CHRISTINA KRUEGER
Hoch gestellte Freunde
»Das wird nicht gehen, Sim.«
Sim drehte sich zu seiner Gefährtin um, einem dunkelhaarigen mageren Mädchen, das wohl zwei Jahre jünger war als er, und sagte, verächtlich lächelnd: »Ich kann mich nicht erinnern, dich nach deiner Meinung gefragt zu haben, Novizin!«
»Und ich mich nicht, dass ich dich um Sprecherlaubnis bitten müsste, Akoluth!«, erwiderte Rayla, eher genervt als gekränkt. Seine Arroganz, sein herablassendes Getue waren im Lauf dieser zweitägigen Bergtour doch recht ermüdend geworden. Sie nahm denn einen neuen Anlauf: »Wenn diese Avire nun so gut sehen, wie Meister Ramonars Buch sagt …«
„… wird eine den Köder erspähen und mir direkt ins Netz gehen!«, fauchte er. »Das Buch sagt auch, Avire seien nicht sehr schlau. Aber ich erwarte natürlich nicht, dass du es so weit gelesen hast!«
Sie hatte in Wahrheit das ganze Buch gelesen, von vorne bis hinten, hütete sich aber, das zu sagen, und tat lieber einen schweren Seufzer und änderte ihre Haltung, weil ihr die Knie schon schmerzten.
Wie sie dann in den schönen Herbsthimmel starrte, fragte sie sich, welche Gottheit sie gekränkt hatte, dass sie zur Strafe mit so einem rüpelhaften Idioten hinter einem Felsen kauern musste, anstatt in der Gerberei ihrer Familie ganz lustig und vergnügt das feinste Leder zu fertigen … Warum war sie, als Einziges von fünf Geschwistern, mit dem magischen Talent zur Welt gekommen? Ach, sie war, um das Ganze noch schlimmer zu machen, auch noch ein guter Zauberlehrling! Aus eben diesem Grund hatte Meister Ramonar sie nun, statt eines Schülers im Rang eines Akoluthen, mit Sim losgeschickt. Jetzt lagen sie hier auf der Lauer und warteten darauf, dass ihnen eine Avir in diese Falle ginge, die ein Sechsjähriger mit verbundenen Augen noch erkannt hätte. Und Sim, typisch!, ließ natürlich sie die Magiearbeit machen und hatte sich nur dazu bestimmt, dann am Strick zu ziehen … Aber als jüngeres Semester musste sie leider seinen Anweisungen Folge leisten, und er achtete sehr darauf, sie immer wieder daran zu erinnern. So schluckte sie ihren Zorn und sagte noch stumm ihren Zauberspruch auf, mit dem sie gleich diese Avir einschläfern würde – wenn sie eine fingen.
Das Geräusch des Flügelschlags einer hinter ihrem Felsen landenden Kreatur riss sie aus einem Nickerchen. Und als sie sah, dass Sim sich halb in die Hocke hob und das Seil zu dem mit Laub getarnten großen Netz fasste, reckte sie sich ebenso, um festzustellen, was sich da auf der Lichtung tat … doch was sie bei ihrem Blick über die Steinkante sah, verschlug ihr den Atem …
Das geflügelte Wesen, das nun ihren verzauberten Silberköder untersuchte, war ganz sicher nicht das dümmliche wilde Ding, das ihr altehrwürdiges Buch beschrieb. Nein, was Rayla jetzt erblickte, war ein zartes weibliches Wesen, das in weiches, mit Runen besticktes Leder und in feines Linnen gewandet war und einen leichten Bogen aus Goldholz bei sich trug. Das suchte mit seinen braunen Augen diese Wiese ab und schlug mit kräftigen Adlerschwingen, dass es rauschte.
Rayla packte Sim am Ohrläppchen, lehnte sich eng an ihn und flüsterte ihm eindringlich zu: »Da stimmt doch etwas nicht! Das Buch sagt ja, Avire seien wilde Wesen! Aber sieh sie dir doch an, Sim! Sie ist so zivilisiert wie wir!«
»Halt den Mund und tu, was wir vereinbart haben!«, fauchte er und zog jäh den Kopf zurück. Da nickte sie entschlossen und ließ ihre Schlafmagie los …
Er blickte sie zuerst entsetzt an, sank dann jedoch bewusstlos nieder. Mit einem Seufzer der Erleichterung stand sie auf – und sah sich einer scharfen Pfeilspitze gegenüber.
Die Avir stand breitbeinig auf dem Felsblock, die Schwingen gebreitet und den Bogen gespannt. Rayla hob die leeren Hände und versuchte, so harmlos wie möglich auszusehen.
Aber die Avir verzog leicht den Mund. »Was genau hattest du vor, Mädchen?«, fragte sie in so singendem Tonfall. »Was auch immer, es war recht plump!«
Rayla schluckte schwer. »Das Netz war Sims Idee«, sagte sie nun und wies mit dem Kopf auf ihren schnarchenden Kameraden. »Meister Ramonar hat uns geschickt, damit wir eine von euch finden und uns von ihr eine Feder für den Levitationszauber holen.«
»Verstehe …«, sagte die Avir gelassen, ließ aber Pfeil und Bogen auf der Höhe ihrer Augen. »Doch, wie hättet ihr euch von mir eine geholt?«
»Ich hätte dich mit dem Köder gelockt und dich dann um eine gebeten!«
»Gute Antwort«, versetzte die Vogelfrau lächelnd und senkte den Bogen. »Als ich Meister Ramonar bat, mir einen Lehrling zu besorgen, da war er sich nicht sicher, ob er das Passende habe. Schön, dass er dich schickt … Ich mag deine Art, etwas zu tun.«
»Mich?«, stammelte Rayla verdutzt. »Aber … Bist du denn eine Zauberin?«
Da winkte die Avir sacht zu Sim hin und murmelte etwas dazu. Und gleich stöhnte er und öffnete die Augen. Nach nur einem Blick auf die mit Pfeil und Bogen bewaffnete Vogelfrau aber sprang er auf und überließ Rayla ihrem Los und lief um sein Leben.
Die Avir schüttelte angeekelt den Kopf, langte lächelnd nach hinten und zupfte nur … »Nimm diese beiden Federn. Die eine ist für die Magie und diese andere für dich«, sprach sie und zwinkerte Rayla fröhlich zu. »Bis zum Sommer dann, Kleine.«
Rayla drehte ihre Federn nachdenklich in den Händen, als die Vogelfrau sich nun in die Lüfte erhob.
Die Gerberei, die konnte ja vielleicht warten.