Caravan
Sarah Harding legte die Aluminiumfolie um das verletzte Bein des Babys. Der kleine Tyrannosaurier war noch immer bewußtlos, er atmete gleichmäßig und rührte sich nicht. Sein Körper war entspannt. Der Sauerstoff zischte leise.
Nachdem Sarah aus der Folie eine Manschette von etwa 15 Zentimetern Länge geformt hatte, begann sie, mit einem kleinen Pinsel das Harz aufzutragen.
»Wie viele Raptoren gibt es hier?« fragte sie. »Als ich sie gesehen habe, war ich mir nicht ganz sicher. Ich glaube, ich habe neun gesehen.«
»Ich glaube, es sind mehr«, sagte Malcolm. »Insgesamt elf oder zwölf.«
»Zwölf?« fragte sie und sah zu ihm hoch. »Auf dieser kleinen Insel?«
»Ja.«
Das Harz hatte einen stechenden Geruch, wie Kleber. Sie trug es gleichmäßig auf das Aluminium auf. »Weißt du, was ich denke?« fragte sie.
»Ja«, sagte er. »Daß es zu viele sind.«
»Viel zu viele, Ian.« Sie arbeitete mit sicherer Hand. »Es ergibt keinen Sinn. In Afrika sind aktive Raubtiere wie Löwen über große Flächen verteilt. Ein Löwe auf 10 Quadratkilometer. Manchmal sogar 15. Mehr hält das ökologische Gleichgewicht nicht aus. Auf einer Insel wie dieser dürfte es eigentlich nicht mehr als fünf Raptoren geben. Halt mal.«
»Mmmh. Aber vergiß nicht, die Beutetiere hier sind riesig … Einige dieser Tiere wiegen 20, 30 Tonnen.«
»Ich bin nicht überzeugt, daß das ein relevanter Faktor ist«, sagte sie, »aber gehen wir um des Arguments willen einmal davon aus. Ich verdopple die Schätzung und sage, zehn Raptoren für diese Insel. Aber wie du mir sagst, sind es zwölf. Und es gibt ja noch andere große Raubtiere. Die Rexe zum Beispiel …«
»Ja. Die gibt es auch noch.«
»Das sind zu viele«, sagte sie und schüttelte den Kopf.
»Die Tiere leben hier ziemlich dicht«, entgegnete Malcolm.
»Nicht dicht genug«, erwiderte sie. »Im allgemeinen zeigen Studien über Raubtiere – ob nun Tiger in Indien oder Löwen in Afrika –, daß auf ein Raubtier 200 Beutetiere kommen müssen, damit es überleben kann. Das bedeutet, daß es bei 25 Raubtieren auf dieser Insel 5000 Beutetiere geben müßte. Gibt es so viele?«
»Nein?«
»Was glaubst du, wie viele Tiere es insgesamt hier gibt?«
Er zuckte die Achseln. »Ein paar 100. Wenn’s hoch kommt, 500.«
»Also um eine ganze Größenordnung zu wenig, Ian. Halt das mal, und ich hole die Lampe.«
Sie fuhr mit der Lötlampe über das Bein des Babys, um das Harz zu härten. Nebenbei kontrollierte sie den Sitz der Sauerstoffflasche.
»Die Insel kann so viele Raubtiere nicht ernähren«, sagte sie. »Und doch sind sie da.«
»Was könnte die Erklärung dafür sein?« fragte er.
Sie schüttelte den Kopf. »Es muß eine Nahrungsquelle geben, die wir nicht kennen.«
»Du meinst, eine künstliche Nahrungsquelle?«
»Nein«, antwortete sie. »Künstliche Nahrungsquellen machen die Tiere zahm. Und diese Tiere sind nicht zahm. Die einzige andere Möglichkeit, die mir einfällt, ist die, daß es unter den Beutetieren eine andere Todesrate gibt als gewöhnlich. Wenn sie sehr schnell wachsen oder jung sterben, könnte das ein größeres Nahrungsangebot darstellen, als man erwarten würde.«
»Mir ist aufgefallen, daß auch die größten Tiere klein wirken«, sagte Malcolm. »Als würden sie gar nicht richtig erwachsen werden. Vielleicht werden sie frühzeitig getötet.«
»Vielleicht«, entgegnete Sarah, »aber wenn die Todesrate hier hoch genug ist, um eine so große Raubtierpopulation zu ernähren, müßte man Spuren von Kadavern finden und Unmengen von Skeletten. Hast du welche gesehen?«
Malcolm schüttelte den Kopf. »Nein. Jetzt, da du es erwähnst, fällt mir ein, daß ich noch kein einziges Skelett gesehen habe.«
»Ich auch nicht.« Sie schob die Lampe beiseite. »Irgendwas ist komisch an dieser Insel, Ian.«
»Ich weiß«, sagte Malcolm.
»Wirklich?«
»Ja«, sagte er. »Ich habe es von Anfang an befürchtet.«
Donner grollte. Vom Hochstand aus wirkte die Ebene dunkel und still, bis auf das entfernte Knurren der Raptoren. »Vielleicht sollten wir zurückgehen«, sagte Eddie besorgt.
»Warum?« fragte Levine und schaltete sein Nachtsichtgerät ein. Er war sehr zufrieden mit sich, weil er daran gedacht hatte, es mitzunehmen. Durch das Gerät sah er die Welt in fahlen Grünschattierungen. Deutlich erkannte er die Raptoren bei ihrer Beute, das zertrampelte Gras und das verspritzte Blut. Die Leiche war längst aufgefressen, nur das Knacken von Knochen war noch zu hören, die die Tiere abnagten.
»Ich meine nur«, sagte Eddie, »daß wir nachts im Caravan sicherer sind.«
»Warum?« fragte Levine.
»Na ja, er ist verstärkt, er ist stabil und sehr sicher. Er hat alles, was wir brauchen. Ich glaube einfach, wir sollten dort sein. Oder wollen Sie vielleicht die ganze Nacht hierbleiben?«
»Nein«, sagte Levine. »Für wen halten Sie mich denn, für einen Fanatiker?«
Eddie grunzte nur.
»Aber ein bißchen bleiben wir noch«, sagte Levine.
Eddie wandte sich an Thorne. »Doc? Was sagen Sie? Es wird bald regnen.«
»Nur ein bißchen noch«, sagte Thorne. »Und dann fahren wir alle zusammen zum Caravan zurück.«
»Dinosaurier gibt es auf dieser Insel seit fünf Jahren, vielleicht sogar noch länger«, sagte Malcolm, »aber sonst sind nirgendwo welche aufgetaucht. Und plötzlich, im letzten Jahr, findet man Kadaver dieser Tiere an den Stränden von Costa Rica und Berichten zufolge auch auf einigen der Inseln im Pazifik.«
»Von der Strömung dorthin getragen?«
»Wahrscheinlich. Aber die Frage ist, warum? Warum so plötzlich, nach fünf Jahren? Irgend etwas hat sich verändert, aber wir wissen nicht – Moment mal.« Er ging zu der Computerkonsole hinüber und setzte sich vor den Bildschirm.
»Was machst du da?«
»Arby hat uns in das alte Netzwerk eingeklinkt«, sagte er. »Und die Forschungsdateien aus den 80ern sind noch gespeichert.« Er bewegte den Cursor mit der Maus über den Bildschirm. »Wir haben sie uns noch nicht angesehen …« Das Menü mit den Verzeichnissen der Arbeits- und Forschungsdateien erschien. Er blätterte in den Verzeichnissen.
»Vor Jahren hatten sie Probleme mit irgendeiner Krankheit«, sagte er. »Im Labor gibt es eine Menge Unterlagen darüber.«
»Was für eine Krankheit?«
»Das haben sie selber nicht gewußt«, erwiderte Malcolm.
»In freier Wildbahn gibt es einige sehr langsam wirkende Krankheiten«, sagte Sarah. »Es kann fünf oder zehn Jahre dauern, bis sie zum Ausbruch kommen. Verursacht von Viren oder Prionen. Du weißt schon, Proteinfragmente – wie bei Scrapie oder Rinderwahnsinn.«
»Aber diese Krankheiten werden nur durch kontaminierte Nahrung übertragen.«
Schweigen entstand.
»Was glaubst du, womit die sie damals gefüttert haben?« fragte Sarah schließlich. »Das würde ich mir nämlich schon überlegen, wenn ich kleine Dinosaurier aufziehen müßte. Was brauchen die denn? Milch wahrscheinlich, aber –«
»Ja, Milch«, sagte Malcolm mit Blick auf den Bildschirm. »In den ersten sechs Wochen Ziegenmilch.«
»Das liegt nahe«, sagte Sarah. »Ziegenmilch wird auch in den Zoos immer verwendet, weil sie hypoallergen ist. Und später?«
»Laß mir mal ‘nen Augenblick Zeit«, bat Malcolm.
Sarah hielt das Bein des Babys in die Höhe und wartete, daß das Harz austrocknete. Sie betrachtete den Verband, schnupperte daran. »Ich hoffe nur, daß das gutgeht«, sagte sie. »Wenn irgendwas komisch riecht, nehmen die Tiere ihre Kleinen manchmal nicht wieder an. Aber vielleicht verfliegt der Geruch ja, wenn das Harz ausgetrocknet ist. Wie lange ist es schon drauf?«
Malcolm sah auf die Uhr. »Zehn Minuten. Noch zehn, und es ist fest.«
»Ich würde den Kleinen gern zum Nest zurückbringen.«
Donner grollte. Sie sahen durchs Fenster in die schwarze Nacht hinaus.
»Heute ist es dazu wahrscheinlich schon zu spät«, sagte Malcolm. Er tippte und sah den Monitor an.
»Also … womit haben sie sie gefüttert? Okay, von 1988 bis 1989 … bekamen die Pflanzenfresser dreimal täglich aufgeschlossene Grünfuttermasse … und die Fleischfresser …«
Er hielt inne.
»Was haben die Fleischfresser denn bekommen?« fragte Sarah.
»Anscheinend einen zermahlenen Extrakt aus tierischem Protein …«
»Von welchem Tier? Die übliche Quelle ist Truthahn oder Huhn, mit einem Antibiotikazusatz.«
»Sarah«, sagte er. »Sie haben Schafextrakt verwendet.«
»Nein«, erwiderte sie. »Das kann ich mir nicht vorstellen.«
»Doch, das haben sie. Kam von einem Lieferanten, der zermahlenes Schaffleisch verwendete.«
»Du machst Witze.«
»Leider nein. Jetzt laß mich mal sehen, ob ich herausfinden kann –«
Ein leises Alarmsignal ertönte. Auf der Kontrolltafel über Malcolm blinkte ein rotes Licht. Einen Augenblick später sprang die Außenbeleuchtung des Gespanns an und tauchte die ganze Umgebung in grelles Halogenlicht.
»Was ist denn das?« fragte Sarah.
»Der Caravan hat Sensoren – irgendwas hat sie aktiviert.« Malcolm ging vom Computer weg und spähte zum Fenster hinaus. Er sah nichts als hohes Gras und die dunklen Bäume am Rand der Lichtung. Alles war still, nichts rührte sich.
Sarah, die noch immer mit dem Baby beschäftigt war, fragte: »Was ist los?«
»Keine Ahnung. Ich kann nichts sehen.«
»Aber irgendwas hat die Sensoren doch aktiviert, oder?«
»Vermutlich.«
»Wind?«
»Es geht kein Wind«, erwiderte Malcolm.
Im Hochstand sagte Kelly: »He, schaut mal!«
Thorne drehte sich um. Von ihrem Standpunkt aus konnten sie bis zu der hohen Klippe im Norden und dem Caravan-Gespann auf der grasbewachsenen Lichtung darüber sehen.
Die Außenbeleuchtung des Gespanns war angesprungen.
Thorne nahm das Funkgerät vom Gürtel. »Ian? Melden Sie sich.«
Ein kurzes Knistern. »Ich bin hier, Doc.«
»Was ist los?«
»Ich weiß nicht«, sagte Malcolm. »Die Außenbeleuchtung ist eben angegangen. Ich glaube, die Sensoren wurden aktiviert. Aber wir können draußen nichts erkennen.«
»Die Luft kühlt jetzt sehr schnell ab«, sagte Eddie. »Vielleicht haben Konvektionsströmungen die Sensoren aktiviert.«
Thorne fragte: »Ian? Ist alles in Ordnung?«
»Ja. Alles okay. Kein Grund zur Besorgnis.«
»Ich habe mir schon gedacht, daß wir sie zu empfindlich eingestellt haben«, sagte Eddie. »Das ist alles.«
Levine runzelte nur die Stirn und schwieg.
Sarah legte letzte Hand an das Baby, sie wickelte es in eine Decke ein und schnallte es mit Stoffgurten am Tisch fest. Dann stellte sie sich neben Malcolm und sah zum Fenster hinaus.
»Was denkst du?«
Malcolm zuckte die Achseln. »Eddie meint, das System ist zu empfindlich eingestellt.«
»Ist es das wirklich?«
»Ich weiß nicht. Es wurde nie getestet.« Er suchte die Bäume am Rand der Lichtung nach Anzeichen von Bewegung ab. Plötzlich glaubte er ein Schnauben zu hören. Es schien, als würde es von irgendwo hinter ihm beantwortet werden. Er ging zum Fenster auf der anderen Seite und sah dort hinaus.
Malcolm und Sarah starrten angestrengt in die Nacht. Malcolm hielt angespannt den Atem an. Schließlich seufzte Sarah. »Ich kann nichts sehen, Ian.«
»Nein. Ich auch nicht.«
»Muß falscher Alarm sein.«
Dann spürten sie die Vibration, ein dumpfes Donnern in der Erde, das durch den Wagenboden ins Innere des Gespanns geleitet wurde. Malcolm sah Sarah an. Sie hatte die Augen weit aufgerissen.
Malcolm wußte, was es war. Wieder spürten sie die Vibration, und diesmal war sie unmißverständlich.
Sarah starrte zum Fenster hinaus. »Ian«, flüsterte sie. »Ich kann ihn sehen.«
Malcolm trat zu ihr. Sie deutete zum Fenster hinaus auf die ersten Bäume.
»Was?«
Und dann sah er etwa auf halber Höhe eines Baumes einen großen Kopf durchs Laubwerk brechen. Der Kopf drehte sich langsam von einer Seite zur anderen, als würde er horchen. Es war ein ausgewachsener Tyrannosaurus rex.
»Ian«, flüsterte sie. »Schau – sie sind zu zweit.«
Auf der rechten Seite sah er nun ein zweites Tier zwischen den Bäumen hervortreten. Es war das größere der beiden, das Weibchen. Die Tiere knurrten, ein tiefes Grollen, das durch die Nacht hallte. Langsam traten sie aus dem Schutz der Bäume und standen gegen das grelle Licht blinzelnd auf der Lichtung.
»Sind das die Eltern?«
»Ich weiß nicht. Glaub schon.«
Die Tiere standen noch immer am Rand der Lichtung. Sie schienen zu zögern, abzuwarten.
»Suchen sie das Baby?«
»Also Sarah, bitte.«
»Ich meine es ernst.«
»Das ist lächerlich.«
»Warum? Offensichtlich haben sie es bis hierher verfolgt.«
Die Tyrannosaurier hoben die Köpfe, rissen die Mäuler auf. Dann bewegten sie die Köpfe in langsamem Bogen von links nach rechts. Sie wiederholten die Bewegung und machten dann einen Schritt auf das Gespann zu.
»Sarah«, sagte er. »Wir sind Meilen vom Nest entfernt. Sie haben das Baby nicht verfolgen können.«
»Woher weißt du das?«
»Sarah –«
»Du hast doch selbst gesagt, daß wir über diese Tiere überhaupt nichts wissen. Wir wissen nichts über ihre Physiologie, ihre Biochemie, ihr Nervensystem, ihr Verhalten. Und über ihre Sinnesausstattung wissen wir auch nichts.«
»Ja, aber …«
»Das sind Raubtiere, Ian. Gutes Seh- und Hörvermögen, guter Geruchssinn.«
»Das ist zu vermuten, ja.«
»Aber wir wissen nicht, was sonst noch«, sagte Sarah.
»Was sonst noch?« fragte Malcolm.
»Ian. Es gibt noch andere Wahrnehmungsmöglichkeiten. Schlangen sehen Infrarot. Fledermäuse haben Echo-Ortung. Vögel und Schildkröten haben Magnetosensoren – sie orientieren sich bei ihren Wanderungen am Magnetfeld der Erde. Dinosaurier haben vielleicht noch andere Wahrnehmungsmöglichkeiten, die wir uns gar nicht vorstellen können.«
»Sarah, das ist lächerlich.«
»Wirklich? Dann sag du mir, was die da draußen tun.«
Die Tyrannosaurier draußen vor den Bäumen waren still geworden. Sie knurrten nicht mehr, aber sie bewegten noch immer die Köpfe in langsamen Bögen hin und her.
Malcolm runzelte die Stirn. »Sieht aus als … würden sie sich umsehen …«
»Direkt ins grelle Licht? Nein, Ian. Sie sind geblendet.«
Kaum hatte sie das gesagt, erkannte er, daß sie recht hatte. Aber die Kopfbewegungen wirkten sehr systematisch. »Was tun sie dann? Schnuppern?«
»Nein. Die Köpfe sind erhoben. Die Nüstern bewegen sich nicht.«
»Horchen sie?«
Sie nickte. »Möglich.«
»Aber worauf horchen sie?«
»Auf das Baby vielleicht.«
Er sah zu dem Tisch hinüber. »Sarah. Das Baby ist bewußtlos.«
»Ich weiß.«
»Es gibt keinen Ton von sich.«
»Keinen, den wir hören können.« Sie starrte die Tyrannosaurier an. »Aber irgendwas tun sie, Ian. Das Verhalten, das wir hier sehen, hat eine Bedeutung. Wir wissen nur nicht, welche.«
Vom Hochstand aus spähte Levine durch sein Nachtsichtgerät zu der Lichtung. Er sah die beiden Tyrannosaurier am Waldrand stehen. Sie bewegten die Köpfe auf merkwürdige, wie synchronisierte Art.
Sie gingen ein paar Schritte auf das Gespann zu, hoben die Köpfe, wandten sich nach rechts und links und schienen dann plötzlich zu wissen, was sie wollten. Die Tiere bewegten sich schnell, fast aggressiv über die Lichtung.
Über Funk hörten sie Malcolm sagen: »Es ist das Licht! Das Licht zieht sie an.«
Einen Augenblick später ging die Außenbeleuchtung aus, die Lichtung wurde wieder schwarz. Alle spähten angestrengt in die Dunkelheit. »Das hat funktioniert«, hörten sie Malcolm sagen.
Thorne fragte Levine: »Was sehen Sie?«
»Nichts.«
»Was tun sie?«
»Stehen einfach nur da.«
Durch das Nachtsichtgerät sah Levine, daß die Tyrannosaurier stehengeblieben waren, als hätte der plötzliche Lichtwechsel sie verwirrt. Trotz der Entfernung konnten sie am Knurren der Tiere hören, daß sie unsicher waren. Sie wippten mit den großen Köpfen und fletschten die Zähne. Aber sie bewegten sich nicht.
»Was ist?« fragte Kelly.
»Sie warten«, sagte Levine. »Zumindest im Augenblick.«
Levine hatte den starken Eindruck, daß die Tyrannosaurier beunruhigt waren. Das Caravan-Gespann mußte für sie eine große und furchteinflößende Veränderung ihres Lebensraums darstellen. Vielleicht kehren sie wieder um und verschwinden, dachte er. Trotz ihrer enormen Größe waren es vorsichtige, beinahe ängstliche Tiere.
Sie knurrten noch einmal. Und dann sah er sie langsam auf den jetzt verdunkelten Caravan zugehen.
»Ian, was sollen wir tun?«
»Wenn ich das wüßte«, flüsterte Malcolm.
Sie kauerten nebeneinander im Durchgang, so weit wie möglich von den Fenstern entfernt. Die Tyrannosaurier kamen unerbittlich näher. Sarah und Malcolm spürten jeden Schritt als deutliche Vibration – zwei Zehn-Tonnen-Tiere, die sich auf sie zubewegten.
»Die kommen genau auf uns zu!«
»Das habe ich bemerkt«, sagte er.
Das erste Tier hatte den Caravan schon fast erreicht. Es war so nahe, daß sein Körper das Fenster verdeckte. Alles, was Malcolm sehen konnte, waren die mächtigen, muskulösen Beine und der Unterbauch. Der Kopf mußte weit über ihnen sein.
Der zweite Tyrannosaurier näherte sich dem Caravan von der anderen Seite. Die beiden Tiere begannen, knurrend und schnaubend das Gespann zu umkreisen. Der Boden schwankte unter ihren schweren Schritten. Sarah und Ian rochen den stechenden Fleischfressergestank. Einer der Tyrannosaurier streifte die Seitenwand, und sie hörten ein Kratzgeräusch, Schuppenhaut an Metall.
Malcolm spürte unvermittelt Panik in sich aufsteigen. Es war der Geruch, der in ihm plötzlich Erinnerungen weckte. Er fing an zu schwitzen. Er warf einen Blick zu Sarah hinüber und sah, daß sie konzentriert die Bewegungen der Tiere beobachtete. »Das ist kein Jagdverhalten«, flüsterte sie.
»Ich weiß nicht«, sagte Malcolm. »Vielleicht doch. Es sind ja keine Löwen.«
Einer der Tyrannosaurier brüllte in die Nacht, ein furchterregendes, ohrenbetäubendes Geräusch.
»Sie jagen nicht«, sagte sie. »Sie suchen, Ian.«
Einen Augenblick später antwortete der zweite Tyrannosaurier ebenfalls mit einem Brüllen. Dann senkte sich der große Kopf und spähte durch das Fenster direkt vor ihnen. Malcolm legte sich flach auf den Fußboden, und Sarah warf sich über ihn. Ihr Schuh drückte in sein Ohr.
»Es wird alles gutgehen, Sarah.«
Draußen schnaubten und knurrten die Tyrannosaurier.
»Könntest du ein Stückchen rutschen?« flüsterte Malcolm.
Sie kroch von ihm herunter, und er erhob sich langsam und spähte über die Polsterbank nach draußen. Er sah, wie das große Auge des Rex ihn anstarrte. Der Augapfel bewegte sich in der Höhle. Malcolm sah, wie das Maul auf- und zuging. Der heiße Atem des Tiers beschlug das Glas.
Dann entfernte sich der Kopf vom Fenster, und Malcolm atmete erleichtert auf. Doch plötzlich schwang der Kopf zurück und stieß mit lautem Krachen gegen den Caravan, der heftig zu schwanken begann.
»Keine Angst, Sarah. Der Caravan ist sehr stabil.«
»Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr mich das beruhigt.«
Der zweite Rex brüllte auf und stieß von der anderen Seite gegen den Caravan. Die Federung ächzte unter der Wucht des Stoßes.
Die beiden Tyrannosaurier begannen nun, abwechselnd und rhythmisch von beiden Seiten gegen das Gespann zu stoßen. Malcolm und Harding wurden hin und her geworfen. Sarah versuchte sich festzuhalten, wurde aber vom nächsten Stoß wieder durch den Caravan gewirbelt. Der Boden neigte sich bedenklich von einer Seite zur anderen. Laborgeräte flogen von den Tischen. Glas splitterte.
Doch plötzlich hörten die Stöße auf. Unvermittelt war alles still.
Malcolm stemmte sich stöhnend hoch. Auf ein Knie gestützt, spähte er zum Fenster hinaus. Er sah das Hinterteil eines Tyrannosauriers. Es kam näher.
»Was sollen wir tun?« flüsterte er.
Das Funkgerät knisterte. »Ian, melden Sie sich! Ian!« rief Thorne.
»Um Himmels willen, schalt das aus«, flüsterte Sarah.
Malcolm griff sich an den Gürtel, flüsterte: »Wir sind okay« und schaltete das Gerät aus.
Auf allen vieren kroch Sarah durch das Gespann ins Biologielabor. Er folgte ihr und sah den großen Tyrannosaurier durch das Fenster zu dem Tisch spähen, auf dem das Baby festgezurrt lag. Der Tyrannosaurier gab ein leises Grunzen von sich.
Dann hielt er inne und starrte stumm durchs Fenster.
Und grunzte noch einmal.
»Sie will ihr Baby, Ian«, flüsterte Sarah.
»Also von mir aus«, flüsterte Malcolm, »kann sie es ruhig haben.« Sie duckten sich auf den Boden und versuchten, außer Sicht zu bleiben.
»Wie bringen wir es zu ihr?«
»Ich weiß nicht. Vielleicht zur Tür hinausschieben?«
»Ich will nicht, daß sie auf das Kleine treten.«
»Und wenn schon«, sagte Malcolm.
Der Tyrannosaurier am Fenster gab ein paar Grunzlaute von sich, gefolgt von einem langen, drohenden Knurren. Es war das Weibchen.
»Sarah –«
Aber sie war bereits aufgestanden und sah den Tyrannosaurier voll an. Und sie begann, mit dem Muttertier zu reden. »Alles in Ordnung«, sagte sie mit sanfter, tröstender Stimme. »Jetzt ist alles wieder okay … Dem Baby geht es gut … Ich werde jetzt diese Gurte lösen … Du kannst mir zusehen …«
Der Kopf vor dem Fenster war so groß, daß er den Rahmen komplett ausfüllte. Sarah sah das Spiel der mächtigen Halsmuskeln unter der Haut. Das Maul bewegte sich leicht. Ihre Hand zitterte beim Öffnen der Gurte.
»So ist’s recht … Deinem Baby geht es gut … Siehst du, wie gut es ihm geht?«
Malcolm, der zu ihren Füßen kauerte, flüsterte: »Was tust du denn da?«
Ohne den besänftigenden Tonfall zu verändern, erwiderte sie: »Ich weiß, das klingt verrückt … Aber es funktioniert bei Löwen … manchmal … Das hätten wir … Dein Baby ist frei.«
Sarah wickelte das Kleine aus der Decke, nahm ihm die Sauerstoffmaske ab und redete dabei die ganze Zeit mit ruhiger Stimme weiter. »So … jetzt muß ich es nur noch –« Sie hob das Baby in die Höhe. »– zu dir bringen …«
Plötzlich zog das Weibchen den Kopf zurück und stieß ihn dann seitlich gegen das Glas, das mit lautem Krachen zu einem weißen Spinnennetz zersplitterte. Sarah konnte nun nicht mehr hindurchblicken, aber sie sah einen sich bewegenden Schatten, und unter dem zweiten Stoß brach das Glas aus dem Rahmen. Sarah ließ das Baby in das Metallbecken fallen und sprang zurück, als der Kopf durch die Öffnung stieß und sich tief ins Caravan-Innere hineinschob. Blut lief dem Muttertier von der Schnauze, es hatte sich an den Glassplittern verletzt. Doch nach der anfänglichen Gewalt wurde es jetzt sehr behutsam in seinen Bewegungen. Es beschnupperte das Baby, zuerst den Kopf und dann langsam am Körper entlang. Schließlich legte es dem Baby behutsam den Unterkiefer auf die Brust. So verharrte es unbeweglich für lange Zeit. Nur die Lider blinzelten langsam, die Augen starrten Sarah an.
Malcolm, der auf dem Boden lag, sah Blut von der Anrichte tropfen.
Er wollte sich aufrichten, doch Sarah drückte ihm den Kopf wieder nach unten. »Pst«, flüsterte sie.
»Was macht sie?«
»Sie fühlt den Herzschlag.«
Der Tyrannosaurier grunzte, öffnete das Maul und faßte das Kleine sanft mit den Zähnen. Dann zog er den Kopf mit dem Baby behutsam durch das zerbrochene Glas zurück.
Draußen schien das Muttertier ihr Baby auf die Erde zu legen, doch das konnten sie nicht sehen. Der Saurier bückte sich, und der Kopf verschwand.
Malcolm flüsterte: »Ist es aufgewacht? Ist das Baby wach?«
»Pst!«
Von draußen war nun Schlabbern zu hören, unterbrochen von sanftem, gutturalem Knurren. Malcolm sah, daß Sarah sich ein Stückchen aufrichtete und versuchte, aus dem Fenster zu sehen.
»Was ist los?« flüsterte er.
»Sie leckt das Kleine. Und stupst es mit der Schnauze an.«
»Und?«
»Das ist alles. Sie tut es immer wieder.«
»Was ist mit dem Baby?«
»Nichts. Wenn sie es anstupst, rollt es, als wäre es tot. Wieviel Morphium haben wir ihm beim letztenmal gegeben?«
»Keine Ahnung«, sagte er. »Woher soll ich denn das wissen?«
Malcolm blieb auf dem Boden liegen und horchte auf das Schlabbern und Knurren. Und schließlich, nach einer Ewigkeit, wie es ihm vorkam, hörte er ein leises schrilles Quieken.
»Das Baby wacht auf. Ian, es wacht auf!«
Malcolm kroch auf allen vieren zum Fenster und sah gerade noch, wie das Muttertier das Baby ins Maul nahm und auf den Waldrand zuging.
»Was macht sie jetzt?«
»Ich vermute, sie bringt das Kleine zurück.«
Der zweite Erwachsene kam in Sicht, er folgte dem ersten. Malcolm und Sarah sahen zu, wie die beiden über die Lichtung davonzogen.
Malcolm atmete erleichtert aus. »Das war knapp«, sagte er.
»Ja, das war knapp.« Sarah seufzte und wischte sich Blut vom Unterarm.
Auf dem Hochstand drückte Thorne auf die Sprechtaste. »Ian! Melden Sie sich! Ian!«
»Vielleicht haben sie das Funkgerät ausgeschaltet«, sagte Kelly.
Es begann, leicht zu regnen, die Tropfen prasselten auf das Metalldach des Unterstands. Levine sah durch das Nachtsichtgerät zur Klippe hinüber. Ein Blitz erhellte die Nacht, und Thorne fragte: »Können Sie sehen, was die Tiere tun?«
»Ich kann’s«, sagte Eddie. »Es sieht aus … es sieht aus, als würden sie weggehen.«
Alle begannen zujubeln.
Nur Levine blieb stumm und beobachtete weiter durch sein Gerät. Thorne wandte sich an ihn. »Stimmt das, Richard? Ist alles in Ordnung?«
»Um ehrlich zu sein, ich glaube nicht«, sagte Levine. »Ich fürchte, wir haben einen schweren Fehler gemacht.«
Durch das zerbrochene Glas sah Malcolm den Tyrannosauriern nach. Sarah neben ihm schwieg. Sie ließ die Tiere keinen Augenblick aus den Augen.
Der Regen wurde jetzt stärker; das Wasser tropfte von den Glasscherben. In der Entfernung donnerte es, ein Blitz zuckte grell zur Erde und erhellte die davonziehenden riesigen Tiere.
Am ersten der großen Bäume blieben die Tyrannosaurier stehen und legten das Baby auf die Erde.
»Warum tun sie das?« fragte Sarah. »Sie sollten doch eigentlich zum Nest zurückkehren.«
»Ich weiß nicht, vielleicht sind sie –«
»Vielleicht ist das Baby tot«, sagte Sarah.
Aber nein, in der Helligkeit des nächsten Blitzes konnten sie sehen, daß das Baby sich bewegte. Es lebte noch. Sie konnten sein schrilles Quieken hören, als einer der Erwachsenen es ins Maul nahm und behutsam in eine hohe Astgabel legte.
»O nein«, sagte Sarah und schüttelte den Kopf. »Das ist falsch, Ian. Das ist ganz falsch.«
Das Weibchen blieb noch einen Augenblick bei dem Baby, um es in die richtige Lage zu bringen. Dann drehte es sich um, riß das Maul auf und brüllte.
Das Männchen erwiderte das Brüllen.
Und dann griffen beide Tiere den Caravan an, mit vollem Tempo kamen sie über die Lichtung auf sie zugerannt.
»O mein Gott!« sagte Sarah.
»Halt dich fest, Sarah!« schrie Malcolm. »Das wird übel!«
Der Aufprall war so gewaltig, daß sie beide durch die Luft flogen. Sarah schrie auf, als sie durch den Caravan purzelte. Malcolm stieß sich den Kopf und sah Sterne, als er auf dem Boden auftraf. Der Caravan schwankte mit metallischem Kreischen auf seiner Federung. Die Tyrannosaurier brüllten und stießen noch einmal zu.
Er hörte Sarah »Ian, Ian!« rufen, und dann kippte der Caravan um. Malcolm drehte das Gesicht weg, Gläser und Laborgeräte prasselten auf ihn herab. Als er wieder hochsah, war alles schief. Direkt über ihm das zerbrochene Fenster, das der Tyrannosaurier eingedrückt hatte. Regen tropfte auf Malcolms Gesicht. Es blitzte, und er sah einen großen Kopf, der knurrend auf ihn herunterstarrte. Er hörte das schrille Kratzen der Tyrannosaurierklauen auf der Metallwand des Caravans, und dann verschwand der Kopf. Einen Augenblick später hörte er die Tiere bellen, und er spürte, wie sie das Gespann über das Gras schoben.
Er rief »Sarah!« und entdeckte sie hinter sich, doch in diesem Augenblick drehte die Welt sich wieder, und der Caravan wurde noch einmal umgekippt. Jetzt lag er auf dem Dach. Malcolm kroch die Decke entlang, er versuchte, zu Sarah zu kommen. Er sah zu den Laborgeräten hoch, die auf den Arbeitsflächen befestigt waren und jetzt über seinem Kopf hingen. Diverse Flüssigkeiten tropften auf ihn herab. Etwas brannte an seiner Schulter. Er hörte ein Zischen und merkte, daß es Säure sein mußte.
Irgendwo vor ihm in der Dunkelheit stöhnte Sarah. Wieder blitzte es, und Malcolm sah sie zusammengekrümmt vor der Faltbalgverbindung liegen. Dieses Verbindungsstück war so verdreht, daß der Durchgang beinahe verschlossen war, was bedeutete, daß der zweite Caravan noch auf den Rädern stehen mußte. Es war verrückt. Alles war verrückt.
Draußen brüllten die Dinosaurier, und er hörte eine gedämpfte Explosion. Sie zerbissen die Reifen. Schade, daß sie nicht ins Batteriekabel beißen, dachte er. Das wäre eine hübsche Überraschung für sie.
Plötzlich rammten die Tyrannosaurier den Caravan noch einmal, so daß er quer über die Lichtung schlitterte. Kaum war er wieder zum Stehen gekommen, stießen sie wieder zu. Er rutschte noch ein Stückchen.
Inzwischen hatte er Sarah erreicht. Sie schlang ihre Arme um ihn. »Ian«, sagte sie. Ihre gesamte linke Gesichtshälfte war dunkel. Im Schein des nächsten Blitzes sah er, daß sie blutverschmiert war.
»Alles okay?«
»Ich bin in Ordnung«, sagte sie. Mit dem Handrücken wischte sie sich Blut aus dem Auge. »Kannst du sehen, was es ist?«
Wieder blitzte es, und er sah, daß ihr eine große Glasscherbe knapp unter dem Haaransatz im Fleisch steckte. Er zog sie heraus und drückte die Hand auf die plötzlich stark blutende Wunde. Sie waren in der Küche, und er griff nach oben zum Herd und zog ein Geschirrtuch herunter. Er preßte es ihr gegen den Kopf und sah, daß es sich sofort dunkel verfärbte.
»Tut’s weh?«
»Geht schon.«
»Ich glaube, schlimm ist es nicht«, sagte er. Draußen hallte das Brüllen der Tyrannosaurier durch die Nacht.
»Was tun sie?« fragte Sarah mit tonloser Stimme.
Wieder rammten die Tyrannosaurier den Caravan. Diesmal schien er sich viel weiter zu bewegen als zuvor, er rutschte zur Seite – und dann abwärts.
Abwärts.
»Sie schieben uns«, sagte er.
»Wohin, Ian?«
»Zum Rand der Lichtung.« Die Tyrannosaurier stießen noch einmal zu, und der Caravan rutschte weiter. »Sie schieben uns über den Abhang.« Der Abhang war 150 Meter nackter Fels, der beinahe senkrecht zum Talboden abfiel.
Diesen Sturz würden sie nie überleben.
Sarah schob seine Hand weg und drückte sich das Tuch selbst an den Kopf. »Mach was.«
»Ja, okay«, sagte er. Immer auf den nächsten Stoß gefaßt, kroch er von ihr weg. Er wußte nicht, was er tun sollte. Er hatte nicht die geringste Ahnung. Der Caravan lag auf dem Dach, und alles war verrückt. Seine Schulter brannte, und er roch, wie sich die Säure durch sein Hemd fraß. Vielleicht auch schon durch sein Fleisch. Es brannte heftig. Es war dunkel im Caravan, der Strom war aus, überall lag Glas umher, und er –
Der Strom war aus.
Malcolm wollte sich aufrichten, doch der nächste Stoß warf ihn zur Seite, er stürzte schwer und stieß sich den Kopf am Kühlschrank an. Die Tür ging auf, und Milchkartons und Glasflaschen prasselten auf ihn herab. Aber es brannte kein Licht im Kühlschrank.
Weil der Strom aus war.
Malcolm lag auf dem Rücken, drehte den Kopf zum Fenster und sah den großen Fuß eines Tyrannosauriers im Gras. Es blitzte, als der Fuß sich zum Stoß hob, und sofort bewegte der Anhänger sich wieder, metallisch kreischend glitt er dahin und kippte dann nach unten.
»O Scheiße«, sagte er.
»Ian …«
Aber es war zu spät. Der ganze Caravan ächzte und knarzte, und dann sah Malcolm das untere Ende in die Tiefe sinken. Der Caravan rutschte über den Abhang. Es fing langsam an, und dann wurde es immer schneller, die Decke, die eben noch Boden gewesen war, kippte weg, alles fiel, Sarah fiel und griff im Sturz noch nach ihm, und die Tyrannosaurier brüllten triumphierend. Wir stürzen hinüber, dachte Malcolm.
Weil er nicht wußte, was er sonst tun sollte, packte er die Kühlschranktür und klammerte sich an ihr fest. Die Tür war kalt und schlüpfrig vor Feuchtigkeit. Der Caravan kippte immer stärker, sackte tiefer, Metall knirschte. Malcolm spürte, wie seine Hände von dem weißen Email glitten, glitten … glitten … Und dann konnte er sich nicht mehr halten und fiel, stürzte hilflos auf das untere Ende des Caravans zu. Er sah den Fahrersitz auf sich zu rasen, aber bevor er dort auftraf, knallte er in der Dunkelheit gegen etwas anderes, spürte kurz einen brennenden Schmerz und krümmte sich.
Und langsam hüllte sanfte Schwärze ihn ein.
Regen trommelte auf den Unterstand und strömte wie ein endloser Vorhang an den Seiten herunter. Levine wischte die Linsen seines Nachtsichtgeräts ab und hob es dann wieder an die Augen. Er starrte zu den dunklen Felsen hinüber.
»Was ist?« fragte Arby. »Was ist passiert?«
»Kann ich nicht sagen«, erwiderte Levine. Es war schwer, in diesem Wolkenbruch überhaupt etwas zu sehen. Kurz zuvor hatten sie noch entsetzt mit ansehen müssen, wie die Tyrannosaurier den Caravan auf den Abhang zuschoben. Die großen Tiere hatten das mühelos geschafft; Levine schätzte, daß die Tiere es auf eine gemeinsame Masse von 20 Tonnen brachten, und das ganze Gespann wog nur ungefähr zwei Tonnen. Nachdem sie ihn umgestoßen hatten, rutschte er leicht über das nasse Gras, wenn sie ihn mit ihren Unterbäuchen anstießen oder mit ihren kräftigen Hinterläufen nach ihm traten.
»Warum tun sie das?« fragte Thorne Levine, der neben ihm stand.
»Ich vermute«, sagte er, »daß wir das von ihnen beanspruchte Territorium verändert haben.«
»Was heißt das gleich wieder?«
»Sie dürfen nicht vergessen, womit wir es hier zu tun haben«, sagte Levine. »Tyrannosaurier zeigen vielleicht komplexes Verhalten, aber das meiste davon ist instinktgesteuert. Es ist Verhalten ohne Nachdenken, es sind quasi fest verdrahtete Muster. Und Territorialverhalten gehört in den Bereich der Instinkte. Die Tyrannosaurier markieren Territorium, sie verteidigen dieses Territorium. Es ist kein gedankengesteuertes Verhalten – ihr Gehirn ist nicht sehr groß –, sie tun es aus Instinkt. Jedes Instinktverhalten hat Auslöser, Verhaltensinitiatoren. Und ich fürchte, daß wir, indem wir das Baby mitgenommen haben, ihr Territorium umdefiniert haben, so daß jetzt die Lichtung, auf der sie das Baby wiederfanden, dazugehört. Das heißt, indem sie das Gespann von der Lichtung schieben, verteidigen sie ihr Territorium.«
Es blitzte, und sie sahen es alle im selben, entsetzlichen Augenblick. Der erste Caravan war über die Klippe gerutscht. Er hing kopfüber in der Luft, gehalten nur von der Faltbalgverbindung, die ihn an den zweiten, noch auf der Lichtung stehenden Caravan koppelte.
»Die Verbindung hält das nicht aus!« rief Eddie. »Nicht lange.«
Im grellen Licht eines Blitzes sahen sie die Tyrannosaurier oben auf der Lichtung. Zielstrebig schoben sie den zweiten Caravan auf den Abhang zu.
Thorne drehte sich zu Eddie um. »Ich fahre«, sagte er.
»Ich komme mit«, sagte Eddie.
»Nein! Du bleibst bei den Kindern!«
»Aber sie brauchen –«
»Bleib bei den Kindern. Wir können sie nicht allein lassen!«
»Aber Levine kann –«
»Nein, du bleibst!« sagte Thorne. Er kletterte bereits das vom Regen schlüpfrige Gerüst hinunter. Kelly und Arby sahen ihm nach. Er sprang in den Explorer, schaltete den Motor an. Er überschlug die Entfernung zur Lichtung. Drei Meilen, vielleicht sogar mehr. Auch wenn er schnell fuhr, würde er sieben oder acht Minuten brauchen.
Und dann wäre es zu spät. Er würde es nie rechtzeitig schaffen.
Aber er mußte es versuchen.
Sarah Harding hörte ein rhythmisches Knarzen und öffnete die Augen.
Alles war dunkel, sie wußte nicht, wo sie war. Dann blitzte es, und sie starrte direkt ins Tal hinab, das 150 Meter unter ihr lag. Der Bildausschnitt, den sie sah, schwankte leicht hin und her.
Sie sah durch die Windschutzscheibe des Caravans, der vom Klippenrand herunterhing. Sie fielen nicht mehr. Aber sie hingen bedrohlich in der Luft.
Sie selbst lag quer über dem Fahrersitz, der sich aus seiner Halterung gerissen und eine Kontrolltafel an der Wand zertrümmert hatte; lose Drähte hingen heraus, einige Anzeigen flackerten.
Das Blut in ihrem linken Auge ließ sie nicht klar sehen. Sie zog das Hemd aus der Hose und riß zwei Tuchstreifen ab. Den einen faltete sie zu einer Kompresse zusammen, die sie sich an die Stirnwunde drückte. Den zweiten band sie sich um den Kopf, um die Kompresse zu fixieren. Schmerz durchzuckte sie, und sie biß die Zähne zusammen.
Von irgendwo über ihr kam eine hämmernde Vibration. Sie hob den Kopf und starrte nach oben. Sie sah die ganze Länge des Caravans, der senkrecht nach unten hing. Malcolm war etwa drei Meter über ihr, er hing über einem Labortisch und rührte sich nicht, »Ian«, sagte sie.
Er antwortete nicht. Er rührte sich nicht.
Der Caravan erzitterte wieder und ächzte unter einem dumpfen Stoß. Und plötzlich wußte Sarah, was da passierte. Dieser Teil des Gespanns hing vom Abhang und baumelte frei in der Luft. Aber er war noch mit dem zweiten Caravan verbunden, der oben auf der Lichtung stand. Der Teil, in dem sie sich befand, hing nur noch an der Faltbalgverbindung. Und die Tyrannosaurier schoben jetzt auch den zweiten Caravan über die Kante.
»Ian«, sagte sie. »Ian.«
Ohne auf die Schmerzen in ihrem Körper zu achten, rappelte sie sich hoch. Ihr wurde schwindelig, und sie fragte sich, wieviel Blut sie wohl verloren hatte. Dann begann sie, nach oben zu klettern. Sie stellte sich auf die Rückenlehne des Fahrersitzes, griff nach dem nächsten Labortisch und zog sich daran hoch, bis sie einen an der Wand montierten Griff zu fassen bekam. Der Caravan schwankte unter ihr.
Von dem Griff aus konnte sie die Kühlschranktür erreichen, und sie steckte die Finger durch das Drahtgitter eines Fachs, zog an dem Gitter – es hielt – und hängte ihr ganzes Gewicht daran. Gleichzeitig hob sie das Bein, bis sie den Fuß in den Kühlschrank bekam. Sie schwang und zog sich hoch, bis sie aufrecht im Kühlschrank stand und den Griff des Herds erreichen konnte.
Wie Felsklettern in einer verdammten Küche, dachte sie. Bald war sie neben Malcolm. Es blitzte, und sie sah sein zerschlagenes Gesicht. Er stöhnte. Sie kroch zu ihm und versuchte festzustellen, wie schlimm er verletzt war.
»Ian«, sagte sie.
Seine Augen waren geschlossen. »Tut mir leid.«
»Laß das.«
»Ich hab dich in diesen Schlamassel gebracht.«
»Ian. Kannst du dich bewegen? Bist du okay?«
Er stöhnte. »Mein Bein.«
»Ian, wir müssen etwas tun.«
Oben auf der Lichtung hörte sie die Tyrannosaurier brüllen. Sarah kam es vor, als hätten sie ihr ganzes Leben lang gebrüllt. Der Caravan ruckte und schwankte; ihre Füße rutschten aus dem Kühlschrank, und sie baumelte vom Herdgriff. Das andere Ende des Caravans war etwa sieben Meter unter ihr.
Der Herdgriff würde ihrem Gewicht nicht standhalten, das wußte sie. Zumindest nicht lange.
Wild strampelnd schwang sie die Beine hin und her, bis ihre Zehen etwas Festes berührten. Sie tastete mit den Füßen, trat schließlich fest auf. Sie drehte den Kopf und sah, daß sie auf der Seite des Nirosta-Spülbeckens stand. Sie bewegte den Fuß und drehte dabei den Hahn auf. Ihre Füße wurden naß.
Die Tyrannosaurier brüllten und stießen zu. Der Caravan ruckte und schwang hin und her.
»Ian. Wir haben nicht viel Zeit. Wir müssen etwas tun.«
Er hob den Kopf, starrte sie mit leeren Augen an. Es blitzte wieder. Seine Lippen bewegten sich. »Strom«, sagte er.
»Der Strom ist aus.«
Sie wußte nicht, was er meinte. Natürlich war der Strom aus. Und dann fiel es ihr wieder ein: Er hatte ihn ausgeschaltet. Als die Tyrannosaurier aufgetaucht waren. Das Licht hatte sie zuvor gestört, vielleicht würden sie sich davon wieder stören lassen.
»Willst du, daß ich den Strom anschalte?«
Er nickte kaum merklich. »Ja. Schalt ihn an.«
»Wie, Ian?« Sie sah sich in der Dunkelheit um.
»Da ist eine Schalttafel.«
»Wo?«
Er antwortete nicht. Sie rüttelte ihn an der Schulter. »Ian! Wo ist die Tafel?«
Er zeigte nach unten.
Sie sah, daß lose Drähte aus der Schalttafel hingen. »Ich kann nicht. Sie ist kaputt.«
»Oben …«
Sie konnte ihn kaum verstehen. Dunkel erinnerte sie sich daran, daß es im zweiten Caravan noch eine Schalttafel gab. Wenn sie da hineinkam, konnte sie den Strom vielleicht wieder anschalten.
»Okay, Ian«, sagte sie. »Ich mach’s.«
Sie kletterte höher. Der Bug des Caravans lag jetzt zehn Meter unter ihr. Die Tyrannosaurier brüllten und traten wieder zu. Sie baumelte in der Luft. Und kletterte weiter.
Sie hatte vor, durch die Faltbalgverbindung in den zweiten Caravan zu klettern. Doch als sie sie erreicht hatte, erkannte sie, daß das unmöglich war. Im grellen Schein eines Blitzes sah sie, daß die Verbindung so verdreht war, daß ein Durchkommen unmöglich war.
Sie war im ersten Caravan gefangen.
Sie hörte die Tyrannosaurier brüllen und gegen den zweiten Caravan stoßen. »Ian!«
Sie sah nach unten. Er rührte sich nicht.
Wie sie so dahing, wurde ihr auf einmal schmerzlich bewußt, daß sie besiegt war. Noch ein Stoß, noch zwei Stöße, und es wäre alles vorbei. Sie würden fallen. Sie konnten nichts mehr tun. Es blieb keine Zeit mehr. Sie hing in der Dunkelheit, der Strom war aus, und es gab nichts – Oder vielleicht doch? Sie hörte elektrisches Summen, nicht weit entfernt in der Dunkelheit. Gab es auch an diesem Ende des Caravans eine Schalttafel? War er vielleicht mit Schalttafeln an beiden Enden ausgestattet?
Obwohl ihr Schulter und Unterarme vor Anspannung schmerzten, klammerte sie sich fest und sah sich nach einer zweiten Schalttafel um. Sie befand sich knapp unterhalb des hinteren Endes. Wenn es eine zweite Tafel gab, mußte sie irgendwo in der Nähe sein. Aber wo? Im Schein eines Blitzes schaute sie über die eine Schulter, dann über die andere.
Sie konnte keine Schalttafel entdecken.
Ihre Arme schmerzten.
»Ian,bitte …«
Keine Schalttafel.
Es war unmöglich. Sie hatte weiterhin dieses Summen in den Ohren. Irgendwo mußte diese Tafel sein. Sie sah sie einfach nicht. Aber sie mußte da sein. Sie schwang sich nach links und nach rechts, ein Blitz warf verrückte Schatten, und schließlich entdeckte sie sie.
Die Tafel befand sich nur 15 Zentimeter über ihrem Kopf. Sie war verkehrt herum, aber Sarah konnte alle Knöpfe und Schalter sehen. Sie waren jetzt unbeleuchtet. Wenn sie nur wüßte, welcher Schalter für was –
Scheiß drauf.
Sie klammerte sich mit der linken Hand fest, löste die rechte und drückte auf jeden Knopf, den sie erreichen konnte. Sofort wurde es hell im Caravan, jede Innenlampe sprang an.
Sie drückte weiter die Knöpfe, einen nach dem anderen. Bei einigen gab es Kurzschlüsse, es funkte und rauchte.
Sie drückte weiter.
Plötzlich sprang, nur Zentimeter von ihrem Gesicht entfernt, ein Monitor an. Zuerst waren nur Streifen und Schnee zu sehen, dann wurde das Bild klar. Obwohl sie von der Seite daraufsah, konnte sie die Tyrannosaurier auf der Lichtung erkennen, die über den zweiten Caravan gebeugt standen, ihn mit den Vorderläufen berührten und mit den mächtigen Hinterläufen dagegentraten. Sie drückte weitere Knöpfe. Der letzte hatte eine silberfarbene Schutzabdeckung. Sie hob die Abdeckung an und drückte auch diesen Knopf. Auf dem Monitor sah sie die Tyrannosaurier in einem plötzlichen Funkenregen verschwinden, und sie hörte sie wütend aufbrüllen. Dann ging der Monitor aus, knisternd stoben Funken durch den Raum, die ihr Gesicht und Hände versengten, und dann ging alles im Caravan aus, und es war wieder dunkel.
Einen Augenblick lang herrschte Stille.
Doch dann begann das unerbittliche Hämmern wieder.