Schwere Ochsenkarren ratterten die ganze Nacht durch die engen Gassen und luden Waren ab, die am nächsten Tag, sobald Rom gähnend erwachte, in den Läden verkauft oder in einer Werkstatt oder Gießerei verarbeitet werden sollten.

Als dagegen am fünften Tag des Prozesses gegen Milo vor Lucius Ahenobarbus’ Sondergericht die Sonne aufging, schien Rom wie ausgestorben. Pompeius hatte die Stadt buchstäblich geschlossen. Innerhalb der Servianischen Mauern entfaltete sich nicht das gewohnte geschäftige Treiben, keine Schenke zog die Rollgitter hoch, um Frühstück anzubieten, keine Taverne öffnete die Läden, und keine Bäckerei feuerte die Öfen an. Die Märkte blieben leer, an ruhigen Ecken wurde nicht wie sonst Schule abgehalten, Bankleute und Makler rasselten nicht mit ihren Abakussen, Buchhandlungen und Schmuckgeschäfte blieben geschlossen, weder Sklaven noch Freie gingen zur Arbeit, und auch kein collegium, keine Bruderschaft und kein sonstiger Verein versammelte sich, um den freien Tag zu gestalten.

Die Stille war erdrückend. Alle Straßen, die zum Forum führten, wurden von finster dreinblickenden, wortkargen Soldaten abgesperrt, das Forum selbst strotzte von Speeren und den wallenden Helmbüschen der Legionäre der syrischen Legion. Zweitausend Mann bewachten an jenem eisigen neunten Tag des April das Forum, dreitausend die übrige Stadt. Zitternd vor Kälte und mit nervösen Blicken versammelten sich die etwas mehr als hundert Männer und wenigen Frauen, die dem Prozeß gegen Milo gezwungenermaßen beiwohnten.

Pompeius’ Gericht tagte bereits vor dem Eingang des Schatzamts unterhalb des Saturn-Tempels und sprach in steuerlichen Angelegenheiten Recht, als Ahenobarbus’ Liktoren die Holzkugeln aus dem Kellergewölbe holten und die Krüge für die Lose vorbereiteten. Marcus Antonius, der in Rom geblieben war, um an dem Prozeß teilzunehmen, lehnte verschiedene Geschworene im Namen der Anklage ab, Marcus Marcellus tat dasselbe für die Verteidigung. Als die Kugel mit Catos Namen gezogen wurde, nickten jedoch beide.

Nach zwei Stunden waren die einundfünfzig Männer ausgewählt, die die Plädoyers hören sollten. Danach hatte die Anklage zwei Stunden Zeit für ihre Reden. Der ältere Appius Claudius und Marcus Antonius sprachen je eine halbe Stunde, Publius Valerius eine Stunde. Sie hielten gute Reden, allerdings nicht von der Qualität eines Cicero.

Die Geschworenen beugten sich erwartungsvoll auf ihren Klappstühlen vor, als Cicero mit einer Schriftrolle in der Hand vortrat, um sein Plädoyer zu beginnen. Die Rolle hielt er nur der Wirkung wegen in der Hand, er hatte sie noch nie benutzt. Seine Reden klangen immer so lebhaft und fesselnd, als würde er sie sich spontan ausdenken. Wer hätte auch seine Rede gegen Gaius Verres vergessen können, oder seine Verteidigung des Caelius, des Cluentius oder des Roscius aus Ameria? Ob Mörder, Halunken, Ungeheuer — Cicero sprach unterschiedslos für sie alle. Sogar den schlimmen Antonius Hybrida hatte er aussehen lassen wie ein Musterbild der Tugend.

»Lucius Ahenobarbus, Geschworene, ich spreche heute zu euch als Vertreter des großen und guten Titus Annius Milo.«

Cicero hielt inne, sah Milo an, der sich ebenfalls erwartungsvoll vorgebeugt hatte, und schluckte. »Wie merkwürdig es ist, Soldaten als Zuhörer zu haben! Ich vermisse das übliche geschäftige Treiben... « Wieder hielt er inne und schluckte. »Aber wie klug von unserem Konsul Gnaeus Pompeius, dafür zu sorgen, daß nichts Ungehöriges passiert ist — passiert...« Er schluckte wieder. »Wir werden beschützt, wir haben nichts zu befürchten, und am allerwenigsten hat mein lieber Freund Milo etwas zu befürchten... « Er schwenkte die Rolle ziellos durch die Luft. »Publius Clodius war wahnsinnig, er hat gebrandschatzt und geplündert, ja, gebrandschatzt. Seht, was er aus unserer geliebten Curia Hostilia gemacht hat, aus der Basilica Porcia...« Cicero runzelte die Stirn und rieb sich mit den Fingern der einen Hand die Augen. »Basilica Porcia. .. Basilica Porcia... «

Die Stille war so absolut, daß das Klirren eines Speeres, der gegen einen Schild stieß, klang wie ein einstürzendes Gebäude. Milo starrte Cicero an, Marcus Antonius grinste, und Lucius Ahenobarbus’ Glatze blendete in der Sonne wie ein Schneefeld.

Er setzte erneut an. »Sollen wir denn für immer im Elend leben? Nein. Seit dem Tag, da Publius Clodius verbrannte, ist das vorbei. Publius Clodius’ Tod war für uns ein unbezahlbares Geschenk! Der Römer, der hier vor uns steht, hat sich nur verteidigt, er hat um sein Leben gekämpft. Er stand immer auf der Seite der wahren Freunde Roms, sein Zorn galt den vulgären Methoden der Volksverhetzer... « Er schluckte. »Publius Clodius trachtete Milo nach dem Leben, daran kann kein Zweifel sein, überhaupt kein Zweifel... überhaupt... kein Zweifel... kein... Zweifel... «

Caelius trat mit besorgtem Gesicht zu Cicero. »Es geht dir offenbar nicht gut, Cicero. Ich hole dir etwas Wein.«

Die braunen Augen, die ihn anstarrten, waren verschleiert. Er wußte nicht, ob sie ihn überhaupt sahen.

»Danke, es geht mir gut«, sagte Cicero und setzte erneut an. »Milo bestreitet nicht, daß es auf der Via Appia zum Kampf kam, er bestreitet nur, daß er damit angefangen hat. Er bestreitet auch nicht, daß Clodius starb, er bestreitet nur, daß er ihn umgebracht hat. Deshalb ist die Anklage gegen Milo gegenstandslos. Notwehr ist kein Verbrechen, sie war es noch nie. Ein Verbrecher handelt vorsätzlich, und das hat Clodius getan. Vorsätzlich gehandelt. Publius Clodius, er, nicht Milo, nein, nicht Milo... «

Wieder trat Caelius zu ihm. »Cicero, bitte, nimm einen Schluck Wein!«

»Nein, es geht mir gut, wirklich. Danke... Wie viele Leute hat Milo denn dabei gehabt? Einen Wagen, eine Frau, Quintus Fufius Calenus, Gepäck und einen Haufen Sklaven. Plant man so einen Mord? Clodius hatte keine Frau dabei. Ist das nicht schon verdächtig, wo Clodius doch sonst keinen Schritt ohne seine Frau getan hat? Clodius hatte kein Gepäck dabei, er konnte sich völlig frei... konnte sich... «

Drüben sah er Pompeius vor dem Saturn-Tempel sitzen. Pompeius schien Ahenobarbus’ Gericht gar nicht zu bemerken. Wie falsch Cicero ihn eingeschätzt hatte. Beim Jupiter, Pompeius würde ihn umbringen!

»Milo ist ein intelligenter Mensch. Wenn der Mord so passiert wäre, wie die Anklage uns glauben machen will, müßte Milo verrückt sein. Aber das ist er nicht. Clodius war verrückt. Alle wissen, daß Clodius verrückt war! Alle!«

Er brach ab und wischte sich den Schweiß aus den Augen. Fulvia, die neben ihrer Mutter Sempronia vor ihm saß, verschwamm vor seinem Blick. Wer stand neben ihr? Curio. Und sie alle lächelten, lächelten ununterbrochen, während er, Cicero, tausend Tode starb.

»Starb. Er starb. Clodius starb. Niemand bestreitet das. Wir alle müssen einmal sterben, auch wenn niemand sterben will. Clodius starb, von eigener Hand. Milo hat ihn nicht umgebracht. Er ist... er ist... «

Eine schreckliche halbe Stunde lang kämpfte Cicero weiter, stammelte, stotterte und stolperte über die einfachsten Wörter. Bis er nur noch an den vor dem Satum-Tempel rechtsprechenden Gnaeus Pompeius Magnus denken konnte. Er brach ein letztes Mal ab und schwieg.

Keiner der Anhänger Milos war wütend, nicht einmal Milo selbst. Der Schock saß zu tief, Ciceros Gesundheitszustand schien zu bedenklich. Was war mit ihm los? Ob er wieder die schrecklichen Kopfschmerzen mit den Lichtblitzen hatte? Das Herz war es jedenfalls nicht, grau sah er nicht aus. Der Magen auch nicht. Vielleicht ein Schlaganfall?

Marcus Claudius Marcellus trat vor. »Lucius Ahenobarbus, Marcus Tullius kann offenbar nicht weitersprechen. Das ist traurig, denn wir haben ihm unsere Redezeit zur Verfügung gestellt und sind nicht darauf vorbereitet, selbst zu sprechen. Darf ich das Gericht und die Geschworenen deshalb bitten, sich an die früheren Reden des Marcus Tullius zu erinnern? Heute ist er krank und kann nicht reden, aber stellt euch seine ungesagten Worte vor, Geschworene; sie hätten euch zweifelsfrei gezeigt, wer in diesem tragischen Fall die Schuld trägt. Damit schließt die Verteidigung den Beweisvortrag ab.«

Ahenobarbus straffte sich. »Geschworene«, rief er, »ich bitte euch um eure Stimmen!«

Die Geschworenen beugten sich über ihre Täfelchen und ritzten ein A für absolvo oder ein C für condemno ins Wachs. Ahenobarbus’ Liktoren sammelten die Täfelchen ein, und Ahenobarbus zählte unter den Augen von Zeugen, die ihm über die Schulter sahen, die Stimmen.

»Schuldig mit achtunddreißig Stimmen gegen dreizehn«, verkündete er mit unbewegter Stimme. »Titus Annius Milo, ich werde einen Ausschuß einsetzen, der eine Geldstrafe bestimmen wird, aber der Schuldspruch bedeutet gemäß der lex Pompeia de vi zugleich die Verbannung. Es ist meine Pflicht, dich darauf hinzuweisen, daß du im Umkreis von fünfhundert Meilen von Rom geächtet bist. Außerdem muß ich dich darauf hinweisen, daß du dich wegen drei weiterer Klagen zu verantworten hast. Du bist angeklagt vom Gericht des Manlius Torquatus wegen Wahlbetrugs, vom Gericht des Marcus Favonius wegen illegalen Verkehrs mit Mitgliedern von collegia, die nach der lex Julia Marcia verboten sind, und vom Gericht des Lucius Fabius wegen gewalttätiger Umtriebe nach der lexPlautia de vi. Die Sitzung ist beendet.«

Caelius führte den völlig entkräfteten Cicero vom Platz. Cato, der für Freispruch gestimmt hatte, trat zu Milo. Alles war sehr eigenartig. Nicht einmal die sonst so gehässige Fulvia brach in Triumphgeschrei aus. Die Menschen entfernten sich wie betäubt.

»Tut mir leid, Milo«, sagte Cato.

»Mir noch viel mehr!« erwiderte Milo.

»Ich fürchte, die anderen Gerichte werden dich auch schuldig sprechen.«

»Natürlich. Und ich werde mich nicht einmal selbst verteidigen können, ich fahre nämlich schon heute nach Massilia ab.«

Cato senkte seine sonst so laute Stimme. »Wenn du auf die Niederlage vorbereitet bist, kann dir nicht viel passieren. Du hast hoffentlich gemerkt, daß Lucius Ahenobarbus nicht angeordnet hat, dein Haus zu versiegeln und dein Vermögen zu pfänden.«

»Ich danke ihm dafür. Und ich bin vorbereitet.«

»Ich war wie vom Donner gerührt, als ich Cicero reden hörte.«

Milo schüttelte lächelnd den Kopf. »Der arme Cicero! Ich glaube, er hat gerade eines von Pompeius’ Geheimnissen entdeckt. Behalte Pompeius im Auge, Cato! Ich weiß, daß die boni um ihn werben, und ich weiß auch, warum. Trotzdem tust du letzten Endes besser daran, dich Caesar anzuschließen. Caesar ist wenigstens Römer.«

»Caesar?« Cato richtete sich empört auf. »Lieber sterbe ich!« Wütend marschierte er davon.

Ende April wurde Hochzeit gefeiert. Gnaeus Pompeius Magnus heiratete die Witwe Cornelia Metella, Metellus Scipios zwanzigjährige Tochter. Die Anklage, die Plancus Bursa Scipio angedroht hatte, wurde nie erhoben.

»Keine Sorge, Scipio!« sagte der Bräutigam bei dem Hochzeitsessen im kleinen Kreis heiter. »Ich gedenke, im Quinctilis Wahlen abzuhalten, und ich verspreche dir, daß du für den Rest dieses Jahres zu meinem Mitkonsul gewählt wirst. Sechs Monate sine collega sind genug.«

Metellus Scipio wußte nicht, ob er Pompeius dafür küssen oder schlagen sollte.

Cicero ging einige Tage nicht aus dem Haus, dann hatte er sich wieder erholt. Er redete sich selbst ein, daß nichts passiert sei, daß Pompeius der war, den er kannte, und daß er Kopfschmerzen gehabt hatte, jene schrecklichen Kopfschmerzen, die Verstand und Zunge lähmten. Das sagte er auch zu Caelius. Den anderen sagte er, die Anwesenheit der Legionäre habe ihn aus dem Konzept gebracht. Wem dabei einfiel, daß Cicero schon in schlimmeren Situationen geredet hatte, ohne sich zu verheddern, der sagte nichts. Wahrscheinlich wurde Cicero einfach alt.

Milo ging nach Massilia ins Exil, Fausta kehrte allerdings schon bald wieder zu ihrem Bruder nach Rom zurück.

In Massilia bekam Milo Post: eine Abschrift der Rede, die Cicero eigentlich hatte halten wollen.

»Ich danke dir«, schrieb Milo Cicero. »Hättest du den Mut gehabt, diese Rede zu halten, lieber Cicero, dann brauchte ich jetzt nicht in Massilia ins Meer zu starren.«