Maiki Hill, nur wenig später, 11. März 1845
Hone Heke hatte die Krieger nach seinem großen Triumph um sich versammelt. Stolz sah er in die Runde. An Matthew blieb sein Blick hängen, und ein Lächeln huschte über sein Gesicht. »Matui, tama, schön, dass du bei uns bist. Begleitest du mich nach Kaikohe?«
Matthew überliefen eiskalte Schauer. In diesem Augenblick wurde ihm klar, dass er keinen einzigen Gedanken daran verschwendet hatte, was danach sein würde. Sein ganzes Trachten hatte allein diesem Augenblick gegolten: Hone Hekes abermaligem Sieg!
Der Häuptling musterte ihn so intensiv, als könne er ihm auf den Grund der Seele blicken. Ich kann doch gar nicht mehr zurück zu den Carringtons, erkannte Matthew. Es ist Krieg, und ich kämpfe auf der Seite ihres Feindes. »Ich komme mit, aber nur wenn wir vorher meine Schwester aus Te Waimate abholen. Ohne sie werde ich nicht gehen.«
»So soll es sein«, erwiderte Hone Heke und forderte die Krieger auf, ihm nach Kororareka zu folgen, um Kawiti zu helfen, die Rotröcke auf ihre Schiffe zurückzutreiben. Dann wandte er sich noch einmal zu Matthew um und hielt ihm eine Muskete hin.
Matthew war viel zu verblüfft, um zuzugreifen.
»Nun nimm sie schon!«, befahl Hone Heke eindringlich. »Wir sind im Krieg.« In diesem Augenblick erklang ein lauter Knall, der die Erde erbeben ließ.
Zögernd nahm Matthew das schwere und lange großkalibrige Vorderladegewehr an sich.
»Komm, Bruder, ich bleibe in deiner Nähe«, ermutigte ihn plötzlich eine bekannte Stimme.
Erfreut fuhr Matthew herum. »Tiaki, wo kommst du denn her?«
Der Freund lachte. »Ich habe die ganze Zeit neben dir gestanden, aber du hast wie wir alle verzückt dabei zugesehen, wie Hone Heke das Eisen bezwungen hat. Aber sag mal, du willst Maggy wirklich mitnehmen nach Kaikohe?«
»Ja, und wenn du sie in zwei Jahren immer noch heiraten willst, gebe ich sie dir zur Frau. Versprochen«, lachte Matthew, doch dann verging ihm das Lachen. Ganz in der Nähe wurde geschossen. Die Rotröcke waren im Anmarsch.
Hone Heke aber feuerte seine Krieger an, sich ihnen mutig entgegenzustellen. Sie antworteten ihm mit einem rhythmischen Gesang: »Ka mate, ka mate! Ka ora! Ka ora! Ka mate! Ka mate! Ka ora! Ka ora! Tenei te tangata pühuruhuru. Näna nei i tiki mai whakawhiti te rä. Ä, upane! Ka upane! Ä, upane, ka upane, whiti te ra!«
Als sie die Worte wiederholten, während sie sich dem Feind immer mehr näherten, stimmte auch Matthew mit ein. Er war wie im Rausch.
Sie waren jetzt am unteren Blockhaus angekommen, in dem ein Dutzend Rotröcke dazu abgestellt worden war, den Hügel zu bewachen, doch nun lagen sie allesamt vor der Hütte in ihrem Blut.
»Wir haben sie auf dem Weg nach oben besiegt«, erklärte Tiaki voller Stolz. Matthew aber erwachte beim Anblick der toten Soldaten aus seinem Traum. Ihm wurde übel. Es erinnerte ihn fatal an damals. Als sie aus dem Vorratshaus geklettert waren und ihre Brüder und Schwestern ... Er konnte nichts dagegen tun. Er erbrach sich unter einem Kauribaum. Tiaki blieb besorgt an seiner Seite, während die anderen sich rasch entfernten.
»Was ist mit dir, Bruder? Kann ich dir...« Weiter kam der Freund nicht, denn in diesem Augenblick erschallte aus dem dichten Busch heraus eine triumphierende Stimme: »Hier haben wir zwei von ihnen! Ganz allein.« Und dann fiel ein Schuss. Matthew sah voller Entsetzen, wie eine Fontäne dunklen Blutes aus Tiakis Bauch hervorspritzte, bevor er zu Boden sank. Ein weiterer Schuss erfolgte, und Matthew spürte einen brennenden Schmerz am Oberarm.
Außer sich vor Zorn legte Matthew das Gewehr an und feuerte in die Richtung der Rotröcke, als hätte er nie etwas anderes getan, als zu schießen. Er hörte einen Schrei, doch danach war alles still, bis auf das Schlachtgetümmel, das von ferne bis hierher drang. Und dann ein leises Stöhnen. »Matui, Matui.«
Matthew beugte sich über den schwer verletzten Freund. Was sollte er bloß tun? Immer noch sickerte ihm das Blut aus dem Bauch. Matthew musste sich zwingen, den Blick nicht abzuwenden, denn Tiakis Bauch war nackt, sodass die klaffende Wunde sichtbar war. Der Freund wiederholte immer wieder seinen Namen und blickte ihn flehend an. »Makere«, flüsterte er schließlich erschöpft und schloss die Augen.
Matthew nahm seine Hand und drückte sie. »Du wirst sie heiraten, wenn du wieder gesund bist«, raunte er.
»Rache«, brachte Tiaki keuchend hervor. »Schwör Rache an dem Pakeha!«
Matthew liefen eiskalte Schauer über den Rücken. Was versuchte Tiaki ihm damit zu sagen? Dass er weiterkämpfen solle?
»Natürlich werde ich meine Muskete bedienen, solange meine Hände sie halten können«, erklärte er feierlich.
»Dieser Pakeha, der Makere ...« Tiakis Stimme erstarb.
»Von welchem Pakeha sprichst du, Bruder?«
»Er ...« Tiaki keuchte schwer. »... hat ... Makere ... mit Gewalt... hat Kind ...«
»Maggy hat kein Kind. Maggy ist doch selbst noch ein Kind. Bitte, sprich nicht mehr! Das strengt dich zu sehr an«, beschwor Matthew den verwundeten Freund und versuchte, ruhig zu klingen. Dabei pochte sein Herz bis zum Hals.
Tiaki aber riss noch einmal die Augen auf. Jeglicher Glanz war daraus gewichen.
»Nein, Maggy ... weißes Baby ... du ... Rache. Töte ihn! Schwör es! Töte ihn... Ich ...« Doch dann brach sein Blick, und sein Kopf kippte leblos zur Seite.
Matthew war wie betäubt. Sein Arm brannte wie Feuer, doch Tiakis Worte ließen ihn plötzlich aufspringen. Die Erkenntnis traf ihn wie ein Blitz: War Maggy etwa deshalb noch immer in Te Waimate? Nicht, weil es ihr dort so gut gefiel, sondern weil man sie dort versteckt hatte, um die Schande nicht ruchbar werden zu lassen? Siedend heiß fiel ihm ihr dicker Bauch ein. Und er hatte geglaubt, sie habe sich überfressen. Wie dumm ich doch war!, schalt er sich. Matthew ballte die Fäuste. Wer hatte davon gewusst? Seine Mutter, sein Vater, alle beide? Und wer war dieser Mann? Ich will es wissen, und zwar sofort, durchfuhr es Matthew zornig. Er warf seinem Freund einen letzten Blick zu: »Deine Brüder werden dich zu den Ahnen bringen. Ich sage ihnen, wo du sie erwartest. Und ich schwöre, ich werde ihn töten, wenn ich ihn finde. Und ich schwöre, ich werde ihn finden!«, schrie er außer sich vor Schmerz und Zorn.
Dann riss er den Blick von seinem toten Freund los und schlich sich auf Umwegen nach Russell. Immer wenn er Kampflärm hörte, machte er einen Bogen um das Gefecht. Mit einem Mal war ihm das alles völlig gleichgültig. Ob die Fahne wehte oder Hone Heke gesiegt hatte, seine Gedanken kreisten nur noch um den einen Pakeha und die Frage, wie er ihn umbringen würde. Als sein Arm zu pochen begann, biss er die Zähne fest zusammen, um nicht laut aufzuschreien.
Er war bereits am Fuß des Berges angelangt und erschrak, als er mitten auf dem Weg einen verrenkten Körper entdeckte. Bei näherem Hinsehen stellte er fest, dass es sich um eine Frau handelte, die auf dem Bauch lag. Sosehr sein Inneres auch vor Hass bebte, er konnte sie nicht dort liegen lassen. Wenigstens ins Gebüsch würde er sie ziehen. Vorsichtig bückte er sich und entdeckte dabei die Einschusswunde in ihrem Rücken. Beherzt drehte er sie um. Als er sie erkannte, entrang sich seiner Kehle ein nicht enden wollender Schrei.
Erst als er zwei Hände auf seinen Schultern fühlte, verstummte er. Erschrocken wandte er sich um. Es war ein Rotrock, der aussah, als habe er den Teufel persönlich gesehen.
»Das ... das haben wir nicht gewollt«, stammelte er. »Wir haben uns mit Kopotais Leuten, die vom Osten kamen und auf die wir gar nicht vorbereitet waren, ein Gefecht geliefert, und sie ... sie lief mitten hindurch. Ich habe noch gerufen: >Nicht!< Aber da war es zu spät. Ein Schuss hat sie niedergestreckt. Das Gefecht aber ging weiter. Keiner hat sich um sie gekümmert, aber dann haben die Maori es noch einmal geschafft, Richtung Kirche zu Kawitis Leuten durchzubrechen. Ich bin zurückgekehrt, weil ich sie zu den anderen Toten auf den Friedhof bringen wollte.« Der Soldat brach unvermittelt in lautes Fluchen aus. »Verdammt, so viel Leid wegen eines Fahnenmastes. Warum haben sie ihn auch immer wieder errichtet? Wir haben zu Hause in England genügend Union Jacks ...« Er stutzte und musterte Matthew von Kopf bis Fuß. Der junge Mann, der um die Hüften einen Maori-Kilt, aber an den Füßen Socken und Schuhe trug, bot ein seltsames Bild. »Was hast du mit der armen Frau zu schaffen? Und zu wem gehörst du?«
»Das wüsste ich auch nur allzu gern«, erwiderte Matthew schwach. »Aber das ist meine Ziehmutter Emily.«
»Du bist ihr Sohn? Deinetwegen hat sie sich in diese Gefahr begeben?«
»Was meinst du? Wovon sprichst du?«
»Ich habe ihr zugerufen: >Nicht!< Da hat sie sich zu mir umgedreht und wie eine Irre gebrüllt: >Ich muss meinen Sohn retten, der Herr ist mit mir!< Und da hat die Kugel sie in den Rücken getroffen.«
»Sie wollte mich retten?«, fragte Matthew fassungslos.
»Ja, aber was hattest du hier draußen so allein zu suchen, und dann in diesem Aufzug?«
Matthew zog es vor, dem Mann eine Antwort schuldig zu bleiben, und schlug kaum hörbar vor: »Wir bringen sie zu Mister Hobsens Haus.«
Der Soldat sah Matthew mit großen Augen an. »Das Haus der Hobsens? Aber das ist doch in die Luft gegangen. Die Hazard hat einen Schuss abgegeben, woraufhin das Lagerhaus der Hobsens explodiert ist. Man vermutet, er hatte dort Unmengen an Schwarzpulver gehortet. Jedenfalls hat das Haus sofort Feuer gefangen ...«
»Und die Bewohner?«
»Es hat, wie ich hörte, die alten Hobsens erwischt, aber die anderen hat man wohlbehalten auf die Hazard gebracht.«
Matthew rieselten kalte Schauer über den Rücken. John und Amanda Hobsen hatte er wirklich nicht besonders gemocht, aber so ein Ende? Gestern waren sie alle noch lebendig gewesen, und nun? Er warf einen Blick auf Emily und spürte, wie seine Augen feucht wurden.
»Wir bringen sie auf den Friedhof«, sagte er tonlos und packte sie vorsichtig unter den Armen. Dabei stieß er einen kurzen spitzen Schrei aus, weil sein Arm von einem höllischen Schmerz durchzuckt wurde.
Der Soldat griff nach Emilys Füßen. So trugen sie die Tote gemeinsam durch die Straßen von Russell. Der Ort war wie ausgestorben. Bis auf einen Mann in der Ferne. Matthew erkannte ihn sofort.
Walter bewegte sich wie ein Schlafwandler auf sie zu. Doch dann erblickte er den Soldaten und rief: »He, Mann, hau ab, solange es noch geht! Deine Leute bringen gerade die letzte Fuhre hinüber zu den Schiffen. Dann wird in ganz Kororareka kein Rotrock mehr sein.«
Als er auf ihrer Höhe war, warf er einen flüchtigen Blick auf die Tote und erstarrte.
»Wir bringen sie zum Friedhof, Vater«, raunte Matthew. Walter aber fuhr wie ein Irrsinniger herum und brüllte: »Was tust du hier? Geh mir aus den Augen, und nenn mich nie wieder Vater! Du hast sie umgebracht, du schwarzer Satan. Ich will dich nie wieder sehen.« Ohne Vorwarnung stürzte er sich auf seinen Ziehsohn und stieß ihn zur Seite. Obwohl Matthew ins Stolpern geriet und Walter seinen Arm erwischt hatte, ließ er seine Mutter nicht los.
»Nimm deine Finger weg!«, brüllte Walter wie von Sinnen. »Mörder, du!«
»Mister, nun beruhigen Sie sich! Er hat sie nicht umgebracht. Sie ist zwischen die Linien geraten«, mischte sich der Soldat ein, doch Walter fuhr ihn wütend an: »Du hast doch keine Ahnung, Rotrock. Verschwinde auf dein Schiff, und nimm den da mit! Sonst passiert ein Unglück.«
Der Soldat legte Emilys Beine ganz vorsichtig auf der Erde ab und machte Matthew ein Zeichen, es ihm gleichzutun. Wie betäubt tat dieser, was der Rotrock verlangte. Der zog ihn am Ärmel seines Oberteils mit sich fort, während Walter ihnen hinterherfluchte. Flüche, für die es, hätte Matthew auch nur jemals einen davon im Mund geführt, Schläge seitens des frommen Mannes gesetzt hätte. Matthew fröstelte.
»Geh nach Hause, mein Junge«, riet der Soldat Matthew.
»Ich habe kein Zuhause mehr«, erwiderte er.
»Gut, dann nehme ich dich mit auf das Schiff und bringe dich mit den anderen nach Auckland. Dein Arm hat einen Streifschuss abbekommen. Der muss behandelt werden. Damit ist nicht zu spaßen. Auf dem Schiff ist ein Arzt, der ...«
Matthew aber schüttelte heftig den Kopf. »Nein, ich bleibe hier!«
In diesem Augenblick erklang ein unmenschliches Geheul, und Matthew drehte sich noch einmal um. Es kam aus Walters Mund. Der Reverend hockte neben Emily am Boden, streichelte und küsste sie abwechselnd, wenn er nicht gerade diese Laute eines waidwunden Tieres ausstieß.
Matthew hielt sich die Ohren zu und rannte, ohne sich von dem Soldaten zu verabschieden, zu seinem Boot. Wie ein Besessener ruderte er zur anderen Seite der Bucht hinüber. Er wandte sich nicht einmal um, obwohl hinter ihm das Inferno losbrach. Laute Maori-Gesänge erklangen und gingen im dröhnenden Kanonendonner unter. Die Hazard hatte damit begonnen, Korora-reka zu beschießen. Matthew aber ruderte ohne Angst an den großen Schiffen vorbei. Wenn mich jetzt eine Kugel trifft, wäre das auch nicht schlimm, durchfuhr es ihn ungerührt, doch dann fiel ihm Maggy ein. Er durfte sie nicht noch einmal im Stich lassen, sondern musste zu ihr, und zwar auf dem schnellsten Weg. Am besten noch heute Nacht. Und dann musste sie ihm verraten, welches Tier sich über sie hergemacht hatte, damit er es töten konnte.
Dieser Gedanke ließ ihn auch den pochenden Schmerz in seinem Arm vergessen, während er, in Paihia angekommen, zu dem weißen Haus stürzte, in dem er seine Jugend verbracht hatte und das er noch heute für alle Zeiten hinter sich lassen würde. Er würde die Wunde reinigen und verbinden, sich etwas zum Essen holen, um sich sogleich auf den Weg zur Mission zu machen. Er quälte sich mit Selbstvorwürfen, dass er sich nicht um sie gekümmert und sie ihrem Schicksal überlassen hatte, als sie ihn gebraucht hätte, während er das Nötigste einpackte.
Als er in der Küche schließlich gierig nach einem Kanten Brot griff, durchfuhr ein Schmerz seinen verletzten Arm so intensiv, dass ihm schummrig wurde. Er spürte nur noch den Aufprall seines Hinterkopfes auf dem harten Küchenfußboden.