Paihia, zur gleichen Zeit, September 1844
Walter überlegte kurz, ob er auf das Fest zurückkehren sollte, doch dann folgte er seiner Frau in den Garten. Er wurde nicht schlau aus ihr. Was war bloß in sie gefahren? Dass Matthew seine kranke Schwester besuchen wollte, war doch mehr als verständlich. Warum hatte sie auf solch schroffe Weise versucht, den Jungen davon abzubringen? Und wie konnte sie nur schmollend davonlaufen, obwohl sie das Haus voller Gäste hatten?
Die ständige Abwesenheit der Gastgeberin würde der gehässigen Misses Hobsen bestimmt nicht verborgen bleiben. Walter schüttelte sich bei dem Gedanken an Henrys Schwiegermutter. Sie war in seinen Augen nicht nur eine äußerst unattraktive, sondern überdies eine besonders zänkische und eingebildete Person. Sie betonte bei jeder Gelegenheit, dass ihre June ganz andere Partien hätte machen können. Gemeint waren reichere, und das glaubte ihr Walter aufs Wort. Trotz ihrer fehlenden Anmut war June eine der begehrtesten heiratsfähigen jungen Frauen in der Bay of Islands gewesen, wenn nicht gar der gesamten Northlands. Amanda Hobsen hatte auch nie einen Hehl daraus gemacht, dass sie, wenn es nach ihr gegangen wäre, die Hochzeit ihrer Tochter mit dem nicht gerade wohlhabenden Missionarssohn verhindert hätte. Doch June liebte Henry nun einmal über alles, und John Hobsen konnte seiner Tochter keinen Wunsch abschlagen.
Suchend blickte sich Walter um. Wo zum Teufel steckt Emily nur?, fragte er sich. Da entdeckte er sie unter einem Kauribaum. Er holte einmal tief Luft, bevor er festen Schrittes in ihre Richtung ging. Entschieden straffte er seine Schultern. Sosehr er sie auch liebte, aber das ging jetzt zu weit. Er musste ein Machtwort sprechen und konnte ihr die Wahrheit nicht ersparen: Ihr Benehmen war schlichtweg töricht!
Nachdem er Emily auf die Schulter getippt hatte, weil sie stur über das Wasser stierte, räusperte er sich noch einmal. Dieses Mal wollte er nicht nach ihrer Pfeife tanzen. Langsam kam er sich in dieser Rolle nämlich mehr als lächerlich vor. Die hämischen Worte dieses jungen Maori vorhin am Steg hallten noch in ihm nach. Er war der Herr im Haus, und das galt es in diesem Augenblick zu beweisen.
»Was denkst du dir dabei, beleidigt das Haus zu verlassen, während wir es voller Gäste haben? Das ist unhöflich. Dieses Verhalten kann ich nicht dulden ...« Walter hatte einen noch strengeren Ton angeschlagen als beabsichtigt. Als sich seine Frau jetzt zu ihm umwandte und er in ein tränenüberströmtes, trauriges Gesicht blickte, hielt er erschrocken inne.
»Liebling, was ist geschehen?«
Emily aber maß ihn mit einem strafenden Blick und fuhr sich mit dem Ärmel ihres Festkleides energisch über die Augen.
»Nichts ist«, erwiderte sie schnippisch.
Walter aber ließ sich nicht abwimmeln. Er fasste sie zärtlich an den Schultern und sah ihr tief in die Augen.
»Was ist geschehen? Hat Amanda Hobsen ihr Lästermaul nicht halten können? Hat sie uns noch einmal beleidigt?« Walter spielte auf einen Vorfall in der Kirche an. Kurz vor der Trauungszeremonie hatte Henrys frischgebackene Schwiegermutter für alle hörbar zu ihrem Mann gesagt, in was für anderen und viel prächtigeren Kirchen June doch hätte heiraten können. Dabei hatte sie gar nicht so unrecht. Die kleine Kirche in Paihia war kaum mehr als eine windschiefe Hütte aus Latten und Gips. Dafür stand sie auf dem Boden der ersten christlichen Kirche Neuseelands, einer einfachen Schilfhütte. Und darauf war der Reverend mächtig stolz.
»Nein, sie hat nichts dergleichen gesagt. Es ist nicht wegen Amanda, es ist...« Sie brach gequält ab.
»Nun rede schon, mein Liebling«, sagte Walter sichtlich betroffen.
»Ich will dir den Tag nicht verderben«, entgegnete sie ausweichend.
Walter sah sie flehend an. »Bitte, sprich mit mir!«
»Gut, aber versprich mir, dass du dir nichts anmerken lässt. Wir gehen sofort zurück auf das Fest und machen gute Miene zum bösen Spiel. Einverstanden?«
»Natürlich, ich mache alles, wenn du mir nur endlich verrätst, weshalb du geweint hast. Liebling, was ist geschehen?« Walter, der eben vor Entschlossenheit nur so gestrotzt hatte, überkam beim Anblick seiner unglücklichen Frau eine schreckliche Hilflosigkeit.
»Versprich mir, dass wir gleich in das Haus zurückkehren, als wäre nichts geschehen«, wiederholte sie beschwörend.
»Ich verspreche es dir.«
Emily seufzte schwer. »Es ist wegen Maggy.«
»Maggy?«
»Maggy ist in anderen Umständen.«
»Wer war das? Nenn mir seinen Namen, und er wird mit den Fäusten eines Reverends Bekanntschaft machen.«
»Ich glaube, du wirst ihm kein Haar krümmen, wenn du erfährst, wer er ist.«
»Nun sag schon! Ist es einer von den jungen Burschen aus dem Ort? Oder gar einer von diesen schwarzen Kriegern, die Hone Heke dienen?«
Stumm schüttelte Emily den Kopf.
»Ein Pakeha?«
Sie nickte schwach.
»Sie hat es doch freiwillig getan, nicht wahr?« Er war jetzt weiß wie eine gekalkte Wand.
»Nein, nicht ganz, sie hat ihn in ihr Zimmer gelassen, aber sie schwört, dass sie ihm deutlich gezeigt hat, dass sie das nicht wollte.«
»Ich bringe ihn um!«, zischte Walter.
»Nein, das wirst du sicher nicht tun. So wenig, wie er jemals erfahren wird, welche Folgen seine abscheuliche Tat hatte.«
»Heißt das, der Kerl weiß von nichts?«
»Er ist ahnungslos.«
»Oho, das lässt sich ändern, denn er wird sie heiraten. Eine andere Möglichkeit sehe ich nicht. Wer immer dieser Schuft sein mag, er kommt nicht ungeschoren aus der Sache heraus, nachdem er solche Schande über unsere Familie gebracht hat. Sag mir sofort, wer er ist und wo er wohnt!«
»Er lebt dort.« Emily deutete auf ihr gemeinsames Haus.
Walter blieb der Mund offen stehen. »Dort?«, wiederholte er wie betäubt.
»Ja, dort, und er wird Maggy nicht heiraten, denn er hat gerade heute eine andere zur Frau genommen.«
Der große Mann ließ sich fassungslos am Stamm des Kauribaumes entlang auf den Boden gleiten.
»Seit wann weißt du das?«, fragte er nach einer halben Ewigkeit.
»Ich habe es heute Morgen erfahren.«
»Dann hättest du die Hochzeit also noch verhindern können?«, murmelte er ungläubig.
»Wozu? Oder wolltest du allen Ernstes deinen Sohn mit einem Maori-Mädchen verheiraten?«
Walter rang nach Luft. Er sah aus, als wäre er in den letzten Minuten um Jahre gealtert. Er wollte etwas sagen, doch seine Frau kam ihm zuvor.
»Jetzt ist es zu spät. Vor Gott sind Henry und June Mann und Frau. Du selbst hast sie dazu gemacht.«
»Ja, aber ... ich wusste doch nicht...«
».,. aber jetzt weißt du, was los ist, und wirst dich hoffentlich an dein Versprechen erinnern. Du darfst nicht zerstören, was du vor Gott zusammengefügt hast.«
»Wenn ich gewusst hätte, dass ...« Er raufte sich die Haare.
»Ich sagte doch bereits, es ist zu spät«, entgegnete Emily kalt, während sie sich umwandte, um zum Haus zurückzukehren.
Da sprang Walter vom Boden auf und packte seine Frau von hinten an den Schultern.
»Wie kannst du nur so herzlos sein?«, rief er verzweifelt aus. »Sie ist doch noch ein Kind, und wenn sich unser eigenes Fleisch und Blut an ihr versündigt hat, muss unser Sohn auch die Verantwortung dafür tragen.«
Wütend riss sie sich los. »Walter, begreifst du es denn nicht? Dein Sohn hat gerade das begehrteste Mädchen der ganzen Northlands zur Frau genommen. Willst du dort hineingehen und verkünden, die Ehe sei ungültig? Möchtest du hinausposaunen, dass dein Sohn sich ein einziges Mal vergessen hat und jetzt eine kleine Maori heiraten muss, weil sie ein Kind von ihm erwartet?«
»Nein, natürlich nicht!«, brachte er voller Verzweiflung hervor. »Wir können es nicht mehr ändern, aber was sollen wir mit Maggy machen? Was mit ihrem Kind? In ein paar Wochen wird jedermann sehen, dass sie schwanger ist. Und was, wenn das Kind nach Henry kommt? Dann wird man erst recht mit dem Finger auf uns zeigen.«
»Du hast recht. Sie muss schnellstens fort!«
»Wie du das sagst. Als wäre sie eine Fremde ...«
»Das ist sie auch!«
»Aber wir lieben sie wie ein eigenes Kind ...«
»Wenn ich mich entscheiden muss zwischen dem Maori-Mädchen und meinem eigenen Fleisch und Blut, dann gibt es für mich nur eine Wahl. Oder siehst du das anders?«
»Ich .. . nein, ich ...« Walter lief eine Träne über das Gesicht.
»Aber er wird mir zürnen.« Walter streckte seine Arme dramatisch gen Himmel.
»Wenn mir das Ganze leichtfiele, müsste ich nicht so hart gegen Maggy sein. Es bricht mir das Herz, falls du es genau wissen willst, nur wenn ich dieser Schwäche folge, werden wir die längste Zeit friedlich hier gelebt haben«, bemerkte Emily leise.
»Vielleicht ist das die richtige Lösung. Wir gehen nach England und nehmen Henry und sie mit.«
»Du willst Henry dazu anstiften, die Ehe zu brechen und seine Frau zu verlassen? Sag mal, bist du noch ganz bei Sinnen? Begreif doch endlich, dass wir keine Wahl haben als ...« Sie stockte und überlegte. »Wir müssen sie fortbringen. Weit fort von hier, wo keiner sie kennt. Am besten nach Auckland oder ...«
»Aber wer soll sich um das Baby und sie kümmern?«
»Wir finden eine Lösung. Ich bin mir sicher. Nur lass uns endlich zum Fest zurückkehren.«
Wie ein gebrochener alter Mann trottete Walter hinter seiner Frau her, während sie festen Schrittes und aufrechten Hauptes zum Haus zurückeilte. An der Tür stießen sie beinahe mit Bella Morton zusammen, der Lehrerin aus Te Waimate.
»Da sind Sie ja wieder. Wir dachten schon, sie hätten sich davongestohlen. Misses Hobsen hat schon ihre derben Scherze darüber gemacht und behauptet, Sie beide hätten sich aus dem Staub gemacht, damit sie nachher nicht aufräumen müssen«, lachte die Lehrerin.
»Ein Todesfall in der Nachbarschaft. Mein Mann musste der Ehefrau Beistand leisten, und da habe ich ihn begleitet«, log Emily, ohne rot zu werden, und betete, dass die Lehrerin nicht fragen würde, wer der Verstorbene war, denn man kannte einander in der Bay of Islands.
»Oh, entschuldigen Sie, das tut mir natürlich leid, aber Sie müssen aufpassen. Mit Misses Hobsen ist nicht zu spaßen. Sie hat sich vor allen Gästen lauthals darüber beschwert, dass Sie das Fest gemeinsam verlassen haben. Aber Ihr Junge, der hat Sie verteidigt ...«
»Henry?«
»Nein, der doch nicht. Der ist voll bis obenhin. Matthew! Der hat über den ganzen Tisch gebrüllt, Misses Hobsen solle ihr Lästermaul halten, und darüber hat sich Ihr betrunkener Henry schrecklich aufgeregt, wollte ihm eine Ohrfeige verpassen. Da hat sich June eingemischt und gebeten, alle sollten friedlich sein. Aber ich hätte mir ja denken können, dass Sie einen triftigen Grund hatten.«
Emily kämpfte mit sich, ob sie Miss Morton zurechtweisen sollte, weil sie so respektlos über Henry gesprochen hatte, aber sie wollte sich in dieser Lage nicht auch noch mit der streitbaren Lehrerin anlegen.
»Und was ist mit Ihnen? Sie sind doch nicht etwa im Aufbruch?«, fragte sie stattdessen so freundlich, wie sie nur konnte.
Bella Morton hob die Schultern. »Ich muss. Ein paar junge Maori fahren heute noch in die Mission, und ich kann nicht in Paihia übernachten, weil noch so vieles zu erledigen ist.« Sie seufzte tief.
»Aber Sie haben doch Ihre Helfer. Können die nicht mal Ihre Arbeit mitmachen, Bella?«, fragte Emily. Dieser Name ging ihr nicht leicht über die Lippen, weil die Lehrerin alles andere als eine Schönheit war. Sie war knochig, mit einer weißen empfindlichen Haut geschlagen und hatte ein faltiges Gesicht, aus dem ihre großen grauen Augen unvorteilhaft hervorstachen. Böse Zungen nannten sie eine alte Vogelscheuche, aber nur hinter ihrem Rücken, denn jedermann fürchtete ihr loses Mundwerk.
Wieder stöhnte Bella Morton auf. »Von wegen Hilfe.«
Emily wunderte sich sehr darüber. So leidend wie an diesem Tag hatte sie die ansonsten eher kernige Lehrerin aus Te Waimate noch nie erlebt.
»Und warum hilft Ihnen keiner?«, hakte Emily nach.
»Ach, das ist eine dumme Geschichte. Mein Mädchen, das mir im Haus, und der Junge, der mir im Garten zur Hand gegangen ist, die beiden haben sich bei Nacht und Nebel fortgestohlen. Er ist ein Bewunderer Hone Hekes und will dabei sein, wenn es zu einem Krieg kommt, und zwar auf der richtigen Seite. Jedenfalls auf der, die er für richtig hält.«
»Machen Sie sich keine Sorgen«, versuchte Walter sie zu beruhigen. »Es wird keinen Krieg geben. Jetzt, da die Schiffe zu unserem Schutz gekommen sind.«
»Ihr Wort in Gottes Ohr, und wissen Sie was? Ich kann diesen Hone Heke sogar ein wenig verstehen. Wie sich die Rotröcke hier in der Bucht wie die Herrscher aufspielen ...«
»Aber Miss Morton, Sie verkennen ...«, begann Walter mit großer Geste, aber ein warnender Blick seiner Frau brachte ihn umgehend zum Schweigen.
»Walter, ich glaube, es ist besser, wenn du dich zu den Gästen begibst. Ich bringe Miss Morton noch zu ihrer Kutsche«, flötete Emily, während ein flüchtiges Lächeln über ihr Gesicht huschte.
Er sah sie etwas verwundert an, weil sie ihn fortschickte wie einen ungezogenen Störenfried, doch dann verabschiedete er sich hastig und eilte auf das Fest zurück. Kaum hatte er die Haustür hinter sich zugezogen, da beugte sich Emily vertraulich zu Bella Morton hinüber. »Aber das können Sie unmöglich allein schaffen. Zumal Sie es doch immer so im Rücken haben.«
»Wer sagt denn so was? Unsinn! Aber trotzdem ist es zu viel für eine Frau allein. So schnell kann ich kein Personal anlernen. Und ich kann mich nicht zerteilen. Würde ich ja gern, aber es geht nicht«, brummte Miss Morton.
»Ich hätte da einen Vorschlag zu machen«, säuselte Emily einschmeichelnd.
Die Lehrerin sah die Missionarsfrau fragend an.
»Ich gebe Ihnen meine Tochter mit.«
»Ihre Tochter? Wozu?«, hakte Bella Morton in ihrer unverwechselbar schroffen Art nach.
»Weil sie äußerst geschickt im Haushalt ist. Deshalb! Sie soll Ihnen zur Hand gehen.«
Bella Morton rollte die Augen. »Ich schätze Ihre Tochter wirklich. Sie ist eine bezaubernde Person, aber sie ist es nicht gewohnt, für Dutzende Kinder zu kochen ... die Schule zu putzen ...«
»Bitte, nehmen Sie sie mit nach Te Waimate!«, presste Emily gequält hervor, hakte die Lehrerin unter und zog sie von der Haustür weg in den Garten, um ungestört mit ihr plaudern zu können.
Bella Morton aber hatte angriffslustig die Hände in die Hüften gestemmt. »Misses Carrington, was ist denn in Sie gefahren? Wollen Sie Ihre Tochter loswerden, oder wie darf ich das verstehen?«
»Und wenn ich Ihnen Ripeka ausleihe, bis Sie wieder eine Hilfe gefunden haben?«
»Ripeka ist eine echte Perle. Aber warum sollten Sie auf sie verzichten? Die Sache hat doch einen Haken, nicht wahr?« Miss Morton musterte Emily skeptisch.
»Ich leihe Sie Ihnen aus, wenn Sie dafür auf der Stelle auch Maggy mitnehmen.«
»Was ist denn bloß los mit Ihnen? Ich nehme niemanden mit, bevor Sie mir nicht sagen, was Sie wirklich von mir wollen.«
Emily rang mit sich. Sie kam nicht umhin, der Lehrerin wenigstens die halbe Wahrheit anzuvertrauen. Schließlich würde es nicht mehr allzu lange dauern, bis diese das Malheur mit eigenen Augen erkennen konnte. Und nicht nur sie, sondern der ganze Ort und ... Emily hatte keine andere Wahl. Sie musste alles auf eine Karte setzen.
»Bella, was ich Ihnen jetzt sage ... also, Sie müssen mir schwören, dass Sie es keiner Menschenseele je verraten ...« Sie hielt inne und atmete schwer, bevor sie fortfuhr. »Maggy ist in anderen Umständen, und wir können sie auf keinen Fall hierbehalten. Die Leute werden reden. Dabei kann das Kind gar nichts dafür ...« Sie unterbrach sich, weil ihr Tränen in die Augen schossen. Schluchzend sprach sie weiter. »Wir werden sie auf Dauer in Auckland unterbringen, aber es lässt sich nicht mehr lange verbergen.«
Emily hatte vor Aufregung rote Flecken im Gesicht bekommen, doch Bella legte ihr beschwichtigend die Hand auf den Arm. »Schon gut, Emily, natürlich helfe ich Ihnen. Ich bringe Maggy erst einmal diskret in der Mission unter. Sie müssen mir auch Ihre Ripeka dafür nicht ausleihen. Wenn ich Ihnen helfen kann, dann will ich das ohne Gegenleistung tun. Ich mag das Mädchen nämlich wirklich. Ganz ehrlich, ich tue es für Maggy. Für sie ist es wichtig, dass sie nicht ins Gerede kommt.«
»Aber...«
Bella Morton winkte müde ab. »Sie sind mir keine Erklärung schuldig. Ich weiß, was das in Ihrer Stellung bedeutet. Gerade jetzt, da die Hobsens zu Ihren Verwandten gehören ...«
Wenn sie nur annähernd ahnen würde, was wirklich geschehen ist, schoss es Emily durch den Kopf. »Bella, bitte, nehmen Sie auch Ripeka mit! Es ist doch auch, damit Maggy nicht das Gefühl hat, dass sie ganz allein auf der Welt ist. Sie hängt an Ripeka, nur darf die unter keinen Umständen von der Schwangerschaft erfahren. Je weniger davon wissen, desto besser. Es ist ja auch nur für ein paar Wochen, bis ich einen Platz in Auckland gefunden habe, wo ich das arme Kind unterbringen kann. Wenn Sie bitte nur kurz warten würden, bis die beiden reisefertig sind.«
»Ich warte auf die beiden an der Kutsche«, entgegnete Bella Morton kühl.
Emily atmete erleichtert auf und wollte gerade ins Haus zurückeilen, als die füllige Misses Hobsen schwitzend vor die Tür trat. Sie musterte Emily abschätzig. »Gefällt dir dein eigenes Fest nicht? Wir hätten wohl doch lieber bei uns in Kororareka feiern sollen«, japste sie. Ihr Atem ging schwer. »Ich hätte mich jedenfalls nicht davongeschlichen.«
Emily war weniger von Amandas Worten getroffen als vielmehr von der Aussicht, dass die Matrone hier draußen immer noch nach Luft schnappen würde, wenn sie gleich Ripeka und Maggy aus dem Haus zu schmuggeln versuchte.
»Nimm dich in Acht vor dem Wind«, bemerkte sie wie beiläufig. »So verschwitzt, wie du bist, kannst du dich leicht verkühlen.«
Emily atmete erleichtert auf, als Amanda, die eine panische Angst vor Krankheiten hatte, wortlos davonstob und im Haus verschwand.
Die Freude verging ihr allerdings sofort wieder, während sie sich auf den Weg zur Küche machte. Was würde Ripeka sagen, wenn sie sie einfach fortschickte? Das würde ihr doch sicher merkwürdig Vorkommen. Sollte sie ihr auch die Wahrheit sagen? Nein, sie würde sie nach Paihia zurückbeordern, bevor Maggys Schwangerschaft ruchbar wurde. Jeder Mitwisser stellte eine Gefahr dar.
Die Maori war eifrig damit beschäftigt, das Geschirr abzuwaschen, als Emily zögernd die Küche betrat.
»Missy, entschuldigen Sie, ich komme gleich, um den Kuchen zu servieren«, verkündete sie entschuldigend, bevor Emily überhaupt etwas sagen konnte.
»Nein, du machst alles wunderbar. Ich komme aus einem anderen Grund.«
Ripeka wandte sich erstaunt um. Sie war eine, wie Walter stets zu sagen pflegte, unverwechselbare Maori-Frau. Sie war gedrungen, besaß ausladende Hüften, eine sehr dunkle Hautfarbe und ein unverkennbar polynesisches Gesicht mit einer kurzen Nase und funkelnden braunen Augen. Ihr Haar war kraus, und ihre breiten Lippen wiesen diesen unverwechselbaren prägnant geschwungenen Oberlippenbogen auf.
Emily dachte voller Wehmut an ihre Ziehtochter. Nein, Maggy hat so gar nichts von diesem typischen Erscheinungsbild, schoss es ihr durch den Kopf. Dann räusperte sie sich.
»Ich möchte, dass du rasch ein paar Sachen zusammenpackst und mit Bella Morton zur Te-Waimate-Mission fährst. Sie braucht eine Hausangestellte. Ich leihe dich ihr aus.«
Ripeka sah Emily verblüfft an. »Jetzt? Aber es gibt jede Menge Arbeit, das Fest ist noch nicht zu Ende, ich ...«
»Das lass bitte meine Sorge sein. Kannst du in zehn Minuten mit deinen nötigsten Habseligkeiten vor dem Haus sein?«
»Ja, schon, aber ...«
»Dann tu, was ich dir sage!«
Ripeka sah Emily fassungslos an, doch dann ließ sie den Teller, den sie gerade abwaschen wollte, in das warme Wasser zurückgleiten und verließ die Küche, ohne Emily eines weiteren Blickes zu würdigen.
Sie glaubt, ich bin verrückt, durchfuhr es Emily, aber das sollte ihr jetzt gleichgültig sein. Sie hatte noch etwas ungleich Schwierigeres zu bewältigen. Was würde Maggy sagen, wenn man von ihr verlangte, das Elternhaus dermaßen überstürzt zu verlassen? Emily konnte nur beten, dass sich das ansonsten so fügsame Kind ihrem, Emilys, Willen auch dieses Mal nicht widersetzte.
Mit klopfendem Herzen eilte sie die Treppen hinauf.
Maggy wandte nicht einmal den Kopf, als Emily, ohne vorher anzuklopfen, in ihr Zimmer stürmte.
»Ich muss mit dir reden«, japste Emily völlig außer Atem und ließ sich auf das Bett fallen. »Ich habe eine vorübergehende Lösung für unser Problem.« Sie legte eine kleine Pause ein und fügte unwirsch hinzu: »Sag mal, hörst du mir eigentlich zu?«
Maggy aber reagierte gar nicht, sondern stierte weiter unbewegt zur Decke hinauf.
»Ob du mit mir sprechen willst oder nicht, du wirst dich jetzt anziehen und mit Ripeka und Bella Morton zur Te-Waimate-Mission fahren.«
Maggy erwachte aus ihrer Erstarrung und murmelte: »Ich werde nirgendwohin fahren.«
»Du musst, mein Kind. Sonst werden bald alle mit dem Finger auf dich zeigen, weil dann jeder sehen kann, dass du ein Kind erwartest...« Emily sprang auf, kroch unter das Bett und zog einen verstaubten Reisekoffer hervor. »Nun beeil dich schon!«, befahl sie, während sie Maggys Kleider, die sorgsam über einer Stuhllehne hingen, zusammenraffte und ihrer Ziehtochter hinwarf.
Als sie sah, dass das verstörte Mädchen noch immer keine Anstalten machte, aufzustehen, zog sie ihr die Bettdecke weg und herrschte sie an: »Wir haben nicht viel Zeit!«
Daraufhin erhob sich Maggy stumm. Sie zitterte am ganzen Körper. In ihren Augen war die nackte Angst zu lesen.
Emily schluckte trocken, als sie das schöne Kind, das durch seine Schwangerschaft unübersehbar zu einer jungen Frau erblüht war, so entsetzlich leiden sah. Sie konnte nicht anders, als Maggy in die Arme zu nehmen und fest an sich zu drücken.
»Keine Sorge, dir wird es gut gehen in Te Waimate, und schließlich ist Ripeka bei dir. Glaub mir, es ist auch für mich kein Vergnügen, dich ziehen zu lassen. Ich habe dich doch so lieb, als wärst du mein eigenes Kind. Aber was soll ich denn tun? Versteh doch bitte, dass ich keine andere Wahl habe, als dich fortzuschicken.«
»Schon gut, Mutter«, flüsterte Maggy heiser und befreite sich sanft, aber bestimmt aus der Umarmung.
Bevor Emily die weiteren Habseligkeiten ihrer Ziehtochter zusammenpackte, blieb ihr Blick noch einmal an Maggy hängen, die sich jetzt widerstandslos in ihr Schicksal fügte und eilig ankleidete.
Sie ist wunderschön, durchfuhr es Emily. Und eigentlich steht es ihr ganz gut, dass sie ein wenig zugenommen hat. Ob ihr Kind auch so hübsch wird? Seufzend stellte sie sich ein Kind von Margaret und Henry vor, doch dann erstarrte sie. Zum ersten Mal seit heute Morgen wurde ihr bewusst, dass dieses Wesen, das da in Margarets Leib heranwuchs, ihr eigenes Enkelkind war. Sie wurde bleich und ließ sich auf einen Stuhl fallen.
»Mutter, was hast du?«, fragte Maggy ängstlich. Sie war jetzt wieder ganz die Alte, die sich stets mehr um das Wohl anderer Menschen sorgte als um ihr eigenes.
»Mir ist nur ein wenig flau«, erwiderte Emily, während sie ein ungeheuerlicher Gedanke durchzuckte. Wäre es nicht das Allerbeste, das arme Würmchen, wenn es denn auf der Welt war, June und Henry zu geben? Doch sie verwarf diesen Gedanken in demselben Augenblick schon wieder. Wie sollte Henry June je von diesem Kind erzählen können, ohne dass herauskam, welch ungeheuren Verbrechens er sich schuldig gemacht hatte? Da war es schon besser, dass nicht einmal er jemals von der Existenz seines Kindes erfuhr.
»Mutter, ich bin fertig. Wir können gehen.«
»Ja, gut«, erwiderte Emily geistesabwesend und erhob sich mechanisch. Die Gedanken wirbelten in ihrem Kopf wild durcheinander. Was, wenn sie das Neugeborene an sich nahm, es als Waise ausgab und June vorschlug, das elternlose Geschöpf als eigenes Kind anzunehmen? Hatte ihre Schwiegertochter nicht kürzlich erst angedeutet, sie werde sich bald nach der Heirat in einem Waisenheim in Auckland umsehen? Aber würde June Hobsen auch ein Mischlingskind an Kindes statt aufnehmen?
Emily stieß einen tiefen Seufzer aus.
»Mutter, ich möchte jetzt gehen.«
Mit diesen gefasst wirkenden Worten riss Maggy Emily aus ihrer quälerischen Grübelei. Emily wollte schier das Herz brechen, als sie nun beobachtete, wie Margaret mit ernster Miene ihre Bibel in dem Koffer verstaute. O Gott, wie würde sie dieses Kind vermissen! Aber hatte sie als Mutter des Übeltäters überhaupt eine andere Wahl? Nein, ihr eigenes Fleisch und Blut stand ihr näher als das Maori-Mädchen. Und außerdem hielt sie Margaret für stark genug, damit fertig zu werden, während sie skeptisch war, was aus dem labilen Henry werden würde, wenn sich die Hobsens von ihm abwandten. Was, und dessen war sich Emily sicher, geschehen würde, falls sie jemals die Wahrheit erfuhren.
»Gib mir den Koffer!«, murmelte sie, nahm ihrer Ziehtochter das Gepäckstück aus der Hand und eilte voran zur Straße. Sie atmete erleichtert auf, als das Haus endlich außer Sicht war. Sie hatte unterwegs keine Menschenseele getroffen, doch plötzlich, als sie bereits kurz vor der wartenden Kutsche angelangt waren, blieb Maggy abrupt stehen.
»Ich muss mich von Matthew verabschieden!«
Emily wurde blass. »Aber das geht nicht, das kannst du nicht. Er ist auf dem Fest...«
»Aber er wird es mir nie verzeihen, wenn ich Paihia verlasse, ohne ihm Bescheid zu sagen. Wir haben uns geschworen, einander niemals zu verlassen«, protestierte Maggy verzweifelt.
»Kind, du kannst dich nicht von ihm verabschieden. Du darfst ihn erst Wiedersehen, nachdem du dein Kind bekommen hast und wir es gut in einem Waisenheim untergebracht haben.«
»Mutter!«, rief Maggy empört aus. »Was redest du da für einen Unsinn? Waisenheim? Wenn du glaubst, ich sei zu so etwas fähig, irrst du dich gewaltig. Dann bleibe ich hier und bekomme mein Kind, damit es mir keiner heimlich wegnehmen kann. Nein, niemals werde ich mich derart versündigen.«
»Das hast du doch bereits getan, dich versündigt! Und du wirst dich gleich noch einmal versündigen, wenn du nicht tust, was ich dir sage. Wenn du dich von deinem Bruder verabschiedest, dann kannst du ihm gleich sagen, was los ist. Und wenn du das machst, dann, ja, dann brichst du deinen Schwur, den du auf die Bibel abgelegt hast. Du wolltest es keinem Menschen je verraten!« Emily fuchtelte drohend mit dem Finger vor dem Gesicht des Mädchens herum.
Maggy kämpfte mit den Tränen.
»Aber ich werde es nicht weggeben. Das schwöre ich dir!«, brach es schließlich entschlossen aus ihr heraus, und sie eilte so schnell zur Kutsche, dass Emily ihr kaum folgen konnte.
Bella Morton, Ripeka und die halbwüchsigen Maori warteten schon ungeduldig auf sie. Bei näherem Hinsehen entpuppte sich die Kutsche als einfaches Pferdefuhrwerk, aber Maggy war es gleichgültig, in welches Gefährt sie einstieg. Widerstandslos ließ sie sich von einem der Jungen auf den Wagen helfen.
»Aber willst du mir denn gar keinen Abschiedskuss geben?«, fragte Emily verstört, doch da mahnte Bella Morton Maggy bereits zur Eile.
»Wenn wir vor Einbruch der Dunkelheit bei der Missionsstation ankommen wollen, müssen wir uns sputen. Also, wenn du dich noch von deiner Mutter verabschieden möchtest, dann schnell.«
»Lassen Sie uns fahren«, entgegnete Maggy mit ernster Stimme, ohne Emily noch eines Blickes zu würdigen. Sie wusste, dass ihre Ziehmutter ebenso unter dem Abschied litt wie sie selbst, aber sie konnte sie jetzt beim besten Willen nicht ansehen. Die Frau, die sie einst wie eine Mutter geliebt hatte, war zu einer Fremden geworden. Einer gefährlichen Fremden, die nicht einmal davor zurückschrecken würde, ihr dieses Kind fortzunehmen. Zum ersten Mal, seit Maggy von ihrem Zustand wusste, dachte sie voller Zärtlichkeit an das kleine Wesen, das in ihrem Körper heranwuchs. Und sie liebte das Kind mit solcher Heftigkeit, dass ihr schwindelig wurde. Es gehört mir, dachte sie entschlossen, und kein Mensch wird es mir je stehlen! In diesem Augenblick wusste sie, dass sie niemals mehr nach Paihia zurückkehren würde, denn sobald sie die Gelegenheit dazu hatte, würde sie aus Te Waimate fortlaufen. Weit fort. So weit fort, dass Emily sie dort niemals finden würde.
»Maggy, bitte, sieh mich an!«, bettelte Emily, aber die ließ sich nicht erweichen, sondern starrte in die entgegengesetzte Richtung und betete stumm, Matthew möge ihr verzeihen, dass sie ohne ein Wort des Abschieds fortgegangen war.
Als der Wagen sich in Bewegung setzte, fühlte sie, wie sich behutsam ein Arm um ihre Schultern legte. Maggy ließ es geschehen, vergrub ihr Gesicht an Ripekas mütterlicher Brust und fing hemmungslos an zu schluchzen.