Te Waimate, Januar 1845
Maggy saß auf der schattigen Veranda vor Miss Mortons Haus in einem Schaukelstuhl und schwitzte trotzdem. Seit ihr Bauch ständig wuchs, konnte sie die brennende Sonne nicht mehr vertragen. Deshalb war sie froh, dass es zu regnen begonnen hatte, aber die nötige Abkühlung ließ immer noch auf sich warten. Außerdem fühlte sie sich schrecklich behäbig. Jeder Schritt machte ihr zu schaffen. Überdies kamen ihr bei jeder Gelegenheit gleich die Tränen. Besonders wenn sie ihr schlechtes Gewissen überfiel, weil sie ihren Schwur doch gebrochen hatte. Gleich in der ersten Nacht in der Mission. Das ließ sie nicht mehr los. Weder bei Tag noch bei Nacht. Sie erinnerte sich an jedes Wort, obwohl es bereits über vier Monate her war. Noch einmal sah Maggy es vor ihrem inneren Auge: wie Ripeka an ihr Bett tritt und sie in den Arm nimmt. Wie eine Ertrinkende klammert sie, Maggy, sich an die Maori-Frau, und dann bricht es schluchzend aus ihr heraus. Lange, sehr lange. Ripeka wiegt sie wie ein Kind in den Armen. Das ist tröstlich. Sie kann endlich aufhören zu weinen.
»Sie haben dich fortgebracht, damit keiner merkt, was mit dir los ist, nicht wahr?«, fragt Ripeka.
Maggy möchte die Wahrheit hinausschreien, aber sie darf es nicht. Sie hat auf die Bibel geschworen. Sie schweigt, aber Ripeka bohrt weiter, während sie ihr wissend über den Bauch streicht. »Es ist nicht rechtens, dass sie dich verstecken«, raunt Ripeka.
Maggy hält die Luft an. Sie darf es nicht verraten. Sonst geschieht ein Unglück. »Weiß der Vater des Kindes davon?«
Maggy beißt die Zähne aufeinander.
»Sie haben dich ohne sein Wissen hergebracht, nicht wahr?«
Maggy weint lautlos in sich hinein. Im Stich gelassen haben die Eltern sie.
»Wenn du mir sagst, wer es ist, werde ich dem Burschen Bescheid sagen. Und wenn er anständig ist, wird er dich in sein Dorf holen.« Ripeka nimmt Maggys Gesicht in beide Hände und sieht sie an. »Wer ist es?«
Maggy hebt die Schultern. Dann bricht es aus ihr heraus: »Sie will es mir wegnehmen. Bitte hilf mir!«
Ripeka glaubt es nicht. »Doch nicht Misses Carrington! Sie würde so etwas niemals tun.«
Maggy ballt die Fäuste. »Aber sie hat es selbst gesagt. Ich muss fort von hier!« Ripeka legt erneut den Arm um sie. »Keine Sorge, solange ich bei dir bin, wird dir keiner dein Kind wegnehmen. Ich werde das Kind und dich in das Dorf des Kindsvaters bringen. Und wenn sie es nicht wollen, nehmen es meine Leute dankbar auf. Es gehört zu den Maori. Du siehst doch selbst, die Pakeha schämen sich dafür.«
Wenn es doch bloß so wäre, dachte Maggy, ich würde mit Ripeka überallhin gehen, aber ... »Der Vater ist Henry Carrington, er hat mir sehr wehgetan«, gab sie verzweifelt zu.
Ripeka packt sie bei den Schultern. Maggy befürchtet, dass sie wieder so durchgeschüttelt wird wie von ihrer Mutter, aber Ripeka drückt sie fest an ihre Brust. »Du arme Kleine ...«
Jetzt erst begreift Maggy, was sie getan hat. Sie wird kreidebleich. Sie hat geschworen, dass sie es niemandem je verraten wird.
»Ich muss fort!«, ruft sie aus, während sie aufspringt. »Ich muss fort!«
Ripeka hält sie am Arm fest. »Du bleibst in meiner Nähe. Hörst du, da wird dir nichts geschehen. Schwör, dass du nicht fortläufst!«
Maggy wird schwindelig. Schon wieder ein Schwur. Sie hasst Schwüre. Wie gut, dass Ripeka nicht die Bibel zu Hilfe nimmt. »Schwör, dass du, komme, was wolle, bei mir bleibst!«
Maggy presst die Lippen fest aufeinander. Sie will nicht schwören, doch da hört sie sich bereits beteuern: »Ich gehe nicht fort. Ich bleibe bei dir.«
Ripeka nimmt sie noch einmal in die Arme. Maggy schließt die Augen und wünscht sich, dass die herzensgute Maori ihre Mutter wäre. Mit diesem Gedanken schläft sie ein.
»Maggy, träumst du?«, holte die Stimme von Miss Morton sie aus ihren quälerischen Erinnerungen. »Sie warten schon alle vor dem Versammlungssaal. Der Gouverneur und der Bischof müssen jeden Augenblick eintreffen.« Die Lehrerin trug ihr bestes Kleid. Vor lauter Aufregung waren ihre sonst so blassen Wangen sichtlich gerötet.
Schwerfällig erhob sich Maggy von dem Schaukelstuhl. Als sie endlich stand, blickte sie zweifelnd an sich hinunter. »Und Sie meinen, ich sollte wirklich mitgehen? Dann sieht doch jeder, dass ich ein Kind erwarte.«
Bella Morton lächelte ermutigend. »Vor wem willst du deinen Bauch verstecken? In Te Waimate wissen inzwischen alle, dass du schwanger bist.«
»Ich glaube, Mutter wäre nicht entzückt, wenn ich vor dem Bischof so erschiene«, bemerkte Maggy verschämt.
Bella blickte sie säuerlich an. »Darauf können wir keine Rücksicht nehmen. Deine Mutter hat es in den letzten vier Monaten nicht einmal geschafft, dir einen Besuch abzustatten. Dann kann sie auch nicht erwarten, dass wir dich hier als unschuldige Jungfrau verkleiden.«
Der Vorwurf in ihrer Stimme war unüberhörbar.
Maggy hob die Schultern. Ihr war es eigentlich ganz recht, dass ihre Mutter bislang jedes Mal verhindert gewesen war, nach Te Waimate zu kommen, nachdem sie es vorher wiederholt per Brief angekündigt hatte. Erst waren es die reißenden Flüsse auf dem Weg hierher gewesen, die sie sich nicht zu überqueren traute, und dann ein Fieber, das sie ans Bett gefesselt hatte und ... Maggy kämpfte mit den Tränen. Ein Fieber? Ob das die Strafe des Herrn war dafür, dass sie, Maggy, ihren Schwur gebrochen hatte? Wenn es nun etwas Schlimmeres war? Maggys Knie wurden weich.
»Mutter hat sicher einen guten Grund. Sie ist doch krank«, erwiderte Maggy zaghaft und in der Hoffnung, dass Miss Morton etwas über Emilys Zustand wusste.
»Pah!« Miss Morton machte eine wegwerfende Geste. »Sie rennt schon wieder munter zu jedem Gottesdienst, den dein Vater hält, und soll noch frommer geworden sein. Das sind mir die Richtigen, diese Kirchgänger, aber ihre Christenpflicht dann auf andere abwälzen ...« Sie stockte und blickte Maggy mitleidig an. »Ach, hör nicht auf eine alte Jungfer wie mich! Je länger ich hier lebe, desto mehr werde ich zur Heidin.«
»Aber Miss Morton, so dürfen Sie nicht reden! Sie versündigen sich doch«, bemerkte Maggy sichtlich verstört.
»Ach, du... du bist ein gutes Mädchen«, seufzte Bella Morton. »Aber nun komm schon unter meinen Regenschirm, ich darf mich nicht verspäten, denn ich muss den Chor der Jungen dirigieren.«
Sie zog Maggy mit sich fort in Richtung Schulhof. Unterwegs saßen am Boden überall Grüppchen sich angeregt unterhaltender Maori. In Te Waimate ging es seit Tagen zu wie in einem Bienenstock. Das beschauliche Leben in der Missionsstation war durch das anstehende Treffen von Gouverneur FitzRoy, Bischof Selwyn und diversen Maori-Häuptlingen völlig durcheinandergeraten.
»Hoffentlich bringt diese Begegnung etwas«, seufzte Bella Morton. Maggy konnte ihr nur beipflichten. Jeder in Te Waimate setzte große Hoffnungen auf dieses Treffen. Keiner wollte einen Krieg zwischen Maori und Pakeha.
Ein kleiner Maori-Junge kam ihnen tropfnass und barfuß entgegengehüpft. Als er die beiden Frauen erkannte, lachte er. »Guten Tag, Miss Morton, guten Tag, Miss Maggy«, grüßte er sie artig, bevor er weiterlief.
»Weißt du, wie froh ich bin, dich bei mir zu haben?«, seufzte Bella Morton. »Die Kleinen lieben dich.«
Maggy spürte, dass ihre Wangen heiß wurden. Lob machte sie verlegen.
»Und ich bin froh, dass Sie mich diese Arbeit machen lassen und ich nicht immer nur in der Küche helfen muss«, erwiderte sie begeistert. Sie liebte es, den Kindern, die noch nicht zur Schule gingen, spielerisch ein gutes Englisch beizubringen. Sie beherrschte es jedenfalls fehlerfrei und hatte dabei trotzdem nicht völlig die Sprache ihrer Ahnen verlernt. Insofern war sie die geeignete Person, um die Kleinen zu unterrichten.
»Hast du dir mein Angebot inzwischen überlegt?«
»Ja, Miss Morton, wenn meine Eltern es erlauben, dann möchte ich hierbleiben, weil mein Kind mit den anderen spielen kann. Es ist so friedlich in Te Waimate. Und Sie sind wie eine Mutter zu mir. Sie und Ripeka.«
Trotz des Regenschirms in ihrer Hand schaffte es Bella, ihren Schützling überschwänglich zu umarmen. »Ach, das ist eine gute Nachricht! Dann sollten wir warten, bis deine Mutter endlich kommt, um ihr die frohe Botschaft auf der Stelle zu überbringen. Und weißt du was? Ripeka behalten wir auch gleich«, erklärte Bella Morton lachend, doch dann wurde sie wieder ernst, denn sie waren nun vor der Halle angekommen.
Dort bot sich ihnen ein ungewöhnliches Bild. Die Bewohner von Te Waimate, allen voran die Jungen aus der Maori-Schule, standen in ihrer besten Kleidung im strömenden Regen und stierten voller Erwartung zum großen Eingangstor.
»Bis gleich«, sagte die Lehrerin und hastete zu ihrem Chor. Maggy reihte sich in das Spalier der Zuschauer ein und verrenkte sich den Hals. Ein Raunen lief durch die Menge, als nun zuvorderst Gouverneur FitzRoy in seiner prächtigen Uniform aufrecht auf die Halle zuschritt. Im gleichen Augenblick stimmte der Chor Rule Britannia an.
Fast zeitgleich mit ihm traf der Bischof ein. Er trug ein schweres Festgewand in Schwarz und Violett. Er überragte den Gouverneur beinahe um Haupteslänge. Ein paar Schritte hinter ihnen folgten Colonel Humes von den Rotröcken und der Kapitän eines der im Hafen von Russell liegenden Kanonenboote. Wieder in einigem Abstand tauchten in Zweierreihen einfache Geistliche auf.
Maggy merkte, wie ihr noch wärmer wurde. Kein Wunder, dachte sie, der Regen hat aufgehört. Die Sonne versuchte sich durch die grauen Wolkenberge zu kämpfen. Wie so oft in der Bay of Islands würde aus einem regnerischen Morgen doch noch ein sonniger Sommertag werden.
Maggy blickte neugierig in die Gesichter der vorbeiziehenden Kirchenmänner. Doch dann erschrak sie, als sie unter ihnen einige der Missionare aus Paihia und Kerikeri erkannte. Was, wenn ihr Vater zu der Delegation gehörte? Ob er überhaupt von meiner Schwangerschaft weiß?, fragte sie sich bang. Und plötzlich überkam sie das Heimweh mit solcher Macht, dass ihr Tränen in die Augen schossen. Besonders Matui vermisste sie schmerzlich. Was ihre Mutter ihm wohl erzählt hatte, nachdem nicht einmal er sie besuchen gekommen war?
Plötzlich hörte sie eine Stimme, der ihres Bruders nicht ganz unähnlich, fragen, ob sie Hilfe brauche. Erstaunt wandte sie sich um und blickte in ein Paar intensiv funkelnder brauner Augen.
»Nein, nein, es ist alles gut«, erwiderte sie in der Sprache ihrer Ahnen, während sie sich hastig die Tränen aus dem Gesicht wischte.
»Komm!«, erwiderte der junge Mann und zog sie sanft am Arm aus der Menge. Sie ließ es willenlos geschehen. Dabei musterte sie ihn eindringlich. Er war untersetzt und breit gebaut. Seine Haut schimmerte selbst für einen Maori sehr dunkel; er trug einen Kilt in den Farben Grün und Rot, und am Kinn war er tätowiert.
Als sie bei einer Wiese ankamen, fragte er: »Soll ich deinen Mann holen? Zu welchem Häuptling gehört er? Ich werde ihn schon finden. Du musst mir nur sagen, wie er heißt. Und du setzt dich hier in den Schatten. Die Frau braucht ihren Mann, wenn ein Kind unterwegs ist.«
Der fremde Maori streifte ihren Bauch mit einem wehmütigen Blick.
Nun fand auch Maggy ihre Sprache wieder. »Du hast ein Kind?«, fragte sie verwundert, denn ihrer Schätzung nach war der junge Maori nur wenig älter als sie.
Er blickte zu Boden. »Ich hatte ein Kind, aber sie sind gestorben. Meine Frau und mein Sohn ...« Er atmete tief durch, bevor er mit fester Stimme fortfuhr: »Nun sag schon, wie heißt dein Mann? Ich werde ihn holen. Du sollst nicht weinen.«
Maggy kämpfte mit sich. Sollte sie einen Mann belügen, der ihr gerade ganz offen von seinem Schicksal erzählt hatte? Nein, das brachte sie nicht übers Herz.
»Ich habe keinen Mann.«
Der junge Maori blickte sie verwirrt an.
»Was soll das heißen? Ist er bei den Ahnen?«
Maggy war fest entschlossen gewesen, ihm wenigstens die halbe Wahrheit zu sagen, dass es nämlich ein Kind der Sünde war, das in ihr heranwuchs, aber sein mitfühlender Blick, die menschliche Wärme, die er ausstrahlte, verführten sie zu einer Lüge.
Sie nickte, während ihr eine dicke Träne die Wange hinunterrollte. Das war gar nicht schwer. Sie musste nur an ihre Mutter denken und daran, wie herzlos man sie in die Mission abgeschoben hatte.
»Also haben wir das gleiche Schicksal«, flüsterte der Maori sichtlich ergriffen. »Dann verstehe ich deine Tränen. Ich bin übrigens Tiaki.«
Maggy fühlte sich schlecht. Wie eine Diebin, die etwas gestohlen hatte, was ihr nicht gehörte. Und doch, es tat ihr gut, wie Tiaki, der glaubte, sie teilten dasselbe Schicksal, sich um sie sorgte.
»Zu welchem der Häuptlinge gehörst du eigentlich?«
Tiaki blickte verlegen zur Seite und schwieg.
»Magst du es mir nicht sagen? Bist du einer von Tamati Waka Nenes Männern?«, fragte Maggy.
Tiakis Miene verfinsterte sich. »Niemals würde ich diesem Verräter dienen!«, entgegnete er heftig.
»Oh, da habe ich wohl etwas Falsches gesagt«, bemerkte sie entschuldigend, während sie sich in das grüne Gras fallen ließ. Sie konnte nicht länger stehen. Ihr Bauch zog sie förmlich nach unten. Tiaki tat es ihr gleich. Behände ließ er sich zu Boden gleiten.
»Und von welchem Stamm bist du?«, wollte er nun wissen.
»Ich habe dich zuerst gefragt«, entgegnete Maggy rasch.
Tiaki blickte sich nach allen Seiten suchend um. »Kann ich dir vertrauen?«, fragte er und sah sie flehend an.
Maggy hob die Schultern. »Warum nicht? Wenn du nicht gerade einer von Hone Hekes Männern bist, der sich hier eingeschlichen hat und ...«
Weiter kam Maggy nicht, weil der Maori ihr die Hand auf den Mund legte. Sie blickte ihn fassungslos an.
»Kannst du schweigen?«
Maggy nickte, obwohl sie sich mit einem Mal äußerst unwohl fühlte.
»Gut, dann will ich es dir verraten. Hone Heke Pokai hat mich geschickt, damit ich mich unter die Leute mische und die Ohren offenhalte.«
»Du bist ein Spion?«, fragte Maggy sichtlich entsetzt.
»Leise!«, zischte Tiaki. »Nein, ich bin nur ein Beobachter meines Häuptlings, weil man ihn nicht eingeladen hat.«
»Kein Wunder!«, giftete Maggy zurück. »Er besteht ja auch darauf, unbedingt diesen Fahnenmast zu fällen. Und das ist nicht rechtens!«
Tiaki lachte laut auf. »Nicht rechtens? Das sagst du als Maori-Mädchen? Es ist doch nur eine symbolische Handlung. Die Pakeha wollen uns unterjochen, das ist die Wahrheit.«
»Das ist Blödsinn! Hone Heke Pokai ist ein Verbrecher!« Maggy hatte ihre Worte so laut hervorgestoßen, dass Tiaki ihr nun zum wiederholten Mal die Hand vor den Mund hielt.
»Du magst von uns denken, was du willst, aber bitte schrei es nicht bis zu den Rotröcken hinüber! Also, in welches Dorf soll ich dich bringen?«
Maggy suchte nach Worten. Was sollte sie dem hilfsbereiten Maori antworten? Am besten die Wahrheit, beschloss sie.
»Ich lebe hier in der Mission. Im Haus der Lehrerin Miss Morton«, gab sie zögernd zu.
»Dann bringe ich dich nach Hause. Bella ist eine gute Frau. Sie behandelt uns nicht so herablassend wie viele andere Pakeha.«
»Ich kann mich nicht über die Pakeha beklagen. Sie haben meinen Bruder und mich adoptiert, nachdem man unsere Eltern umgebracht hatte. Und das haben Maori getan!«, erwiderte Maggy trotzig.
»Bei wem bist du denn aufgewachsen?«, fragte Tiaki neugierig.
»Bei dem Missionar Walter Carrington aus Paihia.«
Tiaki legte den Kopf schief und musterte sie prüfend. »Dann bist du also die Schwester von Matui, nicht wahr?«
»Du meinst Matthew«, verbesserte sie den jungen Maori.
Tiakis Miene verfinsterte sich. »Ach ja, ich vergaß, dass er Hone Heke den Rücken gekehrt hat und wieder in den Schoß der heiligen Familie zurückgekehrt ist.«
»Was heißt wieder? Er hat nichts mit diesem Rebellen zu tun!« Vor lauter Aufregung hatte sie Englisch gesprochen.
»Ach, vergiss es! Wir haben uns eben in ihm getäuscht«, entgegnete er in fehlerfreiem Englisch.
»Wieso sprichst du ein so gutes Englisch?«, fragte sie erstaunt.
»Weil ich in der Mission in Kerikeri aufgewachsen bin und eigentlich Prediger werden wollte.«
»Und warum bist du es nicht geworden? Haben sie dich schlecht behandelt?«
»Nein, nein, sie waren gut zu mir, aber das ändert nichts an der Notwendigkeit, den Pakeha anhand des Fahnenmastes deutlich zu zeigen, wo ihre Grenzen sind.«
»Aber warum? Was bringt das außer einem möglichen Krieg? Euer Hone Heke provoziert ihn ja geradezu, und ich kann nur hoffen, dass sich die anderen Häuptlinge gegen ihn stellen und er sein Vorhaben freiwillig aufgibt.«
Tiaki stieß ein hämisches Lachen aus. »O nein, das wird nicht geschehen. Niemals werden wir uns von solchen Männern wie Waka Nene ...« Er stockte, als er eine Gruppe Maori erblickte, die sich ihnen schnellen Schrittes näherten. Ohne Vorwarnung zog er Maggy ganz nahe an sich heran. »Ich kenne den einen, der auf uns zukommt. Er gehört zu Waka Nene. Er darf mich nicht sehen«, flüsterte Tiaki ihr aufgeregt ins Ohr. »Wenn sie denken, dass wir ein Paar sind, werden sie einen Bogen um uns machen.«
»Schon geschehen«, erwiderte Maggy kühl, und doch war ihr die Nähe zu dem jungen Maori nicht unangenehm, wie sie erstaunt feststellen musste.
»Sag mal, wie heißt du eigentlich?«, gurrte Tiaki mit einschmeichelnder Stimme.
»Maggy.«
Tiaki rückte ein Stück von ihr ab und stöhnte unwirsch. »Maggy ist doch kein Name für ein schönes Maori-Mädchen wie dich. So heißen bleiche, rothaarige Engländerinnen. Zu dir würde Putiputi passen.«
Maggy brach wider Willen in ein lautes Lachen aus. »Blume? Also gut, wenn du es genau wissen willst. Meine Eltern nannten mich Makere.«
»Siehst du? Das ist der Name, den deine Ahnen für dich vorgesehen haben. Du gehörst nicht zu den Pakeha.«
Maggy wurde schlagartig wieder ernst. »Ach nein? Du meinst, ich gehöre zu den Maori. Müsste stolz sein, dass ich sogar eine Prinzessin bin, aber das bin ich nicht und werde es niemals sein. Ich habe zitternd in unserem Vorratshaus gekauert, während meine gesamte Familie, alle meine Freunde, mein ganzer Stamm abgeschlachtet wurden ...« Maggy unterbrach sich, weil ihr die Tränen kamen, wie immer, wenn sie an diesen Tag dachte, der ihr bis dahin friedliches Leben so verändert hatte. Sie wandte Tiaki ihr tränennasses Gesicht zu. »Und es waren keine Pakeha, sondern Maori wie du und ich!«
Tiaki machte einen hilflosen Eindruck, während er um die richtigen Worte rang. »Das tut mir wirklich leid, aber trotzdem bleibst du doch eine Maori. Natürlich hat es immer auch Auseinandersetzungen zwischen den Stämmen gegeben. Wir sind schließlich kein Volk von Jägern, sondern von stolzen Kriegern.«
»Das ist noch lange kein Grund, für so einen blöden Fahnenmast einen Krieg zu riskieren«, schimpfte Maggy und sprang auf. »Dann berichte deinem Häuptling mal schön, was in Te Waimate so geredet wird. Von denen, die den Frieden wollen!«
Ohne sich noch einmal umzudrehen, rannte Maggy zum Haus zurück. Dabei war es nicht einmal die Tatsache, dass Tiaki zu Hone Hekes Leuten gehörte, die sie wütend machte, sondern dass sie manchmal selbst nicht mehr wusste, wohin sie gehörte. Diese Zweifel waren neu. Früher hatte sie nie solche Gedanken gehegt. Im Gegenteil, denn das weiße Haus in der Bucht von Paihia war auch ihr Zuhause gewesen, Emily Carrington ihre geliebte Mutter, Walter der beschützende Vater und Matthew ... Mit einem Mal überfiel sie eine schmerzhafte Sehnsucht nach ihrem Bruder. Was hätte sie darum gegeben, sich jetzt in seine Arme flüchten und mit ihm über diese widerstreitenden Gefühle plaudern zu können! Plötzlich wurde ihr bewusst, wie weit sie sich in letzter Zeit voneinander entfernt hatten. Ob er überhaupt etwas über ihren Verbleib wusste, und wenn, warum war er noch nicht hergekommen?
Sie hörte Schritte hinter sich und dann Tiakis beschwörende Stimme: »Nun warte doch, Maggy! Wir können über alles reden.« Und schon spürte sie seine Hand auf ihrer Schulter. Sie blieb stehen und wandte sich zu ihm um. Es rührte ihr Herz, wie schuldbewusst er sie ansah. Dabei hatte er doch gar nichts getan - außer die Wahrheit zu sagen. Sie war keine Pakeha und würde auch niemals eine werden. Daran änderte auch der Umstand nichts, dass sie das Kind eines Weißen unter dem Herzen trug.
»Verzeih mir«, murmelte sie. »Ich wollte dich nicht so angiften, aber im Augenblick ist alles nicht so einfach für mich. Eben hatte ich noch eine Familie, und jetzt bin ich allein auf mich gestellt, und weißt du, das mit meinem Mann ...« Maggy wollte ihm eigentlich offenbaren, dass ihr Mann nicht gestorben war, doch er unterbrach sie ungeduldig. Er redete nun wieder in der Sprache ihrer Ahnen und blickte ihr tief in die Augen. »Makere, du solltest nicht allein sein. Du bist zu jung, um deinen verstorbenen Mann zu betrauern. Du musst an die Zukunft deines Kindes denken. Wenn das hier alles vorbei ist und wir den Mast noch einmal erfolgreich gefällt haben, willst du dann als meine Frau mit in mein Dorf kommen? Meine Sippe wird dein Kind und dich willkommen heißen.«
In diesem Augenblick ahnte Maggy, dass sie sich eines Tages würde entscheiden müssen, wohin sie gehörte. Zu den Pakeha oder den Maori.
»Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll, ich ...«
»Pst, kleine Makere!« Tiaki legte ihr die Hand auf den Mund, aber dieses Mal nahezu zärtlich. »Mein Herz will zu dir. Ich habe es gleich gespürt. Sag Ja, bitte!«
Maggy hätte sich gern Bedenkzeit erbeten, aber er sah sie so hoffnungsfroh an, dass sie es nicht über sich brachte, ihm ihre Zweifel zu offenbaren.
»Heißt das Ja?«, fragte Tiaki in das Schweigen hinein.
Maggy nickte verlegen.
Der stämmige Maori lächelte glücklich und wollte sie gerade umarmen, als sich im Laufschritt ein paar von Waka Nenes Männern näherten. Im Nu verfinsterte sich Tiakis Gesicht. »Sie haben mich erkannt. Ich muss fort, aber ich komme wieder, nachdem wir den Mast erfolgreich gefällt haben. Warte auf mich!«
Waka Nenes Männer wollten sich gerade mit Gebrüll auf Tiaki stürzen, doch der schlug einen Haken. Er rannte flink davon und war hinter einem Haus verschwunden, bevor seine Verfolger überhaupt begriffen, dass er ihnen bereits entkommen war.
»Weißt du eigentlich, dass dein Mann zu Hone Hekes Leuten gehört?«, fuhr einer der drei jungen Männer Maggy grob an. Sie aber hob die Schultern, wandte sich um und verschwand wortlos in Miss Mortons Haus.
Dort musste sie sich erst einmal setzen, weil ihr schwindelig geworden war. Ihre Gedanken kreiselten wild durcheinander. Je länger sie über Tiakis Angebot nachgrübelte, desto besser gefiel ihr der Gedanke. In seinem Dorf hätte sie vielleicht endlich wieder ein richtiges Zuhause und eine Familie. Plötzlich kamen ihr jede Menge Bilder aus dem Leben im Dorf ihrer Ahnen in den Sinn. Hatte sie sich nicht in der Gemeinschaft ihres Stammes immer geborgen gefühlt, bis zu jenem Tag, an dem ihre Feinde diese Idylle brutal zerstört hatten? Sie roch förmlich den Duft eines frisch zubereiteten Hangis, sie erinnerte sich an das wohlige Gruseln, wenn sie die Männer bei ihren Kriegstänzen beobachtet hatte, und an ihren Ball aus Flachs. Ja, sie würde einen Kilt tragen und ihrem Bruder beim Schnitzen zuschauen. Wie damals als kleines Maori-Mädchen. Nur eines machte ihr Sorge: Wie würde Tiaki reagieren, wenn er erfuhr, dass das Kind, das in ihrem Bauch heranwuchs, ein halber Pakeha war? Und selbst wenn er sie trotzdem noch zur Frau wollte, was würde seine Familie dazu sagen? Maggy war fest entschlossen, es ihm zu beichten, bevor er sie heiratete, und sie betete in diesem Augenblick darum, dass ihr Baby ihr und nicht Henry Carrington ähneln möge.
Wie gern hätte sie mit jemandem darüber gesprochen, aber sie durfte es ja nicht verraten. Schließlich hatte sie auf die Bibel geschworen. Maggy überlief es wie immer, wenn sie an ihren Schwur dachte - und vor allem, wie sie ihn in ihrer Verzweiflung ein einziges Mal gebrochen hatte -, abwechselnd heiß und kalt. Aber da Ripeka nun Bescheid wusste, konnte sie die alte Maori auch getrost um Rat fragen.
Maggy machte sich also auf, sie zu suchen, doch das Haus war leer. Alle hatten sich im großen Saal versammelt, um den Reden des Gouverneurs und des Bischofs zu lauschen. Wahrscheinlich ist auch Ripeka dort, dachte Maggy und wollte eigentlich gleich dorthin eilen, aber bereits auf der Veranda wurde ihr flau im Magen, sodass sie sich lieber in den Schaukelstuhl flüchtete. Doch es war nicht nur ein körperliches Unwohlsein, das sie quälte. In ihrem Innern breitete sich eine unheimliche Ahnung aus. Wie ein schleichendes Gift. Die Ahnung, dass etwas Schreckliches geschehen würde, ließ sie erzittern. Maggy kannte das. So war es auch damals gewesen, an jenem Tag, an dem man ihr Dorf überfallen hatte. An diesem Morgen war sie genau mit dem gleichen Gefühl aufgewacht. Dabei war es ein ebenso schöner Tag gewesen wie dieser. Die Sonne hatte den Kampf gegen den Regen gewonnen und der blaue Himmel die letzten grauen Wolken vertrieben. Ja, so war es auch damals gewesen. Maggy umfasste ängstlich ihren Leib, als könne sie ihr Kind damit vor jedwedem drohenden Unheil schützen.