Russell (Kororareka), 11. März 1845,
ETWA ZUR GLEICHEN ZeIT
Emily schreckte entsetzt aus dem Schlaf hoch. Sie war von Geräuschen geweckt worden, die sich wie Kanonenschüsse anhörten. Hatte sie geträumt, oder war es wirklich geschehen? Doch auch Walter saß senkrecht im Bett, wie sie nun erstaunt feststellen musste.
»Was ist passiert?«, fragte sie bang.
»Es geht los«, erwiderte er knapp.
»Wovon redest du?«
»Vom Krieg, den Hone Heke angezettelt hat!«
»Du meinst, es waren wirklich die Schüsse von Kanonen?«
»Ja, ich denke, sie haben Kawitis Leute in die Flucht geschlagen.« Walter stand nun ohne eine weitere Erklärung auf und ging im Hemd auf den Flur hinaus. Dort standen bereits die Hobsens, Henry mit June und einige der übrigen Gäste. Alle waren gleichermaßen aufgeregt. Nur Henry schien vom Alkohol noch so benebelt, dass er etwas von einem Feuerwerk murmelte.
»In den Keller!«, befahl John Hobsen. »Alle ab in den Keller!« Emily zitterte am ganzen Körper, während sie sich ankleidete. Walter mahnte zur Eile, doch sie schaffte es in ihrer Panik kaum, die Knöpfe ihres Kleides zu schließen. Schließlich half er ihr und nahm sie bei der Hand. Sie waren gerade an der Luke angekommen, die in den Keller hinabführte, als Emily abrupt stehen blieb. Sie erinnerte sich plötzlich an ihren Traum. Es war schrecklich gewesen. An einem Grab hatte sie gestanden und ...
»Matthew, wo ist Matthew?«
»Der wird schon noch kommen, aber jetzt geh du erst einmal nach unten«, befahl er ungeduldig, doch Emily rührte sich nicht vom Fleck. »Ich gehe ihn holen, und zwar sofort!«
Walter seufzte. »Das kann ich doch erledigen. Hauptsache, du begibst dich in Sicherheit.«
»Nein, ich werde jetzt zu ihm gehen«, erklärte sie energisch, löste sich von seiner Hand und eilte zur Treppe. Walter folgte ihr schimpfend. Unterwegs begegneten sie Amanda, die ächzend eine schwere Kassette die Treppe hinunterwuchtete.
»Ich werde denen doch nicht kampflos unsere Wertsachen überlassen«, knurrte sie, ohne dass man sie danach gefragt hätte. Emily interessierte in diesem Augenblick ohnehin nur das eine.
»Wo schläft Matthew?«
»In der Kammer hinter der Küche.«
»Warum lässt du ihn nicht allein in den Keller kommen? Er ist kein Kind mehr«, murrte Walter, folgte ihr aber auf dem Fuß.
Ich habe Angst, durchfuhr es Emily, entsetzliche Angst. Sie wusste nicht mehr, auf wessen Beerdigung sie in ihrem Traum gewesen war, aber es waren viele Maori dort gewesen und hatten schauerliche Gesänge angestimmt...
Ohne anzuklopfen, riss sie die Kammertür auf und erstarrte. Auf dem Boden verstreut lag seine Kleidung, doch Matthew war verschwunden.
»Wo ist er? Ob er schon unten ist? Bitte, Walter, sieh nach!«
Walter tat, was sie verlangte, während Emily sich auf das Bett fallen ließ. Ihr war elend zumute. Sie wollte nicht noch ein Kind verlieren. Plötzlich sehnte sie sich schmerzhaft nach Maggy. Dieses Gefühl hatte sie die ganzen Monate über völlig verdrängt. Jetzt überkam es sie mit aller Macht.
»Maggy«, jammerte sie verzweifelt. »Maggy!«
Wie gern hätte sie das Mädchen in die Arme geschlossen, und plötzlich wurde ihr bewusst, was für einen schrecklichen Fehler sie begangen hatte. Niemals hätte sie das arme Ding nach Te Wai-mate abschieben dürfen. Es wäre an Henry gewesen, die Verantwortung zu übernehmen. Was wäre denn so schlimm gewesen, wenn er Maggy geheiratet hätte? Was war ihr guter Ruf gegen so viel Leid, das sie ihrer Ziehtochter zugefügt hatte? Emily schluchzte laut auf. Wie konnte sie nur so verbohrt gewesen sein? Jetzt war es zu spät. Und es war allein ihre Schuld, dass die Lage so verfahren war. Ich muss zu ihr, sobald das hier vorüber ist, und sie um Vergebung bitten. Und wenn ich mit ihr in die Fremde gehen muss, aber ich lasse sie nicht noch einmal allein. Und ihr Kind, das bleibt bei ihr. Was hätte ich für ein Recht, es ihr fortnehmen zu wollen ? Hemmungslos schluchzte Emily noch einmal auf.
»Er ist nirgendwo zu finden«, hörte sie wie von ferne Walters Stimme.
Emily blickte ihn aus verquollenen Augen an. »Was hat das zu bedeuten?«
Walter hob die Schultern, doch dann entdeckte er den Handkoffer, den Emily und er Matthew zu seinem letzten Geburtstag geschenkt hatten. Er öffnete ihn und blickte kopfschüttelnd hinein.
»Ich weiß nicht. Er ist leer, aber ...« Er stockte und griff nach einem Faden, der am Holzboden haftete. Da hatte Emily ihm diesen bereits aus der Hand gerissen.
»Flachs, das ist Flachs!«, rief sie verstört aus.
»Dann weiß ich, wo unser Sohn jetzt ist«, erwiderte Walter. Sein Gesicht war kalkweiß geworden.
»Ja, wo denn? Nun sag schon!«, flehte Emily. Sie hatte zu weinen aufgehört.
Walter aber setzte sich stumm neben sie auf das Bett und wollte sie in den Arm nehmen, doch Emily wehrte entschieden ab.
»Was weißt du?« Ihre Stimme überschlug sich.
»Ich befürchte, er hat sich in einen Maori-Krieger verwandelt und ist bei den Rebellen.«
»Wie kannst du so etwas behaupten?«, fauchte Emily.
»Weil die Kleidung der Maori aus Flachs gemacht ist und er sie im Koffer mitgenommen hat, um sich im geeigneten Augenblick umzuziehen und abzusetzen. Oder was trägt er sonst am Leib?«, erwiderte Walter voller Entsetzen, während er Matthews Anzughose vom Boden aufhob und sie seiner Frau reichte.
Er musste mit erhobener Stimme reden, denn die Schüsse, die von draußen kamen, wurden immer lauter. Vor allem ertönten sie nun nicht mehr vereinzelt, sondern ohne Unterbrechung.
»Du meinst, er ist dort draußen? Ganz allein?«, schrie Emily verzweifelt, und erneut schossen ihr Tränen in die Augen.
»Nein, ich denke, er ist bei Hone Heke.«
Emily starrte ihn aus tränennassen Augen völlig entgeistert an. Dann erhob sie sich und zog ihr Kleid glatt.
»Ich muss ihn suchen!«, erklärte sie entschieden.
»Aber Emily, dort draußen ist es gefährlich, du kannst nicht vor die Tür ...« Doch da war sie bereits aus dem Zimmer gestürzt. Als Walter begriff, dass sie ihren Plan wirklich umsetzen wollte, war sie schon die Treppen hinuntergeeilt.
»Emily, du bist wahnsinnig!«, schrie er von oben. »Bitte warte, lass mich gehen!«
Seine Frau aber lief, ohne sich noch einmal umzuwenden, nach draußen ins Freie. Die Tür ließ sie offen. John Hobsen, der in diesem Augenblick, eine weitere kleine Kiste mit Wertsachen unter dem Arm, die Diele durchqueren wollte, brüllte ihr hinterher: »Emily, du dummes Ding, willst du uns alle in Gefahr bringen?« Wütend stellte er seinen Kasten ab, schloss die Tür und verriegelte sie sorgfältig.
Als er nun Walter mit einem irren Blick auf sich zueilen sah, richtete er sich in seiner ganzen Größe vor ihm auf.
»Lass mich durch!«, schrie Walter.
»Dieses Haus verlässt du nur über meine Leiche!«, gab John Hobsen nicht minder lautstark zurück.
»Das werden wir ja noch sehen.« Walter versuchte sich an dem mächtigen Kerl vorbeizudrücken, doch der versetzte Walter einen gezielten Fausthieb auf die Nase, der den Schwiegervater seiner Tochter auf der Stelle niederstreckte.
»Du Schwachkopf!«, schimpfte John Hobsen, während er Walter hochhelfen wollte, doch der rührte sich nicht. »Schwachkopf«, wiederholte der grobschlächtige Mann, packte Walter unter den Achseln und schleifte ihn in den Keller hinunter.
June schrie auf, als sie ihren blutverschmierten Schwiegervater erblickte.
»Was ist geschehen?«, fragte Henry, der langsam aus seinem Rausch erwachte. »Sind die Maori schon hier? Haben sie ihn so zugerichtet?«
»Nein, ich musste ihn vor sich selbst beschützen. Deine Mutter ist wahnsinnig geworden und nach draußen gerannt. Er wollte ihr folgen, aber das konnte ich gerade noch verhindern«, erklärte John Hobsen mit einem verächtlichen Blick auf Walter, der jetzt leise zu stöhnen begann.