25
Dich würde ich überall erkennen

Um 7:30 Uhr werde ich von der Polka geweckt. Es ist das erste Mal, dass ich die Weckfunktion meines Handys benutze, und ich bin froh, dass es funktioniert. Ich fühle mich erholt und strecke mich auf meiner weichen, durchhängenden Matratze. Dabei lasse ich in Gedanken die Ereignisse des gestrigen Tages Revue passieren: das Haus in Albatross, Mickeys Anruf, Peter, der mich hierher begleitet hat. Und da war noch etwas.

Milton.

Ich suche seine Nummer in meinem Handy. Milton nimmt beim ersten Klingeln ab.

»Ich kann es nicht fassen, dass die Frau mich nicht gesehen hat!«, entfährt es ihm so laut, dass ich das Handy von meinem Ohr wegnehmen muss. Sein kindlicher Unglaube in Kombination mit seiner tiefen Männerstimme füllen mein Motelzimmer mit einem Hauch der Verwunderung. »Oh, Miss Plow, es war schlimm. Es war schlimm! Eine schlechte Fahrerin. Schlechte Fahrerin.«

Er wiederholt sich wie zu der Zeit, als ich ihn kennenlernte. Damals war er ängstlich darum bemüht, einen Job zu finden, und misstraute meinen Beweggründen, ihm bei der Suche zu helfen. »Ich bin froh, dass du nicht verletzt bist.«

»Wo sind Sie?«, erkundigt er sich. »Warum waren Sie nicht im SaveWay?«

»Ich bin im Urlaub«, erkläre ich ihm freundlich und habe das Gefühl, versagt zu haben. »Genau wie du letzten Sommer, als du eine Woche nicht im SaveWay warst und mit deiner Mutter an den Strand gefahren bist.«

»Sunken Meadow«, sagt er. »Das war der Strand von Sunken Meadow. Sie können aber nicht Urlaub machen, wenn es so schlechte Fahrer gibt!«

»Wir sehen uns sehr bald wieder«, verspreche ich ihm. »Kannst du mir jetzt noch deine Mutter geben?«

»Sicher, meine Liebe«, sagt er unerklärlicherweise, als wäre ich plötzlich von seiner Berufsberaterin zu seiner Herzallerliebsten befördert worden.

»Es tut mir so leid, Linda«, sage ich, da ich nicht weiß, was ich sonst zu ihr sagen könnte.

»Ich möchte nicht, dass er weiter draußen die Wagen einsammelt«, entgegnet sie. »Ich will, dass er Tüten packt.«

»Wird gemacht«, verspreche ich ihr. Doch nachdem ich aufgelegt habe, frage ich mich, wie viel Einfluss ich überhaupt noch auf Mickey habe.

Er geht nicht ans Telefon, obwohl ich viermal bei ihm anrufe. Der Morgen vergeht, dabei habe ich meine Mission in der Albatross Lane noch vor mir. Es bleibt mir nichts übrig, als unter die Dusche zu springen und hinzufahren. Ich lasse das heiße Wasser lange Zeit über meinen verkaterten Körper laufen. Dann föne ich mein Haar zu einem langen, schimmernden Vorhang in Kastanienbraun – wie in der Shampoowerbung. Ich lege für Daddy Make-up auf und schlüpfe dann in meine Jeans. Sie sitzt immer noch erstaunlich locker. Zufrieden drehe ich mich vor dem Spiegel. Jetzt gilt’s.

Die Sonne steht bereits hoch am Himmel, und die Morgenluft ist frisch, als ich einmal mehr über die Küstenstraßen fahre, die mir bereits vertraut vorkommen. Als ich heute in der Albatross Lane ankomme, sehe ich zwei Autos in der Sonne glänzen – Peters weißen Pick-up und einen langen roten Chevy Suburban mit goldener Beschriftung auf der Seite. Der Wagen meines Vaters. Das muss er sein. Ich halte hinter ihm.

Diesmal warte ich nicht. Ich schlage die Tür ein wenig zu laut ins Schloss und stehe dann gut sichtbar vor dem Rohbau. Dann straffe ich die Schultern und marschiere los. Ich halte den Blick auf meine Füße gesenkt, während ich zwischen aufgeschütteter Erde, leeren Getränkedosen und Holzstücken auf dem Weg navigiere. Ich kann das Blut in meiner Stirn pochen spüren, und mein komplettes seitliches Gesichtsfeld scheint ausgeblendet zu sein. Ich höre mich ein-und ausatmen, ein angestrengtes Geräusch, als würde ich keuchen. In Gedanken übe ich: Mein Name ist Roseanna Plow, und ich bin Ihre Tochter. Mein Name ist Roseanna Plow, und …

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragt eine Stimme.

Ich kenne diese Stimme nicht nur vom Anrufbeantworter. Sie ist mir in den Tiefen meiner zusammengeschweißten Moleküle vertraut. Ich hebe den Blick, und da ist er, er ragt vor mir auf. Er ist groß, oder liegt es an der Höhe des treppenlosen Eingangs, dass er so viel Raum einzunehmen scheint, so viel vom Himmel verdeckt? Mir bleibt die Luft weg. Wie kann jemand, der so lange nicht da war, so viel Raum einnehmen?

Ich versuche, sein Gesicht durch den Schleier von Tränen zu erkennen, die mir in die Augen steigen. Es ist ein freundliches Gesicht mit ebenmäßigen Zügen, einer ausgeprägten Kieferpartie und ausdrucksvollen Lippen. Mein Gesicht. Niemand könnte das übersehen. Die Ähnlichkeit verschlägt mir die Sprache.

Ich mache einen Schritt zurück. Er streckt den Arm aus, und ich akzeptiere die dargebotene Hand und erlaube ihm, mir hinauf und über die hohe Türschwelle zu helfen, hinein in das Haus ohne Wände. »Ich bin John Bellusa«, sagt er und betrachtet mich mit meinen eigenen Augen. »Du musst Roseanna sein.«

Sein wettergegerbtes Gesicht verzieht sich zu einem Lächeln. Er ist wahrhaftig groß, von ihm habe ich meine starken Knochen geerbt, und er überragt mich. Er ist zwar breit gebaut, aber auch ein kleines bisschen gebeugt. Sein Rücken hat einen leichten Buckel, als hätte er in all den Jahren zu viele Kanthölzer getragen. Als hätte er generell zu viel getragen.

»Also hat Peter erzählt, dass ich komme«, sage ich. Ich ergreife seine Hand und drücke sie. Jetzt hat auch Johnny Bellusa Tränen in den Augen. Er zieht mich an sich und umarmt mich.

Ich habe tausend Fragen an diesen Mann, der nach Sägespäne und Seife riecht, doch seine Umarmung liefert auch einige Antworten. Ich spüre, dass ich in den Armen eines guten Mannes liege, eines vielleicht nicht perfekten, aber guten Mannes, eines Mannes, der sein eigenes Kind erkennt. Meine Tränen durchnässen sein Cordhemd, und mir wird klar, dass ich mein Make-up umsonst so sorgfältig aufgetragen habe. Als wir uns schließlich loslassen – Johnny sieht ein bisschen verlegen aus und sein Hemd ist voller Wimperntusche –, stelle ich ihm die Frage, die mir nicht mehr aus dem Kopf geht, seit Helen mir erzählt hat, dass sie eine Tochter namens Alexa hat.

»Wo ist sie?«

»Ich weiß es nicht«, sagt er.

Ich lehne mich gegen eine Wandstütze und japse leise.

»Wann hast du sie das letzte Mal gesehen?«

»An dem Tag, bevor sie davongelaufen ist.«

Ich blicke zu ihm auf. »Dann hast du mich also gesehen? Als Baby?«

Wieder verzieht sich Johnny Bellusas Gesicht zu einem Lächeln, einem traurigen diesmal. »Ich habe dich einmal gesehen. Als Alexa dich nach Hause brachte.«

Mein Rücken gleitet an dem Kantholz hinunter, das mich stützt, bis ich auf dem mit Sägespänen bedeckten, halb fertigen Boden sitze. Alexa. Wie selbstverständlich er diesen Namen benutzt. Bei ihm ist sie mehr als die Figur aus einer Erzählung – ein Mensch, der wirklich existiert. Der Wind pfeift vom Meer herein, doch ich spüre die Kälte nicht.

»Aber ich habe dich gleich erkannt«, sagt er. »Ich würde dich überall erkennen.«

»Woran?«

Er zuckt die Achseln. »Du bist meine Tochter.«

Wir sind beide verlegen, nachdem diese Worte ausgesprochen sind. Dann spüre ich, wie etwas in meinem Herzen hart wird, etwas Stures, Verletztes. Darf ein Mann, der nie da war, mich als seine Tochter bezeichnen? Er ist ein Samenspender. Mein biologischer Vater. Aber das macht mich nicht zu seiner Tochter.

»Wo warst du, als die Stützräder von meinem Fahrrad abgenommen wurden?«, frage ich ihn.

Er blickt hinunter auf seine Stahlkappenstiefel, doch der Schmerz in seinem Gesicht ist unübersehbar.

»Warum warst du nicht bei meiner Abschlussfeier?«

»Ich habe an deine Abschlussfeier gedacht«, entgegnet er ruhig.

»Warum hast du nie angerufen oder geschrieben? Warum warst du nie da?«

In stiller Trauer senkt Johnny Bellusa den leicht gebeugten Kopf noch weiter. »Deine Großmutter wollte es nicht«, sagt er mit trauriger Stimme. »Ich hatte damals nichts zu melden. Ich war ein Kind, das etwas Schreckliches angestellt hatte. Ich hatte das Mädchen, das ich liebte, geschwängert. Und dann ist es weggelaufen.«

»Hat sie dich geliebt?«

Er fährt sich mit einer rauen Hand über die Augen und lässt sie eine Sekunde dort. »Das hat sie.«

»Warum ist sie dann nie zu dir zurückgekommen?«

Johnny Bellusa wendet sein gequältes Gesicht ab. »Ich hatte gehofft, dass du mir das sagen kannst.«

Wir schweigen eine Weile.

Dann sagt Johnny: »Wusstest du, dass deine Großeltern umgezogen sind, nachdem sie weg war? Alle Nachbarn hatten mitbekommen, dass ein Baby im Haus war, das nicht Mrs Pulkowskis Kind war. Also haben sie Islip verlassen und sind fortgezogen.«

Nach Commack, denke ich. In das Haus mit den beigen Wänden, das Heim meiner Kindheit. Sie haben es für mich getan, damit Helen weiter Obst in Wackelpeterformen servieren konnte, ohne dass der Hauch eines Skandals auf unserem Essen läge. Ich überlege gerade, ob ich das Johnny Bellusa erzählen soll (Verdient er, das zu wissen? Hätte er das nicht selbst herausfinden können?), als das Hammer-stakkato wieder einsetzt und mir einfällt, dass wir nicht allein sind.

»Wo ist Peter?«, frage ich.

»Er bringt die Rigipsplatten im Keller an.«

»Ein eigenartiger Ort, um mit den Wänden anzufangen.«

»Er wollte uns nicht stören.«

Das gut aussehende Gesicht meines Vaters ist blass. Ich betrachte die regelmäßigen Züge, den Nacken, den leichten Buckel. »Peter meint, du bist ein Frauentyp.«

»Ha!«, lacht mein Vater. »Ich habe eben nie geheiratet, das ist alles. Manchmal ist es ein bisschen einsam, also gehe ich mit einer Frau aus.« Er wirft mir einen besorgten Blick zu. »Das ist doch nicht schlimm, oder?«

»Ich bin nicht deine Mutter«, antworte ich barsch. »Du kannst tun und lassen, was du willst.«

»Du bist sauer auf mich«, sagt er. »Das kann ich dir nicht verübeln. Allie und ich haben ein ganz schönes Durcheinander angerichtet.«

Jetzt sieht er wirklich elend aus. Es ist nicht richtig, dass so ein großer Mann so verletzlich aussieht. Ich habe ein schlechtes Gewissen und denke, dass wir vielleicht doch alle Opfer sind, wenn es um die Liebe geht. Und wir sind alle Täter. Kommt Sex dazu – ein bisschen zu viel oder zu wenig davon –, schon zerbrechen ganze Ehen. Um der Liebe willen verletzen Menschen sich, benutzen, infizieren und befruchten sich. Liebende leiden. Kinder kommen aus Versehen zur Welt. Und Babybettchen füllen sich an Orten wie dem Little Flower Home für unverheiratete Mütter.

»Wer richtet kein Durcheinander an?«, frage ich ihn. »Da solltest du mal mein Leben sehen.«

Es scheint Johnny Bellusa unglücklich zu machen, dass ich das sage. Er betrachtet meinen zusammengesunkenen Körper auf dem Boden. »Ich wette, du hast ein schönes Leben«, sagt er. »Ich weiß, dass deine Mutter stolz auf dich wäre, wenn sie dich heute träfe.«

»Du hast nicht die geringste Ahnung«, erwidere ich und wische mir mit dem Handrücken über die Augen.

»Ich habe Augen im Kopf«, sagt er.

Mir ist klar, dass seine Worte tröstend gemeint sind, doch man verschwindet nicht einfach für drei Jahrzehnte aus dem Leben seines Kindes, um sich dann wieder hineinzuschmeicheln. Das kommt mir nicht richtig vor, auch wenn die Worte ernst gemeint sind. Ich stemme mich wieder hoch und klopfe mir den Hintern meiner Jeans ab. Vielleicht reicht es für heute.

»Wie geht es Mr und Mrs Pulkowski?«, fragt er.

»Oh, sie sind erschöpft«, antworte ich. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie damit gerechnet hatten, nach deiner Freundin noch ein Kind großzuziehen.«

»Ich wette, da hast du recht. Aber sie haben ihre Sache doch gut gemacht. Besser, als ich es gekonnt hätte.«

»Du hättest meine Mutter heiraten können«, sage ich ihm mit dem Einfühlungsvermögen eines Scharfrichters.

»Ja, vermutlich hast du recht.« Seine Stimme ist jetzt nicht mehr als ein Seufzen. »Aber dazu ist es nicht gekommen, nicht wahr?« Wieder reibt er sich die Augen. »Ich vermute, unser Wiedersehen läuft nicht sehr gut, hm?«

»So gut, wie zu erwarten war«, sage ich und mache einen Schritt von der Türschwelle hinunter und aus dem Haus hinaus. »Vielleicht sollten wir das Treffen jetzt beenden und erst mal eine Weile darüber nachdenken.«

»Wir könnten heute Abend essen gehen«, schlägt Johnny Bellusa vor. »Ich würde meine Tochter gern einladen.«

»Du lädst alle Frauen gern ein, wenn man Peter glauben darf.«

Er kratzt sich die Wange und lächelt. »Du hast viel vom Temperament deiner Mutter, Roseanna. Woher kommt übrigens das Plow? Bist du verheiratet?«

»Nein. Ja. So was in der Art. Aber Plow ist nicht der Name meines Mannes.«

Johnny blickt verwirrt drein. »Fahr jetzt zurück und überleg dir das mit dem Abendessen. Lass mich wissen, wie du dich entscheidest, wenn du absagst, bin ich auch nicht beleidigt.« Ich sehe zu, wie er sich hinunterbeugt, um einen Hammer aufzuheben. »Aber eines solltest du noch wissen«, sagt er, »nur für den Fall, dass du dich entschließt, mich heute Abend nicht zu treffen.« Der Hammer hängt schlaff in seiner linken Hand, als Johnny Bellusa sich ganz auf mich konzentriert. »Ich war wirklich froh darüber, dass deine Mutter nicht zugelassen hat, dass man dich weggibt. Sie hat ihren Eltern und einer ganzen Reihe Nonnen in die Augen gesehen und gesagt: ›Nein, ihr könnt mein Kind nicht zur Adoption freigeben.‹ Weißt du eigentlich, wie viel Mumm damals, 1975, in einem polnisch-katholischen Haushalt für so eine Aussage nötig war?«

Ich nicke. Ich weiß genau, wie viel Mumm man dazu brauchte. Seine Freundin war ja nicht der einzige Mensch, der von Helen Pulkowski großgezogen worden war.

Seitensprung ins Glück
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