karl, zog sein Schwert und wies darauf.

Die Tür ging auf ein Treppenhaus, das nur in Dunkelheit und Nacht zu führen schien. »Hoch!«, sagte Karl. »Diese Zauberin bezieht ihre Macht vom Mond. Sie dürfte die Prinzessin also am höchsten Punkt der Burg verbergen.«

Laut dröhnten die blanken Steinstufen unter ihren Stiefeln. Wer immer da oben lauert, wird ja zur Genüge gewarnt, dachte Shale grimmig, wenn er nicht sowieso weiß, dass wir kommen … Eine lange Treppe, und etwa auf halbem Wege ging ihnen die Fackel zischend aus, sodass sie wieder im Dunkeln standen. Da hörte Shale auch sogleich etwas über sich rauschen und flattern. Sie stach blindlings in die Luft, hörte dann auch einen Schrei – schüttelte ihr Schwert, dass etwas davon abfiel, ein kleines, schweres Etwas.

»Oh!«, rief Karl. »Vorsicht, Shale. Die beißen!«

Doch seine Warnung kam zu spät: Sie spürte bereits, wie sich rasiermesserscharfe Zähne in ihren Arm gruben … Sie zog mit der freien Hand den Dolch und stach zu. Wieder plumpste eine der Kreaturen zu Boden! Da ließ sie beide Klingen vor ihrem Gesicht wirbeln und stieg, dem gleichmäßigen Schritt und den regelmäßig zu hörenden Flüchen ihres Partners folgend, weiter.

Ein dumpfer Schlag, gefolgt von noch einem Fluch, zeigte das Ende ihrer Treppensteigerei an. »Da ist eine Tür!«, sagte Karl. Und dann: »Oh! Schluss nun!« Das Zischen einer Klinge, ein scharfer, unmenschlicher Schrei – und ein leiser Plumps. »Rasch, hier oben sind noch mehr dieser fliegenden Viecher!«

Und als er sie neben sich wusste, warf er sich mit all seinem Gewicht gegen die Tür, sodass sie nachgab und quietschend nach innen schwang. Kaum eingetreten, schloss er sie wieder hinter ihnen beiden, sperrte so die fledermausartigen Biester aus. Versperrt uns aber auch den Fluchtweg, dachte Shale nun bei sich. Aber sie konnte ihm das nicht verübeln. Sie hatte ja, dank ihrer Schwertkünste, nur einen Biss abbekommen, er aber, nach der Zahl seiner Flüche zu urteilen, wohl mindestens ein Dutzend.

Im Schein des Mondes, das hier vier Deckenfenster einließen, und dem zweier Lampen, die beiderseits eines Divans standen, war das Innere dieses Raums recht gut zu erkennen: Wieder so eine Art Salon, nur diesmal ohne Statuen, dachte Shale. Erst meinte sie auch, sie seien dort allein … aber dann sah sie eine Gestalt aus dem Dunkel der Ecke treten.

»Meine Helden«, sprach diese junge Frau, die ins Lampenlicht trat, mit leiser, angenehmer Stimme. Eine schlanke Schönheit war das, mit blondem Haar, das ihr in langen Wogen über die milchweißen Arme fiel, und dichten Wimpern und großen Augen darunter, die Shales Blick offen erwiderten. Eine lange Robe aus einem glänzenden Stoff spielte in weichen Falten um ihre sanft schwellenden Brüste und so fein geschwungenen Hüften. Karl holte tief Luft. Diese Frau sprach offensichtlich nicht nur seinen Sinn für Ästhetik an … Kein Wunder, dass sie den Neid der Zauberin erregt hatte.

Nun kam die junge Schönheit schwebend fast näher, ließ dabei den Blick von Shale zu Karl huschen und dann auf ihm ruhen. »Ich habe so lange auf meine Erlösung gewartet«, sprach sie. »Lass mich dich mit einem Kuss belohnen.«

Damit streckte sie ihre schönen weißen Arme nach Karl aus … Und ihre spitzen Fingernägel glitzerten im Lampenlicht so schön, so rot.

Shale verfolgte das mit jähem Argwohn – in ihrem Kopf pochte ein Wort von Karl. »So weit westlich der Eisenhundberge gibt es keine Trolle.« Etwas blitzte auf im Mondlicht, nur knapp vor den greifenden Händen. Und eh diese langen weißen Finger sich um seinen Hals legen konnten, warf Shale ihren Dolch.

Karl schrie noch vor der jungen Frau: »Shale! Du mörderische Närrin!«, rief er und beugte sich über die zusammengesunkene Gestalt. »Tot!« Er starrte Shale böse an. »Bei den Göttern, Frau, du warst doch bisher noch nie eifersüchtig!«

»Ist das alles, was dir einfällt?«, fauchte sie. »Und du, du nennst mich eine ›Närrin‹! Schau dir doch einmal ihre Nägel an. Los, mach schon!«

Also nahm er die Hände der Toten, hielt sie gegen das Licht. »Monddolche!«, keuchte er nun und schüttelte den Kopf. »Woher wusstest du das? Du hast das doch aus der Entfernung bestimmt nicht gesehen. Ich, der ich näher dran war …«

Shale trat zu ihm und musterte diese langen roten Nägel. Wie sie vermutet hatte: In deren Spitzen waren drahtdünne Nadeln eingelegt, unheimlich mondgelb glänzten sie. Zehn insgesamt, wobei eine vermutlich genügt hätte, um Karl zu erledigen.

»Ich sah etwas blitzen. Aber das hat meinen Argwohn nur noch bestätigt«, sagte sie und erwiderte ruhig seinen verdutzten Blick. »Höre, mein Freund«, fuhr sie sodann freundlich fort. »Glaubst du etwa, eine richtige Prinzessin, und sei sie noch so dankbar, wollte dich wirklich auf dein bös nach Knoblauch stinkendes, bartbedecktes Maul küssen?«

»Nur weil du Bart und Knoblauch nicht magst, glaubst du, dass sie alle deine kleinen Empfindlichkeiten teilen!«

Mutter eines Sumpfdämons! dachte sie. Sind denn alle Männer so schrecklich eitel? Karl war zwar keineswegs hässlich, aber schwerlich der Typ Mann, den so eine Frau von Adel begehren würde –und die rot umringten Pusteln, die ihm auf den Armen und im Gesicht blühten, machten ihn auch nicht anziehender. Sie bückte sie sich, um ihren Dolch zu bergen. »Dann wollen wir deine Attraktivität mal testen … Gehen wir die richtige Prinzessin einfordern!«

»Du weißt, wo sie ist?«, rief er, eine kupferrote Augenbraue hebend.

»Natürlich. Du hast es mir ja selbst gesagt!«

»Was?« Die zweite Braue fügte sich zur ersten, was denn ein umgekehrtes V auf seiner Stirn ergab.

»Komm schon«, erwiderte sie grinsend. »Ich zeige es dir.«

Als Shale am Seil in den Hof hinabrutschte, hörte sie Karl, der ihr vorangegangen war, derbe fluchen: »Drachenkot!«, rief er. »Wo kann dieser Bursche bloß hin sein! Ich hoffe, unser Troll hat ihn nicht erwischt.«

»Es ist bestimmt wohlauf!«, sagte sie darauf.

Als sie nun durchs Tor schlich, sah sie einen Blondschopf im Mondschein glänzen. Will! Er hielt eine junge Frau umfangen – ihr Gesicht war nicht zu sehen, lag ganz im Schatten seiner Schulter. »Da ist deine Prinzessin«, sagte Shale, auf dieses Paar in fester Umarmung weisend, das ihres Kommens gar nicht gewahr schien.

»Wie zum Teufel?«, knurrte Karl, starren Blicks. »Wo ist die denn hergekommen?«

»Du hast es selbst gesagt«, meinte sie grinsend. »›So weit westlich der Eisenhundberge gibt es keine Trolle.‹ Die Hexe muss die Prinzessin verwandelt haben. Ich glaubte, der Troll bedrohte mich. Doch er … sie … bat wohl nur um Hilfe.«

Karl schüttelte den Kopf. »Eine Mondhexe ist doch zu solchem Zauber nicht fähig … Derlei Magie bringt bloß ein mächtiger Bluthexer hervor! Die Prinzessin muss vor uns aus dem Fenster gestiegen sein.« Damit ging er auf die beiden zu. Und Shale folgte ihm das kurze Stück.

»Schön, Will«, rief er dann barsch. »Ich sehe, du hast mir die Prinzessin gut behütet!«

Will fuhr auf. Und nun sah Shale zu ihrem Erstaunen, dass die junge Frau, die er umarmt hatte, nur von gängiger Schönheit war – attraktiv zwar, aber nichts Spektakuläres. Wie hatte die Mondhexe für das arme junge Ding nur solche Eifersucht, solchen Hass hegen können?

»Prinzessin?«, wiederholte Will, vor Staunen den Kopf schief haltend. »Das ist keine Prinzessin. Sondern meine Schwester Belinda!«

Shale blieb der Mund offen stehen, als Karl ihr jetzt, da sie neben ihn trat, schwer eine Hand auf die Schulter legte, als ob er Halt suchte. Nicht nur einmal, sondern zweimal im Lauf einer Nacht um eine Prinzessin gebracht zu werden, war wohl mehr an Enttäuschung … als ein Mann vertragen konnte.

Sie musterte die junge Frau. »Wie kommst du hierher?«

»Frolo brachte mich her«, erwiderte die und wrang in ihrem schweren Baumwollhemd die Hände. »Er machte mich glauben, er liebte mich und wollte in Noria in einem guten Hause mit mir leben. Stattdessen hat er mich gefesselt und geknebelt und hierher gebracht und in der engen Höhle versteckt, in die du, hohe Frau, dich letzte Nacht gerettet hast. Dann hat er mich in einen Troll verwandelt. Ich versuchte ja, dich zu warnen, brachte aber kein menschliches Wort mehr hervor.«

»Und wo ist die Prinzessin?«, fragte Karl.

»Mit Frolo fort«, sagte die junge Frau, nun mit angedeutetem Knicks in seine Richtung. »Er machte der Hexe weis, er werde die Prinzessin in ein Monster verwandeln. Und diese Hexe hat ihn gut dafür bezahlt … Aber dann hat er mich verwandelt!« Eine große Träne kullerte ihr die Wange herab. »Ach, es war schrecklich …«

»Ja, sehr schrecklich«, sagte Shale, der die Visionen von reicher Belohnung wie Schnee im März wegschmolzen und durch die weit weniger angenehme Aussicht auf die Fortdauer des Geldmangels ersetzt wurden. Nun, vielleicht verbarg die Burg noch etwas Verheißungsvolles. Doch wie sie sich umdrehte, um die Feste genau in Augenschein zu nehmen – verschwand der Mond wieder hinter einer Wolke und barst die Burg, sank lautlos in Staub und Trümmer.

»Meine Eltern werden euch gut belohnen«, rief Will, auch die Ruine im Blick. »Nun, so gut sie können«, verbesserte er sich da. »Ihr könntet wohl bei uns fest angestellt werden, wenn ihr wollt.«

»Danke, nein«, murmelte sie, sich eine sarkastische Antwort verbeißend. Sie war Schwertmeisterin, nicht Rausschmeißerin, auch wenn sie sich letzthin als eine solche hatte verdingen müssen. Karl sagte kein Wort, starrte nur düster Belinda und dann die Burgruine an.

»Ich habe mich noch nicht einmal bedankt«, sagte Belinda und kniete nieder, küsste Shale die Hand, sah dann – ein scheues Lächeln auf den Lippen – zu Karl hin und stand auf, stellte sich auf die Zehenspitzen, pflanzte ihm einen Kuss auf die Wange, der ihn aus seinem brütenden Schweigen riss.

»Nun, das ist doch etwas für meine Mühe«, seufzte er da und zwinkerte Shale zu. »Ich habe dir ja gesagt, dass ich mit den Frauen kann!«

»Fein für dich«, meinte die, mit weit weniger Enthusiasmus, als er an den Tag legte. »Warum nutzt du deinen Charme nicht eher ‘dazu, hier eine begüterte Dame zu finden, die ein Paar Leibwächter braucht? Dieses Abenteuer hat uns ja nicht mehr eingebracht als ein paar Bisse und Schrammen und eine große Müdigkeit.«

»Und meine Dankbarkeit!«, murmelte Belinda.

»Und meine!«, rief Will und rückte näher an Shales Seite.

»Ich werde dich nicht mitnehmen«, flüsterte sie ihm zu. »Ich habe so schon genug Probleme.«

»Nun, da meine Schwester zurück ist, ist mir doch nicht mehr so nach Weggehen! Und ich könnte dir vermutlich helfen, eine bessere Arbeit als diesen Kneipendienst zu finden. Etwa als Leibwächterin, wie du gesagt hast. Ich habe ja gewisse, mmh, Kontakte zu einigen der reicheren Damen des Ortes. Wäre das als Belohnung genehm?«

Shale sah vom Bruder zur Schwester, die sie mit offenbarer Dankbarkeit anstrahlte … Da war sie also aufgebrochen, eine Prinzessin zu befreien – und hatte dafür eine Wirtstochter befreit. Aber Fram galt das Leben einer Wirtstochter so viel wie jedes andere … Und was täte sie, Shale, in Reichtum und Luxus? Fett und träge werden und ihre Kunst verlernen? Ach, ihr juckte nun der Schwertarm! Eine Arbeit als Leibwächterin bekäme ihr wohl besser als ein Leben in Trägheit. »Das wäre ja sehr genehm«, sagte sie. »Wir würden uns über deine Hilfe freuen.«

»Und in der Zwischenzeit«, meinte Karl, »hätten deine Eltern sicher gute Betten für uns, in denen man so richtig schlafen kann?«

»Ganz bestimmt«, sagte Will. »Und etwas Bargeld obendrein!« Shale grinste, schon wieder frischen Mutes. »So kommt!«, rief sie munter und nahm Karls Arm … und los ging es, den Hügel hinab. Sie hatten eine gute Tat vollbracht: die Wirtstochter gerettet und die Mondhexe getötet. Und eine Belohnung war ja schließlich eine Belohnung.

Silberschwester - 14
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