Mount Parahaki/Whangarei, Februar 1920
Vivian wusste beim Aufwachen zunächst nicht, wo sie war, doch dann erinnerte sie sich dunkel an den Eklat im Hotelrestaurant, ihre überstürzte Flucht und ihr gestriges Gespräch mit Matui Hone Heke.
Sie fuhr hoch, rieb sich die Augen und wunderte sich, wie gut sie auf der Flachsmatte geschlafen hatte. Ein wärmender Sonnenstrahl fiel durch das Küchenfenster. Was für ein schöner Tag, dachte Vivian und lief auf bloßen Füßen und im Unterkleid auf die Veranda hinaus. Dort atmete sie die frische Morgenluft ein und wurde überschwänglich von dem Hund begrüßt, der ihr am Tag zuvor einen solchen Schrecken eingejagt hatte. Sie strich ihm ein paarmal über sein struppiges Fell.
Die alte Maori-Frau trat neugierig zu ihr auf die Veranda und sprach sie in dieser merkwürdigen fremden Sprache an. Vivian hob lächelnd die Schultern.
»Sie fragt, ob du eine Verwandte bist«, mischte sich Matui ein und erklärte der alten Maori lächelnd. »Tamahine!«
Die Frau legte den Kopf schief und hakte auf Englisch nach: »Sie deine Tochter? Nein. Du viel zu alt Vater sein.«
Vivian drehte sich lachend zu Matui um. »Guten Morgen, Matui. Oder soll ich lieber Vater sagen?«
Die alte Maori blickte irritiert zwischen Matui und Vivian hin und her.
»Sie ist meine tamahine«, bekräftigte er, während er in ihr Lachen einstimmte.
»Gut, gut!«, murmelte die Frau und verschwand.
»Was heißt tamahine denn nun eigentlich wirklich?«, fragte Vivian neugierig. »Es wird wohl kaum Tochter heißen.«
»Doch, Tochter, Nichte, Cousine, Enkelin, alles, was einem alten Mann, wie ich einer bin, am Herzen liegt.«
»Wollen Sie damit andeuten, dass ich wirklich mit Ihnen verwandt bin?«
»Wir werden sehen«, entgegnete er geheimnisvoll, bevor er auf den Mann deutete, der gerade schnellen Schrittes und mit gesenktem Kopf auf das Haus zueilte. »Dein Bruder. Wir können beginnen. Ich bereite mich im Haus vor.«
Vivian lag auf der Zunge zu sagen: Er ist nicht mein Bruder. Aber sie konnte sich gerade noch beherrschen.
»Was willst du hier?«, fuhr sie Fred an, nicht ohne sich vorher davon überzeugt zu haben, dass Matui die Veranda verlassen hatte.
»Ich habe keine andere Wahl«, erwiderte er sichtlich zerknirscht. Überhaupt sah er schrecklich übernächtigt aus. Als habe er die ganze Nacht wach gelegen.
Ehe ihn Vivian noch darauf ansprechen konnte, tauchte plötzlich Isabel vor Matuis Haus auf. Der Schreck, der Vivian durch alle Glieder fuhr, schien auf Gegenseitigkeit zu beruhen. Auch Isabel blickte sie verstört an. »Was hat die denn hier verloren?«, fragte sie unfreundlich.
»Dasselbe wollte ich Sie auch gerade fragen«, entgegnete Vivian spitz.
»Ich habe meinen Verlobten ein Stück begleitet, und Sie? Was suchen Sie in diesem halbnackten Aufzug hier oben? Und was war das gestern für ein lächerlicher Abgang? Sie sind wirklich noch ein Kindskopf.« Isabel musterte Vivian abschätzig von oben bis unten.
Oje, ich bin ja noch im Unterrock!, fiel es Vivian plötzlich siedend heiß ein. Während sie nach einer plausiblen Erklärung für ihre Aufmachung suchte, zischte Isabel Fred zu: »Du hast gesagt, dass ich nicht mit zu dem alten Maori darf, weil er nur mit dir redet, aber Vivian nimmst du mit! Oder besser gesagt - sie war schon vor dir hier. Im Hemd, wie ich sehe. Wie darf ich das verstehen?«
»Isabel, lass es dir doch erklären. Vivian hat Matui auf eigene Faust besucht. Ich wusste nicht, dass sie hier oben ist. Ich bin ebenso überrascht wie du«, versuchte er sie zu beruhigen, bevor er matt hinzufügte: »Bitte, fang nicht schon wieder mit dem Streit an. Wir haben uns doch gerade erst wieder vertragen. Bitte!«
Vivian wandte sich angewidert ab. Wie er vor seiner Verlobten katzbuckelte, missfiel ihr außerordentlich. Ohne die beiden auch nur noch eines einzigen Blickes zu würdigen, eilte sie ins Haus. Rasch raffte sie ihre Kleidung zusammen und zog sich an. Aus dem Nebenzimmer hörte sie Matui leise singen. Er bringt sich in Stimmung, dachte sie. Aber durfte sie ihn wirklich ins offene Messer laufen lassen? Es war wohl keine Frage, dass Isabel und ihr Vater Fred genötigt hatten, an dem Fall des alten Maori dranzubleiben. Und dass er sich hatte breitschlagen lassen, Matui auszuhorchen, um daraus eine Geschichte für die Zeitung zu machen.
Na warte, dachte Vivian, fuhr sich fahrig durch das zerzauste Haar und trat zurück auf die Veranda. Sie wollte Fred auf den Kopf Zusagen, dass er den alten Maori in Ruhe lassen solle. Doch in der Tür blieb sie wie erstarrt stehen. Isabel und Fred waren gerade dabei, sich inniglich zu umarmen. Vivian hätte den Kopf gern abgewandt, aber es gelang ihr nicht. Obwohl sich ihr beim Anblick der Szene, die sich ihr dort bot, der Magen schier umdrehte, sah sie wie betäubt zu, wie die beiden sich küssten.
Wie konnte ich nur so dumm sein, auch nur eine Sekunde lang zu glauben, dass ihm unser Kuss wirklich etwas bedeuten könnte?, ging es ihr durch den Kopf. Wahrscheinlich wollte er einfach nur einmal ein exotisch aussehendes Mädchen küssen. Trotzdem wurde ihr das Herz schwer bei dem Gedanken, wie gleichgültig sie Frederik offenbar war. Da traf sich ihr Blick mit dem von Isabel, die sich gerade aus Freds Umarmung gelöst hatte. In ihren Augen war Triumph zu lesen, den sie genüsslich auskostete.
»Liebling, arbeite du nur schön«, säuselte sie und sah ihren Frederik verliebt an. »Vater wird stolz auf dich sein, wenn du ihm eine spannende Geschichte lieferst. Und denk daran, heute Abend will er mit uns die Hochzeit besprechen. Ach, es war so lieb, wie du gestern bei ihm um meine Hand angehalten hast!«
Vivian wurde noch übler bei den süßlichen Worten, die offensichtlich vor allem für ihre Ohren bestimmt waren. Auf Isabels Initiative küssten sie sich noch einmal, bevor die blond gelockte Schönheit von ihrem Verlobten abließ und ging. Doch sie wandte sich noch einmal um und warf ihm eine Kusshand zu.
Als Fred auf die Veranda trat, musterte Vivian ihn spöttisch. »Na, bist du jetzt der Schoßhund der Morrisons? Und hat der Alte dir was Schönes versprochen, wenn du eine heiße Geschichte ausgräbst? Seine Tochter, eine Beförderung ...?«
»Bitte, hör auf damit!«, bat Fred sie gequält.
»Du kannst mir doch nicht weismachen, dass du auf den Artikel verzichten wirst, nachdem dir dein Schwiegervater und seine Tochter im Nacken sitzen. Du küsst ihnen doch die Füße.«
»Vivian, bitte! Ja, ich werde ihm etwas liefern, ja, ich muss ihm etwas liefern, aber bestimmt nicht das, was Matui uns anvertraut. Ich habe geschworen, seine Lebensgeschichte nicht zu verwenden, und daran halte ich mich.«
»Und was willst du denen stattdessen zum Fraß vorwerfen?«
»Das lass mal meine Sorge sein, und was Isabels lautstarke Verkündung meines Heiratsantrags angeht...«
»Das interessiert mich nicht. Du bist mein Bruder. Mehr nicht. Schon vergessen?«
Fred blickte sie flehend an. »Du weißt, dass das nicht wahr ist, und deshalb wirst du mir jetzt zuhören. Mein Boss hat mir gestern Abend die Beförderung zum leitenden Redakteur angeboten ...«
»Herzlichen Glückwunsch!«
»Du brauchst gar nicht so hämisch zu tun. Jedenfalls hat er dann das Glas auf seinen zukünftigen Schwiegersohn erhoben. Ich habe aber gar nicht ausdrücklich um Isabels Hand angehalten, weil ich gar nicht mehr sicher ...«
»... wir leben nicht im neunzehnten Jahrhundert, als man den Vater der Braut fragen musste. Ihr seid doch aufgeklärte Zeitungsmenschen. Isabel wird ihm schon gesagt haben, dass ihr euch einig seid.«
»Vivian, bitte! Es hat sich etwas geändert, seit du in mein Leben getreten bist, aber du bist gestern auch mit diesem Ben ausgegangen. Was soll ich von alledem halten ? Weiß ich, ob du so zuverlässig bist wie Isabel? Bitte, sag mir, was ich hätte tun sollen!«
Sie blickte ihm tief in die Augen. Ihr Gesicht war vor Zorn gerötet. »Du hättest nur widersprechen und es richtigstellen müssen. Dass ihr nicht verlobt seid und dass du auch nicht bereit bist, diesen Schritt zu tun ...«
»Aber versteh doch: Er koppelt die Heirat an meine Beförderung ...«
»...die hättest du ja nicht annehmen müssen!«, fauchte Vivian.
»Streitet ihr euch etwa?«, fragte Matui neugierig, der sich wie immer auf leisen Sohlen angeschlichen hatte.
»Nein, wie kommst du denn darauf?«, entgegnete Vivian zuckersüß und fügte ungeduldig hinzu: »Wollen wir beginnen?«
Ohne eine Antwort abzuwarten, verschwand Vivian im Innern des Hauses.
»Ihr benehmt euch nicht wie Geschwister, sondern wie ein Liebespaar«, bemerkte Matui hintersinnig.
»Blödsinn!«, schnaubte Fred, bevor er ebenfalls ins Haus stürmte.
Matui lächelte wissend in sich hinein, als er den beiden gemächlich folgte.