Whangarei, Februar 1920
Ben hatte Vivian eine Überraschung versprochen, als er sie an diesem Tag bei Matui abholte. Beim ersten Zusammentreffen mit dem Reporter hatte der alte Maori keinen Hehl aus seiner Ablehnung gegen den jungen Halbmaori gemacht. Heute hatte er sich ihm gegenüber schon wesentlich freundlicher verhalten. Vivian vermutete, es könne daran liegen, dass sie den alten Maori inzwischen in ihre Heiratspläne eingeweiht hatte. Seine erste Reaktion auf diese Nachricht hatte Vivian allerdings schwer erschüttert. »Aber du liebst doch den falschen Sohn des Bischofs. Warum heiratest du einen anderen?«, hatte er sie erstaunt gefragt.
Allein bei dem Gedanken an diesen Satz bekam Vivian heiße Ohren. Sie hatte das natürlich vehement abgestritten, aber dem alten Maori konnte sie nichts vormachen. Er hatte sich zwar nicht mehr dazu geäußert, aber seine Blicke sprachen Bände.
Vivian seufzte tief. Seit drei Tagen war Matui zu erschöpft, um ihr weiterzuerzählen. Dabei interessierte sie der Fortgang der Geschichte brennend. Ob Matui ihr irgendwann beichten würde, dass er Henry umgebracht hatte? Sie hatte ihm jedenfalls verschwiegen, dass man dessen Überreste in Oneroa entdeckt hatte. Sie hegte immer noch gemischte Gefühle gegenüber dieser fürchterlichen Art der Rache. Natürlich konnte sie auch June irgendwie verstehen, aber Mord war in ihren Augen einfach keine Lösung.
»Was bewegst du denn Schweres in deinem hübschen Köpfchen?«, fragte Ben, der stehen geblieben war und ihr mit der Hand zärtlich über die Stirn fuhr. »Du siehst ganz zergrübelt aus. Das passt aber nicht zu meiner Überraschung.«
»Und was würde passen?«
»Das strahlende Lächeln einer glücklichen Braut.« Er lachte.
Vivian warf den Kopf in den Nacken und verzog den Mund zu einem verunglückten Lächeln. »So vielleicht?«
»Gott bewahre!«, lachte er.
Als Antwort streckte sie ihm die Zunge heraus.
»Und so etwas darf dir schon gar nicht passieren. Das ist der Überraschung mehr als abträglich.«
»Ach, nun mach es doch nicht so spannend! Du wirst mir doch kein Hochzeitskleid ausgesucht haben, oder?«
»O nein, in Kleiderfragen vertraue ich der Lady aus London. Da würde ein Mann, der im hintersten Winkel der Welt zu Hause ist, mit Sicherheit danebengreifen.«
Jetzt musste Vivian ebenfalls lachen, und sie stieß ihn zärtlich in die Seite. »Weißt du, warum ich dich heiraten werde?«
»Weil du mich liebst, hoffe ich«, erwiderte er prompt.
»Weil du mich andauernd zum Lachen bringst.«
»Gut, dann diene ich eben deiner Belustigung. Schlimmer wäre es, ich würde dich langweilen.«
»So habe ich das doch nicht gemeint«, erwiderte sie entschuldigend. »Ich bin nur etwas vorsichtig, wenn es um Gefühle geht. Dazu bin ich zu oft enttäuscht worden.«
»Schon gut!« Er fasste sie bei der Hand.
Sie waren inzwischen unten im Ort angekommen und schlenderten einträchtig die Hauptstraße entlang. Vor dem Hotel blieb Ben stehen.
»Jetzt verstehe ich. Du willst das verkorkste Essengehen nachholen. Das ist eine tolle Überraschung. Dann wollen wir nur hoffen, dass wir nicht wieder unliebsame Begegnungen haben«, scherzte Vivian, doch Ben musterte sie mit ernster Miene. Seine Heiterkeit war wie verflogen.
»Ich hoffe nicht«, sagte er.
Das Restaurant war ziemlich leer an diesem Abend, und doch steuerte Ben zielstrebig auf den einzigen Tisch zu, der bereits besetzt war. Zu Vivians großer Verwunderung winkte ihnen ein Mann, den sie auf etwa fünfzig schätzte, lächelnd zu. Und obwohl er sehr hellhäutig war, erkannte Vivian auf den zweiten Blick, dass beide Männer zum Verwechseln lachten. Sie erschrak. Die Überraschung war kein Geringerer als Bens Vater. Sie atmete einmal tief durch und straffte die Schultern, bevor sie ein Lächeln aufsetzte, aber nicht so gekünstelt, wie sie es soeben vorgeführt hatte. Ben legte beinahe besitzergreifend seinen Arm um ihre Taille und führte sie an den Platz neben seinem Vater. Der sprang galant auf, deutete eine Verbeugung an und gab ihr einen Handkuss.
»Aber Vater, das ist auch in London nicht üblich. Denk an deinen Rücken.«
Statt seinem Sohn böse zu sein, lachte Mister Schneider aus vollem Hals. »Damit wollte ich nur zum Ausdruck bringen, dass deine Braut bezaubernd ist. Miss Taylor, Sie sind zum Niederknien.«
Wider Willen musste Vivian schmunzeln.
»Den Charme hat Ihr Sohn also von Ihnen geerbt«, erwiderte sie schlagfertig, während sie sich auf den Stuhl setzte, den Ben ihr vom Tisch abgerückt hatte. Nun nahmen auch die beiden Männer Platz, und Mister Schneider schenkte ihr einen bewundernden Blick. »Mein Sohn hätte Sie mir gar nicht so anpreisen müssen. Keine Frage, dass ich für eine wortgewandte junge Dame, wie Sie es sind, in meiner Zeitung eine Stellung habe.«
Vivian blickte ihn überrascht an. »Sie würden mich wirklich einstellen?«
»Wir sind eben ein Familienbetrieb«, erwiderte er und fügte galant hinzu: »Und ich darf ohne Übertreibung sagen, dass ich mit Bens Wahl außerordentlich zufrieden bin.«
»Das freut mich, Mister Schneider«, entfuhr es Vivian gerührt.
»Ach, Miss Taylor, wir sollten uns nicht unnötig mit Höflichkeitsfloskeln aufhalten. Die können wir Neuseeländer ohnehin nicht leiden. Du kannst mich Vater nennen.«
Dieses Angebot traf Vivian unvorbereitet. Sie hatte noch niemals einen Vater besessen, und sie würde keinen Mann jemals so nennen können, schon gar keinen, den sie erst seit zwei Minuten kannte. Trotzdem lächelte sie tapfer, während sie gefasst erwiderte: »Ich bin Vivian.«
Der Kellner trat an den Tisch und störte ihr kleines Gespräch. Er fragte nach ihren Wünschen, doch Ben teilte ihm mit, dass sie mit dem Essen noch auf einen weiteren Gast warten müssten.
Vivian zuckte zusammen. Einen weiteren Gast? Er meinte doch hoffentlich nicht den BischoP. Sie hatte den Gedanken kaum zu Ende gedacht, als Peter Newman mit suchendem Blick das Lokal betrat.
Vivians erster Impuls war es zu flüchten, doch Bens Vater legte ihr die Hand auf den Arm und raunte verschwörerisch: »Ich habe schon gehört, dass du deinen Vormund nicht besonders magst. Aber keine Sorge, ich bin ja bei dir!«
Vivian rang nach Luft, doch da war der Bischof bereits mit finsterer Miene an den Tisch getreten.
»Guten Abend«, grüßte er steif in die Runde.
»Ja, das ist Bischof Newman, ein entfernter Verwandter von mir und nach dem Tod meiner Eltern mein Vormund«, beeilte sich Vivian zu sagen, um dem Bischof zu signalisieren, dass sie keinem Menschen verraten hatte, dass sie in Wahrheit seine Tochter war.
Statt ihr dankbar zu sein, warf er ihr einen strafenden Blick zu. »Wir haben uns Sorgen um dich gemacht. Wie kommst du dazu, einfach in Whangarei zu bleiben, obwohl mein Sohn, dein Aufpasser, längst abgereist ist?«
»Aber werter Bischof, wir sind doch hier zusammengekommen, um eher ein freudiges Ereignis zu feiern«, mischte sich Mister Schneider ein und erhob sich. »Falls Ihnen das mein Sohn nicht telegrafiert hat, ich bin Verleger des Chronicle aus Wanganui und der Vater des stolzen jungen Mannes, der Ihr Mündel heiraten möchte.«
Er deutete auf Ben, der sich verlegen dem Bischof zuwandte.
»Ja, wie Sie sich vielleicht bereits denken konnten, als ich Sie telegrafisch zu diesem Treffen bat. Ich möchte Sie um Vivians Hand anhalten.«
Peter Newman starrte Ben an, als hätte er etwas Furchtbares verkündet, doch dann riss er sich zusammen. »Sie ist noch viel zu jung«, erklärte er gestelzt.
»Genau, deshalb fragen wir Sie ja persönlich«, erwiderte Mister Schneider rasch. Er warf Vivian einen ermunternden Blick zu, aber sie nahm das gar nicht richtig wahr. Viel zu viele Gedanken schossen ihr gleichzeitig durch den Kopf. Was hatte sich Ben eigentlich dabei gedacht, sie mit dem Bischof zu konfrontieren? Und überhaupt: Warum hatte er sie nicht nach ihrer Meinung zu diesem Treffen gefragt, bevor er sich mit ihrem Vater in Verbindung gesetzt hatte?
Dementsprechend bestellte sie nur eine Suppe, als der Kellner sie nach ihren Wünschen fragte. Das brachte ihr zwar einen besorgten Blick Bens ein, aber der kümmerte sie nicht sonderlich. Plötzlich war ihr alles gleichgültig. Dass Ben über ihren Kopf hinweg eine solch wichtige Entscheidung getroffen hatte und auch dass der Bischof ihr gegenübersaß.
Peter räusperte sich. »Ich habe im Grunde genommen nichts dagegen. Dennoch müsste ich darauf bestehen, dass sie bis zur Hochzeit bei mir lebt.«
Ein eiskalter Schauer überlief Vivian.
»Nein, das kann ich nicht. Ich werde bis zur Hochzeit bei einem alten Maori mit Namen Matui Hone Heke wohnen. Er hat mich so freundlich aufgenommen ...«
»Mister Newman, wenn Sie unserer Hochzeit zustimmen, werden wir sofort zusammen nach Wanganui reisen, und meine Braut wird in unserem Haus leben«, mischte sich Ben beflissen ein.
Vivian warf ihm einen vernichtenden Blick zu. Sie dachte nicht daran, ihre Bleibe bei Matui zu verlassen, bevor er ihr alles über ihre Familie erzählt hatte, doch sie behielt ihre Widerworte für sich. Und vor allem, wie kam er dazu, über ihren Kopf hinweg ein Treffen mit Peter Newman zu arrangieren, obwohl er wusste, was für Probleme sie mit ihrem so genannten Vormund hatte?
»Gut, damit bin ich einverstanden«, stimmte der Bischof Ben in gönnerhaftem Ton zu.
»Du lebst bei dem alten Mann, der sich geweigert hat, das Bildnis des Missionars Walter Carrington zu schnitzen?«, fragte Mister Schneider neugierig.
»Und du willst wirklich so gut wie gar nichts essen?«, mischte sich Ben ein, um seinen Vater ganz offensichtlich von diesem heiklen Thema abzulenken.
»Er ist ein verwirrter alter Mann und hält mich irrtümlich für eine Verwandte, aber er ist unendlich gastfreundlich«, bemerkte Vivian mit ruhiger Stimme.
»Der Mann scheint Ihren Urgroßvater aber nicht sonderlich zu mögen«, entgegnete Mister Schneider prompt und musterte den Bischof, als erwarte er eine Erklärung von ihm.
Der aber hob die Schultern. »Ich kenne den Mann nicht. Ich weiß von meinem Sohn, der für eine Aucklander Zeitung arbeitet, zwar von dieser Geschichte, aber ich kann mir keinen Reim darauf machen. Ich weiß nur, dass mein Urgroßvater Walter Carrington sich in besonderer Weise um das Wohl der Maori verdient gemacht hat.«
»Nun gut, das war auch nur mein berufliches Interesse, aber hier handelt es sich schließlich um etwas anderes«, bemerkte Mister Schneider einlenkend. »Erheben wir unser Glas auf die Liebe!«
Während er theatralisch aufstand, spürte Vivian, wie ihr unbehaglich zumute wurde. Daran änderte sich auch nichts, als Ben zärtlich ihre Hand ergriff. Im Gegenteil, ihr wurde bewusst, dass sie nicht mit dem Herzen bei der Sache war. Es war keine Liebe, die sie für Ben empfand, sondern Freundschaft, und der Gedanke, seine Frau zu werden, war ihr plötzlich zuwider. Sollte das ihre Zukunft sein? Und mit einem Mal überkam sie eine geradezu schmerzliche Sehnsucht nach Frederik. Was hätte sie darum gegeben, wenn er jetzt ihre Hand gehalten und darauf gewartet hätte, dass sie ihr Glas zur Hand nahm. Doch sie konnte nicht, obwohl alle sie erwartungsvoll ansahen. Sogar der Bischof blickte nicht finster, sondern fragend.
»Liebling, wollen wir nicht auf unser Glück anstoßen?« Bens Stimme klang flehend.
Zögernd nahm sie ihr Glas und tat, was die anderen von ihr verlangten, doch sie konnte sich nicht einmal zu einem Lächeln durchringen.
Am liebsten wäre sie aufgestanden und nach Hause gegangen. Sie erschrak, als ihr klar wurde, wohin es sie zog. Sie wäre gern geradewegs durch die exotische grüne Pflanzenwelt mit ihren fremdartigen Geräuschen hinauf auf den Berg zu Matui geeilt und in die Geschichte ihrer Familie eingetaucht. Es fiel ihr allerdings schwer, sich vorzustellen, dass der abweisende Mann ihr gegenüber der nächste Familienangehörige war, den sie auf dieser Welt hatte. Ihr eigener Vater.
Ihre Blicke trafen sich. Täuschte sie sich, oder entdeckte sie zum ersten Mal, seit sie ihn kannte, etwas Verletzliches hinter seiner kühlen Fassade?
Sie wollte sich abwenden. Als ein leises Lächeln über sein Gesicht huschte, mochte sie es nicht glauben. Vor allem nicht, dass es tatsächlich ihr galt. Doch begann er nun, ohne sie aus den Augen zu lassen, zu reden.
»Ja, liebe Vivian, ich wünsche dir alles Glück dieser Welt, nach allem, was du durchmachen musstest. Lieber Ben, ich glaube, dass du es wirklich gut mit ihr meinst, und deshalb hast du meinen Segen. Wenn ihr wollt, werde ich euch trauen.« Der Bischof redete mit einem Mal so vertraut, als wären sie eine Familie.
»Auf keinen Fall«, entfuhr es Vivian, während Ben gleichzeitig erfreut ausrief: »Das wäre wunderbar!«
Vivian wurde es heiß vor Scham. Schweiß rann ihr den Rücken hinunter. Das ist alles nur Fassade!, schrie es verzweifelt in ihrem Innern. In ihren Ohren begann es zu rauschen, so als würden sich die Wellen des Ozeans in ihnen brechen.
»Liebling, ist dir nicht gut?«, hörte sie wie von ferne Bens besorgte Stimme fragen.
»Verzeiht mir, ich ... ich glaube, ich brauche ein wenig frische Luft«, stammelte sie, während sie aufsprang und nach draußen stürzte.
Zitternd lehnte sie sich an eine schattige Häuserwand. Ich kann das nicht, hämmerte es in ihrem Kopf, der zum Zerbersten schmerzte.
»Vivian, was ist mit dir?« Es war die strenge Stimme des Bischofs.
Müde drehte sie sich zu ihm um.
»Es ist nichts. Die ungewohnte Hitze vielleicht«, entgegnete sie schwach.
Der Bischof trat verlegen von einem Fuß auf den anderen. »Ich muss mich bei dir entschuldigen. Ich habe dich nicht freundlich empfangen. Du bist so unverhofft in mein Leben gestolpert. Und auch, wenn du es mir nicht glaubst, ich habe deine Mutter geliebt, doch ich bin schwach. Es gibt etwas in meiner Vergangenheit, das ich mühsam aus meinem Leben gedrängt hatte. Ich habe eine schwere Schuld auf mich geladen, weil ich damals fortgegangen bin und deine Mutter und dich einfach zurückgelassen habe. Ich bin davor weggelaufen, und ich kann nicht mehr zurück. Ich habe mich für ein Leben ohne den Makel entschieden. Es ist wie eine Wunde...«
»Keine Sorge, Mister Newman«, unterbrach Vivian ihn kalt. »Von mir wird keiner je erfahren, dass durch Ihre Adern allem Anschein nach Maori-Blut fließt. Bitte entschuldigen Sie mich jetzt bei den anderen. Ich möchte gern nach Hause.«
Vivian wandte sich abrupt ab und eilte wie betäubt in Richtung ihres Bergs. Sie spürte den Blick des Bischofs förmlich in ihrem Rücken brennen, doch sie drehte sich nicht noch einmal um.