Maiki Hill, Kororareka (Russell), Mai 1844
Matthew hatte noch eine ganze Weile wie erstarrt dagestanden und sich nicht vom Fleck gerührt, bevor er der Stimme seines Vaters gefolgt war und sich eilig zum Gipfel des Maiki begeben hatte.
Nun stand er seit geraumer Zeit halb verborgen hinter einem Kauribaum und beobachtete fasziniert die Zeremonie der Krieger. Sie tanzten, stampften mit den Füßen auf den Boden, sangen und zogen Grimassen. In Matthew stiegen dunkle Erinnerungen an seine Kindheit auf. Wie oft hatten die Männer seines Dorfes den Haka getanzt. Er entsann sich besonders an das eine Mal. An den Tag, an dem der feindliche Stamm das Dorf umzingelt hatte. Wie stolz hatte sein Vater die Krieger darauf eingeschworen, sich bis zum letzten Blutstropfen zu verteidigen, doch dann war alles ganz schnell gegangen, denn die Feinde waren im Besitz von Musketen gewesen. Sie hatten ein leichtes Spiel gehabt ...
»Tama«, donnerte eine dunkle, kräftige Stimme durch die mondklare Nacht zu ihm herüber. Matthew hätte sie unter Hunderten wiedererkannt. Sie gehörte Hone Heke. Der Junge erschrak und zog sich rasch hinter den Baum zurück, doch da umzingelten ihn bereits Waaka und Tiaki, die beiden Maori, mit denen er sich verabredet hatte. Zitternd verließ Matthew seine Deckung und folgte ihnen. Sie brachten ihn geradewegs zum Häuptling, der inmitten seiner Krieger stand und sie fast alle überragte. Er trug als Einziger einen Federmantel, während seine Männer einheitlich ihren Kilt aus Flachs anhatten. Matthew kam sich in seinem Sonntagsanzug völlig deplatziert vor. Hone Heke musterte ihn durchdringend, aber freundlich.
»Hier ist deine Familie«, sagte der Häuptling schmeichelnd, und er wiederholte: » Tama.«
»Aber ... aber mein Stamm ist ausgerottet«, widersprach Matthew schwach.
»Keiner kann unsere Stämme je ausrotten, und meine Frau Hariata ist mit deinen Ahnen verwandt. Also gehörst du zu uns und nicht zu den Missionaren, die Lügen über mich verbreiten«, erwiderte der Häuptling in bestem Englisch.
Matthew schluckte trocken. Es hatte ihn unweigerlich hergezogen, aber nun wurde ihm zunehmend mulmig zumute. War es nicht doch Hass, der aus diesem stolzen Mann sprach? Auch wenn es immer hieß, Hone Heke sei den Missionaren zugetan und wirke unter den Maori wie ein Missionar für den christlichen Glauben?
»Aber man erzählt sich doch überall, du seist selbst ein Christ«, hörte sich Matthew da bereits sagen. Kaum hatte er diese Worte ausgesprochen, erschrak er, weil er sich so mit dem Häuptling zu reden traute. Schließlich war bekannt, dass der große Hone Heke keine Widerworte duldete. In dem Punkt ist er genau wie mein Ziehvater, schoss es Matthew flüchtig durch den Kopf.
Hone Heke musterte ihn spöttisch, bevor er in dröhnendes Gelächter ausbrach.
»Wie heißt du, mein Sohn?«, fragte er glucksend.
»Matthew«, entgegnete dieser verwirrt.
Wieder lachte der Maori-Häuptling aus voller Kehle. »Hört, hört! Er heißt Matthew. Wer von euch hat schon einmal von einem Maori mit dem Namen Matthew gehört?«
Einige der Männer lachten wissend mit, während die anderen, die der englischen Sprache nicht mächtig waren, nur mit einstimmten, weil ihr Häuptling es ihnen vormachte.
Matthew lief rot an. Das war selbst bei seiner dunklen Haut noch zu erkennen.
»Mein richtiger Name ist Matui.«
Hone Heke wurde auf einen Schlag wieder ernst. »Matui ist ein stolzer Name.«
Matthew straffte die Schultern. »Mein Vater war Häuptling der Wakatui.«
»Umso mehr trägst du die Verantwortung, zu deinem Volk zu stehen, Matui.«
Nun konnte Matthew sich nicht länger beherrschen, jene Frage zu stellen, die ihm auf der Zunge brannte, seit er das Kriegsgeschrei gehört hatte.
»Seid ihr hier oben, um den Fahnenmast noch einmal zu zerstören? Das ist Unrecht. Erweist den hereinkommenden Schiffen den Weg. Und sonst gar nichts.«
»Du irrst, mein Sohn, die Fahne der Briten auf diesem Berg ist ein Zeichen ihrer Vorherrschaft. Im Vertrag von Waitangi, den ich reinen Herzens mit unterzeichnet habe, war vorgesehen, dass die Pakeha und wir auf Augenhöhe Zusammenleben. Aber was haben sie getan, kaum dass die Tinte trocken war? Sich unser Volk untertan gemacht. Sie nehmen unser Land in Besitz. Dabei haben sie ein großes Land, das ihnen gehört. Und wo wird einst unser Land sein, wenn sie es Stück für Stück an sich reißen? Sie haben einfach ihre Hauptstadt von hier nach Auckland verlegt, ihr Geld fließt nicht mehr in diese Region, sie haben uns verboten, Kauribäume zu fällen. Meine Leute können immer weniger Handel treiben und werden arm und ärmer, während sich die Pakeha große Häuser bauen. Das ist nicht mehr auf Augenhöhe, mein Sohn. Oder hast du schon einmal erlebt, dass eine Pakeha für uns Maori arbeitet? Aber unsere Mädchen, die stehen in den Diensten der Pakeha oder schlimmer noch - sie verkaufen sich an den weißen Abschaum in Kororareka. Und um zu zeigen, dass wir nicht gewillt sind, länger tatenlos zuzusehen, wie wir zu Sklaven der Pakeha werden, muss ich den Mast zum zweiten Mal fällen. Damit treffe ich sie empfindlich, und nichts anderes ist mein Ziel. Kainga te kiko, whaiho te whenua ki tangata nona.«
Matthew war bei Hone Hekes beschwörenden Worten abwechselnd heiß und kalt geworden. Was hatte er zuletzt gesagt? Wenn man dir erlaubt, auf dem Land anderer zu leben, dann nutz es nach Kräften, aber lass das Land selbst stets seinen wahren Eigentümern. Der Häuptling sprach ihm im Grunde genommen aus dem Herzen. Warum zum Beispiel war ihr Dienstmädchen Ripeka keine Pakeha, sondern eine Maori? Wie oft hatte er ähnlich gedacht. Seinen Unmut allerdings an dem Fahnenmast auszulassen, auf den Gedanken wäre er niemals gekommen. Zumal sein Ziehvater Hone Hekes Tat strengstens als kriegerische Handlung verurteilt hatte. Langsam aber leuchtete Matthew die Notwendigkeit ein, dem Unmut der Maori sichtbaren Ausdruck zu verleihen. Und was war dazu besser geeignet als der Fahnenmast? Die englische Fahne, die über allem wehte, war ein Symbol für die Unterdrückung der Maori.
»Bist du dabei, wenn wir den Mast nun fällen?«, fragte Hone Heke.
Matthews Wangen glühten vor Begeisterung, als er auch schon nach einer Axt verlangte. »Ich möchte den ersten Hieb tun!«, rief er euphorisch.
Hone Heke lächelte siegessicher. »Du bist ein guter Krieger, Matui.«
Der Häuptling ließ den Blick prüfend über seine Männer schweifen. »Wer gibt dem jungen Krieger seinen Kilt, damit er den ersten Axthieb in würdevoller Kleidung ausführen kann?«
Im Nu war Hone Heke von Männern umringt, die ihren Kilt auszogen, um ihn dem Jungen zu borgen. Matthew sah verlegen zur Seite, denn die Männer standen nun zum Teil völlig entblößt vor ihm. Unter dem Kilt waren sie nackt. Die meisten besaßen auch Tätowierungen am Körper.
Schließlich reichte der Häuptling Matthew den Kilt eines jungen Kriegers. Matthew zögerte, seinen Sonntagsanzug abzulegen, doch als Hone Heke ihm aufmunternd zunickte, zog er sich langsam aus. Beim Unterzeug angekommen, hielt er erneut inne. Er musste an seine Ziehmutter denken, der es immer ungemein wichtig war, dass er auch wirklich seine Unterhose trug. Ob er die auch ausziehen musste? Mittlerweile waren aller Augen auf ihn gerichtet, und das machte ihn zusätzlich verlegen. Er hatte Hemmungen, sich vollständig zu entblößen, sondern griff sich den Kilt und zog ihn rasch über die Unterhose. Täuschte er sich, oder feixten einige der Umstehenden auf seine Kosten? Matthew rang sich zu einem Lächeln durch. Schließlich konnten sie nicht erwarten, dass er sich von einem Augenblick zum nächsten in einen waschechten Maori verwandelte.
Kämpferisch richtete er sich vor dem Häuptling auf und verlangte erneut nach der Axt. Mit klopfendem Herzen griff er nach der Waffe und näherte sich dem Fahnenmast, an dessen Spitze noch die Fahne stolz im Wind flatterte. Hinter ihm ertönte nun wieder der kämpferische Gesang der jungen Krieger. Als er sich umsah, hatten sich die Männer zu einem Haka aufgestellt und wirbelten ihre geschnitzten Stöcke wie zum Kampf durch die Luft. Matthew verstand jedes Wort. Ka mate, ich werde sterben, ka ora, ich werde leben. Whiti te ra hi, die Sonne scheint. Aber dann ließ er sich nur noch von dem Rhythmus führen. Er begann fest mit den Füßen auf den Boden zu stampfen. Erst zaghaft und dann immer fester.
Wie in Trance tanzte Matthew schließlich vor dem Fahnenmast hin und her, bis er ausholte und mit voller Kraft in das Holz hieb.
»Matui, ka mate!«, feuerte der Häuptling seine Männer an, bis sein Name aus allen Kehlen zu Matthew herüberschallte. »Matui! Matui!« Niemals zuvor war er so stolz gewesen wie in diesem Augenblick. Er hatte das Gefühl, von den Kriegern getragen zu werden. Er wandte sich zu ihnen um und reckte die Hand mit der Axt triumphierend zum Himmel empor. Wieder riefen sie seinen Namen. Dann schritt Hone Heke majestätisch auf ihn zu, kam mit seinem Gesicht ganz nahe an seines heran und rieb seine Nase an der des jungen Mannes. Matthew war ein wenig erschrocken. Zwar konnte er sich dunkel daran erinnern, dass sich die Erwachsenen in seinem Dorf auf diese Weise begrüßt hatten, doch nach so langer Zeit war es eher eine befremdliche Geste der Zuneigung. Er aber konnte seine Unsicherheit verbergen und tat so, als wäre das für ihn das Selbstverständlichste der Welt, dass ein Fremder die Nase gegen seine rieb. Trotzdem war er erleichtert, als die Prozedur beendet war.
Nun trat eine Hand voll Krieger mit Äxten bewaffnet an den Fahnenmast heran und schlug auf das Holz ein, bis sich der Stamm ächzend zur Seite neigte und laut knirschend zu Boden stürzte. Die Maori begrüßten den Fall des Fahnenmastes mit lautem Triumphgeheul. Schließlich trat Hone Heke auf die Fahne zu und zündete sie an. Wieder ertönte zustimmendes Gebrüll. Als auch der Mast Feuer fing und eine kleine Rauchsäule gen Himmel stieg, fingen die Männer erneut zu tanzen und zu singen an.
Matthew beobachtete das Treiben wie im Rausch.
»Kommst du mit uns nach Kaikohe?«, hörte er Hone Heke wie von ferne fragen.
Matthew zuckte zusammen. Obwohl ihn die Ereignisse des heutigen Abends faszinierten, durfte er sich doch nicht einfach aus dem Staub machen. Selbst wenn er keine Rücksicht auf seine Zieheltern nahm, war da immer noch seine Schwester.
Er senkte den Kopf und starrte seine nackten Füße an. »Ich kann nicht mit euch ziehen, ich muss nach Hause«, raunte er beinahe beschämt.
»Dein Zuhause ist in Kaikohe. Deine Ahnen wurden vor vielen Jahren von dort vertrieben. Opanga war ein friedliches Dorf, aber Feinde der Nga Puhi überfielen es, und die wenigen Überlebenden flohen in die umliegenden Haine. Das waren deine Vorfahren. Ein paar Jahre darauf rächten sie sich und raubten aus dem Dorf ihrer einstigen Angreifer die schönsten Frauen. Dafür löschten die Feinde dann später das Dorf deiner Eltern aus, aber nun herrscht zwischen unseren Stämmen Frieden, und du gehörst zu uns. Wir brauchen jeden Krieger.« Das war keine Bitte, sondern ein Befehl.
Matthew aber nahm all seinen Mut zusammen und blickte dem Häuptling offen ins Gesicht. »Ich kann nicht, Hone Heke, denn der Reverend rettete mir einst das Leben, als mich unsere Feinde im Fluss ertränken wollten ...«
»Mein Sohn, die Zeiten haben sich geändert. Wir müssen gegen sie kämpfen, um zu überleben.«
»Sicher, ich verstehe das auch«, entgegnete Matthew gequält. »Aber es gibt noch einen anderen Grund, warum ich unbedingt zurück nach Paihia muss.«
»Nenn ihn mir!«, zischte der Häuptling.
Matthew atmete tief durch. »Ich habe eine kleine Schwester, die ich auf keinen Fall alleinlassen kann.«
Hone Hekes strenger Blick wurde sichtbar weicher. »Nein, deine Schwester darfst du in der Tat nicht allein bei den Pakeha zurücklassen, aber ich hoffe, dass du eines Tages mit ihr nach Kaikohe kommst.«
»Das werde ich gewiss tun«, versprach Matthew erleichtert.
»Aber auch wenn du nicht mit uns ziehst, wirst du wenigstens unseren Kampf unterstützen?«
»Ja, natürlich, und wie. Wenn ihr mich braucht, bitte schicke Waaka und Tiaki. Ich werde einen Weg finden, mich fortzustehlen.«
»Hier, er gehört dir!« Hone Heke drückte Matthew einen der hölzernen Stöcke in die Hand. »Das ist dein Taiaha, mein Sohn. Gib gut darauf acht. Eines Tages wirst du damit kämpfen.« Dann zog der Häuptling seinen Umhang aus, auf dem ein grün-rotes Zickzackmuster prangte, und reichte ihn Matui mit einer feierlichen Geste. »Zum Zeichen, dass du mein Sohn bist«, fügte Hone Heke in reinem Englisch hinzu.
Gerührt nahm Matthew die Geschenke des Häuptlings entgegen, doch ehe er sich bei ihm bedanken konnte, waren er und seine Krieger lautlos zu ihren Kanus geeilt. Nur Matthew war zurückgeblieben. Mutterseelenallein! Doch der Gedanke, der einzige Kämpfer am Fahnenmast zu sein, ängstigte ihn nicht. Im Gegenteil, er empfand Stolz, dass er dabei gewesen war, und konnte sich kaum vom Anblick des gefallenen Mastes lösen. Er begann mit den Füßen aufcustampfen und brüllte, so laut er konnte: »Ka mate, ka ora, ka mate, ka ora!«
Als er sich schließlich ausgetobt hatte, suchte er seine Kleidung zusammen, doch tief in ihm sträubte sich etwas dagegen, in seinen Sonntagsanzug zu schlüpfen. Er hüllte sich in Hone Hekes Mantel, nahm seine alte Kleidung unter den Arm und machte sich in dem Kilt und dem Umhang aus Flachs auf den Rückweg.
Selbst als er den Weg durch den Busch ging, wurde ihm nicht bang. Er fühlte sich unsterblich. Lediglich seine bloßen Füße schmerzten ein wenig. Seit er im Haus der Missionare lebte, hatte er nie wieder barfuß laufen dürfen. Nun war er es nicht mehr gewohnt, ohne Schuhe über Stock und Stein zu gehen, doch er biss die Zähne zusammen. Ich besitze die Füße der Maori, sie müssen es nur wieder lernen, dachte er voller Stolz.
Sein Wohlbefinden änderte sich allerdings schlagartig, als er nach Kororareka kam. Einmal abgesehen davon, dass ihm der Lärm beinahe schmerzhaft in den Ohren dröhnte, blieben die Pakeha auf der Straße stehen und gafften ihn an. Ja, einige zeigten sogar mit dem Finger auf ihn, andere lachten, wieder andere verhöhnten ihn lautstark. Dass er in seiner kriegerischen Aufmachung auffallen könnte, daran hatte er nicht gedacht. Nun war es zu spät, sich auf die Schnelle in den Sohn des Missionars zurückzuverwandeln. Da half nur eines: gesenkten Hauptes zum Steg zu eilen. Zu allem Überfluss stellte sich ihm nun auch noch jener Bruder der katholischen Mission in den Weg, der ihn vorhin bereits aufgehalten hatte. Bruder Jean, ein unangenehmer hagerer Kerl mit einer Hakennase. Matthew konnte ihn nicht leiden, aber nicht etwa deshalb, weil er bei der Pompallier-Mission arbeitete, sondern weil er ein übles Schandmaul war.
»Biest du unter die Krieger gegangen?«, fragte Bruder Jean scharf, während er mit seinen langen Fingern auf den Kilt deutete. »Geörst du zu ihnen? Warst du etwa dabei, als sie den Mast gefällt aben ? Das at sisch bereits überall erumgesprochen. One Ekes Leute aben selbst damit geprahlt. Isch meine, isch würde dort oben na-türlisch lieber die französische Fahne flattern sehen, aber was wierd dein frommer Vater dazu sagen? Er ist doch ein Briete, wie er im Buche steht.«
Matthew holte tief Luft, bevor er wütend fauchte: »Aus dem Weg!«
»Du kleine Ratte ast mir gar nischts zu befehlen.«
Und ehe sich Matthew versah, waren sie von schaulustigem Gesindel umringt.
»Er gehört zu One Ekes Leuten«, verkündete Jean mit lauter Stimme.
»Blödsinn, das ist Walter Carringtons Sohn. Lass ihn durch, Bruder!«, mischte sich unüberhörbar Jack ein, der bullige Besitzer des Kolonialwarenladens aus Paihia.
Matthew fiel ein Stein vom Herzen, als Bruder Jean vor dem riesigen Kerl zurückwich.
»Komm, Junge!«, befahl Jack und zog Matthew mit sich. Erst als sie bei den Booten angekommen waren, baute sich der Hüne vor ihm auf.
»So, mein Lieber, jetzt mal raus mit der Wahrheit! Wo warst du? Was machst du hier, und vor allem in diesem lächerlichen Aufzug? Wenn du so zu den Mädchen gegangen bist, fresse ich einen Besen. Also, was treibt ein Kind wie dich in den Höllenschlund?«
Jetzt roch Matthew, dass der alte Jack wie ein ganzes Whiskyfass stank.
»Ich bin kein Kind mehr, ich bin siebzehn Jahre alt!«, widersprach er heftig.
Jack legte den Kopf schief und grinste. »Und wenn du zwanzig wärst, für mich bist du ein Greenhorn, vor allem in diesem lächerlichen Rock. Schämst du dich gar nicht, Matthew Carrington?«, lallte er.
»Nein, ich bin einer von ihnen, und außerdem heiße ich Matui«, erwiderte Matthew trotzig.
Jack war das Grinsen vergangen. »Werd nicht frech, Bürschchen ! Wenn du weiter solchen Unsinn redest, verfrachte ich dich in mein Boot und zerre dich an den Haaren zum Reverend. Das hat er nun davon, dass er euch schwarze Teufel in sein Haus genommen hat.« Plötzlich sprach er klar und deutlich. Und ehe sich Matthew versah, hatte Jack ihn bei den Ohren gepackt und drehte ihm den Kopf in Richtung des Maiki. Matthew schrie vor Schmerz auf.
»Siehst du es da oben? Sie haben zum zweiten Mal den Fahnenmast gefällt und die Fahne in Brand gesteckt. Das ist kein Spaß, das bedeutet Krieg, und du solltest dir wohl überlegen, auf welcher Seite du stehst. Willst du wirklich zu denen gehören? Es weiß doch hier jeder, dass dich die schwarzen Teufel im Fluss ertränken wollten. Und wem hast du dein Leben zu verdanken?« Jack ließ Matthews Ohren los und befahl: »Sieh mich an, wenn ich mit dir rede!«
Matthew standen Tränen in den Augen, als er sich dem Kolonialwarenhändler zuwandte. Der hob die Hand, sodass Matthew sich vor lauter Angst duckte, aber dann spürte, wie Jack ihm mit seiner Hand lediglich das Haar zerzauste.
»Ich mag dich doch, mein Junge. Und deshalb wird das hier auch unser Geheimnis bleiben. Aber lass dir einen guten Rat geben. Zieh dich um, bevor du nach Paihia zurückruderst. Wenn dein Vater dich so sieht, dann gnade dir Gott.«
Jack klopfte Matthew zum Abschied kumpelhaft auf die Schulter und wankte wie ein Schiff bei Seegang auf den Steg zu. Dort kletterte er leichtfüßig in sein Boot, als wäre er ganz und gar nicht betrunken.
Mit klopfendem Herzen lauschte Matthew den Ruderschlägen. Er atmete tief durch und überlegte, was er tun sollte. Die ungeheure Kraft, die er zuvor gespürt hatte, war wie weggeblasen. Wo er sich eben noch unbesiegbar gefühlt hatte, nagten nun Zweifel an ihm. Hatte Jack nicht recht? Waren die Pakeha nicht die einzigen Menschen, die ihm wirklich Gutes getan hatten? War er nicht undankbar, wenn er sich gegen sie stellte? Konnte das hier wirklich den Beginn eines Krieges bedeuten? Plötzlich fror er. Nun spürte er die Kälte von den nackten Füßen den gesamten Körper heraufkriechen. Zitternd suchte er einen Baum auf, der am Ufer stand, und versteckte sich dahinter. Hastig zog er seine warmen Sachen an, doch das nutzte nichts. Er fror so sehr, dass ihm die Zähne unkontrolliert aufeinanderschlugen.
Der Rückweg wurde ihm zur Qual, fühlte er sich doch zu schwach zum Rudern. Er kam kaum voran, denn der Wind hatte wieder aufgefrischt und die Richtung gewechselt. Nun wehte er von vorn. Paihia wollte und wollte nicht näher kommen. Matthew wandte sich um und stellte enttäuscht fest, dass er noch nicht viel weiter als bis zur Mitte der Bucht gekommen war. Wenigstens fror er nicht mehr, doch dafür taten ihm die Arme weh, und ihm war übel. Wie er sich nach seinem warmen Bett sehnte! Matthew rang nach Luft und verlangte sich seine letzten Kräfte ab. Völlig außer Atem erreichte er schließlich den Hafen. Er rannte den Weg nach Hause, und als er auf Zehenspitzen über die Türschwelle trat, betete er, dass keiner das Knarren der Dielen hörte.
Er hatte Glück. Es blieb alles still, obwohl die Treppe unter jedem seiner Schritte knarzende Geräusche machte. Bevor er todmüde in sein Bett fiel, versteckte er den Taiaha und den Kilt noch unter seinem Bett. Dann schlief er erschöpft ein und träumte von kriegerischen Tänzen im Feuerschein, und er, Matui, war einer der wildesten Tänzer. Ja, er tanzte am ausgelassensten und sang am lautesten von allen. Bis ein Mensch in Teufelsgestalt ihn an den Haaren fortzerrte. Er sah aber nur aus wie der Teufel. Matthew wusste, wer sich hinter dieser Maske verbarg: sein Ziehvater, der mit unheimlicher Stimme forderte, dass er, Matui, Hone Heke abschwören solle.
Nun fiel seine Frau Emily in die Beschwörungen mit ein, doch ihre Worte verstummten, als Hone Heke mit einer Muskete auf sie anlegte.