Paihia, September 1844
Matthew Carrington war ein anderer Mensch geworden, nachdem er dem Tod so knapp von der Schippe gesprungen war.
Voller Dankbarkeit dachte er an seine Zieheltern, die nicht von seinem Bett gewichen waren, als er wochenlang im Fieber daniedergelegen hatte. Noch heute, Monate später, empfand er tiefe Reue, wenn er daran dachte, dass das alles nur geschehen war, weil er in jener Nacht geglaubt hatte, einer von Hone Hekes Männern zu sein. Tama? Sein Sohn? Nein, niemals! Der Häuptling hatte die Siedler in der Bay of Islands unnötig in Aufruhr versetzt. Und mehr noch. Seine Aktion hatte die Briten dazu ermutigt, Rotröcke zur Hilfe zu holen. Nun lag ein Schiff der Engländer in der friedlichen Bucht, und die Soldaten flanierten wie die Herren durch Russell. Manchmal fuhr Matthew im Boot hinüber, aber nur um Tinte aus der Pompallier-Mission zu besorgen. Der Kontakt zu den Brüdern der katholischen Mission war wesentlich freundlicher geworden, seit sie Bruder Jean nach Frankreich zurückgeschickt hatten. Ja, man half sich sogar mit allerlei Werkzeug und Zubehör aus.
Was für ein Irrsinn! Und das alles nur für einen Fahnenmast, ging es Matthew durch den Kopf, während er sich an der Druckmaschine zu schaffen machte. Er konnte nicht leugnen, dass ihm die Arbeit Spaß machte. Wer hätte gedacht, dass es mir einmal Freude bereiten würde, Bibeln herzustellen?, dachte er versonnen, während er die Druckmaschine betätigte, als hätte er nie etwas anderes getan.
Er war ja so froh, dass man ihn nicht nach Kerikeri geschickt hatte, sondern dass er in der Druckerei von Paihia lernen durfte. So konnte er in seinem Bett schlafen und sich abends mit den Schnitzereien beschäftigen. Außerdem hatte er seine Liebe zum Zeichnen mit Wasserfarben entdeckt. Inzwischen kamen einige Häuptlinge der umliegenden Stämme zu ihm und ließen sich von ihm abbilden. Für Matthew war es eine erfüllende Aufgabe, Porträts der Maori zu erstellen. Er achtete peinlich genau darauf, ihre stolzen Gesichter genau darzustellen, damit man ihnen ansah, dass sie Häuptlinge waren und keine dunkelhäutigen Wilden. Besondere Mühe gab er sich damit, die unterschiedlichen Tattoos haarklein wiederzugeben. Manchmal spielte er insgeheim mit dem Gedanken, sich auch ein Tattoo machen zu lassen. Doch er wusste, dass er damit den Zorn seiner Zieheltern erregt hätte, und das galt es zu vermeiden. Manchmal unterhielt er sich mit den Männern und erfuhr, dass keiner von ihnen Hone Hekes Rebellion unterstützte, außer Te Ruki Kawiti, ein angriffslustiger Häuptling der Ngata Hine. Ganz im Gegensatz zu dem weisen alten Tamati Waka Nene, der ebenfalls zu den Unterzeichnern des Vertrages von Waitangi gehörte. Der ließ bei jeder Gelegenheit seinem Unmut über diesen ungestümen Burschen, wie er Hone Heke zu nennen pflegte, freien Lauf. Er sei ein angriffslustiger Krieger, betonte er immer wieder, der auch nicht davor zurückschrecken würde, Krieg gegen die Siedler zu führen. Ja, er warnte mehrfach die Missionare in Paihia, allen voran Walter Carrington, eindringlich vor der Gefährlichkeit von Kawiti. Das alles ging dem jungen Maori durch den Kopf, während er gerade damit beschäftigt war, die Druckmaschine zu säubern.
Da klopfte es, und bevor Matthew den Gast hereinbitten konnte, blickte ein ihm bekanntes Gesicht durch den Spalt der halb geöffneten Tür.
»Hone Heke?«, entfuhr es Matthew fassungslos, weil er doch gerade eben so intensiv an den Häuptling gedacht hatte.
»Ja, mein Sohn, ich bin es. Hast du mich nicht erwartet?«, fragte er in scharfem Ton. »Wie ich höre, verbringst du deine Zeit damit, Bildnisse von Louka, Quiremu, Hiperina und auch Waka Nene anzufertigen. Da dachte ich, du könntest auch ein Bild von mir malen.«
»Ich ... doch ... also, ja ... ich weiß nicht...«, stammelte Matthew.
»Mal mich!«, verlangte der Häuptling herrisch.
Matthew war so verlegen, dass er nicht wusste, wohin er blicken sollte. So starrte er auf seine blank geputzten Schuhe. Hone Heke folgte seinem Blick und grinste breit. »Das Barfußlaufen war wohl nichts für deine zarten Pakeha-Füßchen«, höhnte er.
Matthew tat so, als hätte er die Bemerkung überhört, und fragte sich bang, was er bloß tun sollte. Er befürchtete, dass er dem Häuptling auf keinen Fall ein Bildnis verwehren durfte, und ahnte, dass dieser mit Sicherheit nicht nur gekommen war, um sich von ihm porträtieren zu lassen.
»Setz dich dorthin!«, verlangte Matthew und versuchte krampfhaft, seine Unsicherheit zu verbergen, aber seine Hände verrieten ihn. Sie zitterten, als er ein Bildnis des Häuptlings erstellen wollte.
Hone Heke indessen saß stumm auf seinem Stuhl und ließ sich geduldig malen.
Ganz langsam fiel die Anspannung von Matthew ab. Wenn er den Häuptling gut traf, dann hatte er doch nichts zu befürchten. Während er das Porträt schuf, redete er sich ein, dass der Maori nichts anderes verlangen würde als ein gelungenes Bild. Schließlich war er ein kluger Mann, der unschwer erkennen musste, dass er, Matthew, sich für ein Leben bei den Pakeha entschieden hatte. Dementsprechend gab sich der junge Maori größte Mühe, Hone Heke in strahlendem Licht erscheinen zu lassen. Als er dem Häuptling das Ergebnis schließlich voller Stolz zeigte, sagte der sichtlich zufrieden: »Du bist ein wunderbarer Maler, mein Sohn. Ich werde wiederkommen, damit du mich zusammen mit meiner Frau malen kannst.«
Matthew stand der Stolz über dieses Lob ins Gesicht geschrieben, bis er den Häuptling fordernd fragen hörte: »Bist du wieder dabei, wenn wir den Fahnenmast fällen?«
Matthew zuckte zusammen. Wie sehr hatte er darauf gehofft, dass das Kapitel Hone Heke für ihn ein für alle Mal erledigt wäre, doch der Häuptling fixierte ihn mit einem glühenden Blick voller Kampfgeist. Darin stand zu lesen, dass er niemals von seinem Ziel ablassen würde, das verhasste Symbol der britischen Vorherrschaft endgültig zu vernichten.
Matthew schlug die Augen nieder. Zu groß war die Faszination, die von diesem Mann ausging. Wie einen Sog spürte er die Magie, die Hone Heke auf ihn ausübte, aber er wollte vernünftig sein. Sein Ziehvater hatte ihn eindringlich davor gewarnt, sich an diesem Unsinn zu beteiligen, wie er wortwörtlich sagte. Erstens sei er längst ein Pakeha, und zweitens werde Hone Heke damit einen Krieg heraufbeschwören.
Und das wegen eines Fahnenmastes, durchfuhr es Matthew eiskalt. Nein, das darf nicht geschehen, und ich werde diesen wahnwitzigen Plan nicht unterstützen, dachte er. Doch während er sich krampfhaft die Güte seiner Zieheltern vorzustellen versuchte, kamen ihm immer wieder Bilder von dieser über allem wehenden britischen Fahne. Und er fragte sich, warum nicht die der Maori dort oben wehte. Die Antwort schmerzte: Sie besaßen keine solche Flagge, die ihren Anspruch auf das Land ihrer Väter dokumentieren könnte.
»Bist du dabei, oder hat dich der Anzug zu einem Pakeha gemacht?«, fragte Hone Heke spöttisch.
»Ich bin kein Pakeha«, erwiderte Matthew trotzig.
»Dann können wir also nach wie vor mit deiner Unterstützung rechnen?«, hakte der charismatische Maori nach.
»Ich ... ich weiß nicht, ich ... Und außerdem wimmelt es in Russell nur so von Rotröcken. Das ist gefährlich. Das ist kein Spiel mehr.«
»Das war noch nie ein Spiel«, erwiderte der Häuptling ungerührt. Seine Augen hatten sich zu gefährlichen Schlitzen verengt.
»Ich meine ja nur ... mit denen ... ich meine, mit den Soldaten willst du dich doch nicht etwa anlegen, oder? Sie besitzen Musketen, ihre Schiffe haben Kanonen, und sie werden sich das nicht gefallen lassen ...«, stammelte Matthew.
Hone Hekes Antwort war ein dröhnendes Lachen.
»Die paar Krieger? Vor denen habe ich keine Angst. Im Gegenteil, das spornt mich eher an. Dass sie es nötig haben, ihre Leute zu Hilfe zu holen, beweist doch nur, dass ihnen das Land nicht gehört.«
»Aber das führt unweigerlich zum Krieg«, wandte Matthew zögernd ein.
»Du stammst aus einem Volk von Kriegern!«, erwiderte der Häuptling in scharfem Ton.
»Aber wir leben doch friedlich miteinander«, entgegnete Matthew eifrig, dem seine Worte schon hohl vorkamen, bevor er sie überhaupt ausgesprochen hatte. Trotzdem gibt es keine Gleichheit zwischen uns, schoss es ihm durch den Kopf.
»Tama, was ist geschehen? Du redest wie ein Pakeha, aber du bist einer von uns. Dein Vater war ein stolzer Häuptling und deine Mutter die Tochter eines Häuptlings. Du kannst nicht einfach zu einem Pakeha werden, mag dich die Güte der Carringtons auch noch so beeindrucken. Gib es zu: Die Schuhe drücken dich.«
Matthew wurde rot bis über beide Ohren. Konnte der Mann Gedanken lesen? Er liebte das Barfußlaufen, doch seine Eltern erlaubten es nicht.
»Aber ich glaube an Gott«, erklärte Matthew ausweichend.
»Ich bin auch ein Christ und glaube an das Wort des Herrn, und er sagt mir deutlich, dass es nicht rechtens ist, wenn diese Fahne über uns allen flattert. Wir wollen uns Auge in Auge gegenüberstehen, aber haben die Pakeha den Vertrag von Waitangi wirklich treu eingehalten? Warum lassen sie denn ihre Fahne am höchsten Punkt der Bucht im Wind flattern, wenn wir doch alle Brüder sind? Nein, te tama, es werden immer mehr von ihnen in unser schönes Land kommen. Sie werden uns schließlich verdrängen oder uns mit ihren Krankheiten töten und schließlich gänzlich ausrotten. Verstehst du? Sie betrachten es als ihr Land. Und das will der Herr da oben ganz bestimmt nicht.«
Matthew atmete ein paarmal tief ein und aus. Jedes Wort des stolzen Häuptlings sprach ihm, ob er es wollte oder nicht, tief aus dem Herzen. Und es stimmte nicht, was ihm sein Ziehvater einzureden versuchte. Hone Heke wollte keinen Krieg. Er hatte nichts gegen die Missionare. Im Gegenteil, er kämpfte nur gegen die Ungerechtigkeit, die die Briten in den letzten fünf Jahren über ihr Land gebracht hatten. Sie breiteten sich auf ihre Kosten aus. Und eines Tages würde ihnen das Land der Ahnen ganz gehören.
Matthew traten Tränen in die Augen. Die Worte des Häuptlings hatten ihn bis in sein Innerstes berührt, und er wusste, dass er auf der falschen Seite stand, war er doch selbst der Sohn eines stolzen Häuptlings ...
»Komm morgen Abend zum Flaggenmast!«, sagte Hone Heke im Hinausgehen in strengem Ton und ließ dabei keinen Zweifel aufkommen, dass er einen Befehl und keine Bitte aussprach.
Matthew blieb am ganzen Körper zitternd zurück. In seinem Kopf drehte sich alles. Was sollte er tun? Sein Herz sehnte sich unweigerlich nach dem Berg dort drüben, während sein Kopf ihn mit aller Macht von einer weiteren Dummheit abzuhalten versuchte.
Matthew stöhnte laut auf und versuchte seine Arbeit fortzusetzen, als wäre nichts geschehen, aber in ihm tobte ein Vulkan. Als er die verschmierten und unleserlichen Buchstaben auf dem Papier erblickte, wusste er, dass er nicht mehr Weiterarbeiten konnte. Hier ging es um mehr. Er musste eine Entscheidung treffen!
Ich werde zum Fahnenmast gehen, aber nichts tun, um Hone Hekes Rebellion tatkräftig zu unterstützen, entschied er, nachdem er hin und her überlegt hatte. Dieses Mal werde ich keine Axt zur Hand nehmen.
Entschlossen säuberte Matthew das Handwerkszeug und verließ die Werkstatt. Er würde ohnehin nichts Vernünftiges mehr zustande bringen, sodass er sich besser auf den Heimweg machte.
Da sein Ziehvater wusste, dass die katholische Mission und die Druckwerkstatt immer wieder Materialien austauschten, hätte Matthew dieses Mal einen triftigen Grund, nach Russell hinüberzurudern. Und doch war ihm flau im Magen bei dem Gedanken, seine Zieheltern noch einmal zu hintergehen. Hatte der Herr ihn nicht vor dem Tod bewahrt, damit er fortan ein gottes-fürchtiges Leben führen sollte?
Vor dem Haus kam ihm seine Mutter entgegen. Sie wirkte geradezu ausgelassen und plapperte sofort drauflos. »Ich muss für die Hochzeit noch so viel erledigen. Stell dir vor, ihre Eltern sind damit einverstanden, dass sie in unserer Kirche heiraten, weil Vater sie trauen wird. Kannst du dabei helfen, das Wohnzimmer auszuräumen, damit die vielen Menschen Platz haben? Ja?« Ohne eine Antwort abzuwarten, umarmte sie ihn stürmisch und gab ihm einen Kuss auf die Wange, bevor sie weitereilte.
Die morgige Hochzeit, die hatte er völlig vergessen, aber nun kam sie ihm sogar gelegen. Sie nahm ihm eine Entscheidung ab. Er wollte ja hinüber zum Fahnenmast, aber er konnte nicht. Wie sollte er sich von der Feier fortschleichen? Und überhaupt, durfte er die gute Frau, die ihn, seitdem er auf Leben und Tod daniedergelegen hatte, mit ihrer Liebe geradezu überschüttete, so bitter enttäuschen? Nein, das kann ich nicht, dachte er. Er spürte beinahe so etwas wie Erleichterung, dass ihm die Ereignisse im Hause Carrington aus seinem Zwiespalt geholfen hatten. Hone Heke wird es mir nicht übelnehmen, versuchte er sich zu beruhigen, während er das Haus betrat. Im Flur begegnete ihm seine Schwester, und bei ihrem Anblick meldete sich erneut sein schlechtes Gewissen. Um sie hatte er sich in letzter Zeit so gut wie gar nicht mehr gekümmert. Sie sieht schlecht aus und hat über die Maßen zugenommen, stellte er besorgt fest. Ich sollte ihr wieder mehr Aufmerksamkeit widmen. Später, beschloss er, denn in diesem Augenblick hatte er weder Zeit noch Lust, sich mit Frauenangelegenheiten zu befassen.
»Matthew, ich muss mit dir sprechen. Wollen wir nachher zusammen zur Bucht gehen?«, fragte sie und sah ihn dabei bittend an.
Er musterte sie noch einmal durchdringend von Kopf bis Fuß. Was war nur mit seiner Schwester geschehen? Sie war deutlich dicker geworden. Das missfiel ihm. Er war so stolz darauf, dass Maggy keine dieser ausladenden Maori-Frauen war, sondern ein zartes, einzigartiges Geschöpf von unglaublicher Schönheit. So wie es auch ihre Mutter einst gewesen war.
Er sollte ein ernstes Wort mit ihr reden, aber er konnte sich gerade nicht so recht dazu überwinden, heute Abend mit ihr spazieren zu gehen. Dazu war er noch viel zu aufgewühlt. Und außerdem musste er den Auftrag seiner Mutter erledigen.
»Tut mir leid, Kleines, ich muss helfen, die Möbel zur Seite zu räumen, weil das Haus doch morgen für die Feier gebraucht wird«, entgegnete er und nahm sie zum Trost in die Arme. Er stutzte, als er dicke Tränen über ihre Wangen rinnen sah. Rasch versprach er ihr, sich morgen während der Feier für ein Stündchen mit ihr zur Bucht fortzuschleichen.
»Dann habe ich Zeit, meine Kleine, und dann gehen wir, so weit uns die Füße tragen, und du erzählst mir von deinem Kummer.« Er hielt inne und betrachtete sie noch einmal von oben bis unten.
»Ich glaube, du solltest wirklich weniger essen«, bemerkte er streng.
Maggy aber drehte sich auf dem Absatz um und rannte schluchzend davon.
Matthew blieb ratlos zurück. Morgen, entschied er, morgen werde ich mich ganz bestimmt um meine kleine Schwester kümmern.