I

Granada

Gott segne sie, die schöne Zeit, verlebt in der Alhambra.

Verging die Nacht, so gingst du hin, zum Stelldichein bereit.

Der Boden schien dir dann von Silber, doch wie bald schon hüllte

die Morgensonne die Sabika in ihr goldnes Kleid.

Ibn Malik

Zwillinge, so lehrte der große Ibn Sina, sind von Geburt an weniger lebensfähig. Einige seiner Kommentatoren fügten hinzu, Zwillinge seien außerdem dazu bestimmt, Unglück nicht nur für sich, sondern auch für ihre gesamte Umgebung heraufzubeschwören. Für die Zwillinge, die in der roten Burg Granadas, al qual’a alhamra, zur Welt kamen, hatte das Unglück schon lange vorher begonnen: an dem Tag, als Abul Hassan Ali, der Herrscher von Granada, zum ersten Mal Isabel de Solis sah.

Der oberste Eunuch hatte einige neue Sklavinnen für den Harem seines Herrn erworben. Das war in diesen schwierigen Zeiten zwar nicht alltäglich, besonders, da der Harem nicht übermäßig groß war und Ali an seiner Gemahlin, Alscha al Hurra, hing, aber es war auch nicht so ungewöhnlich. Ungewöhnlich war nur eines. Abul Hassan Ali sah Isabel de Solis und verliebte sich in sie.

Er gab ihr eigene Räume und eine eigene Dienerschaft und überhäufte sie mit Geschenken. Nicht länger besuchte er die anderen Konkubinen seines Harems, und nicht länger teilte er das Bett mit seiner Gemahlin Alscha al Hurra. Die neue Leidenschaft des Fürsten versetzte die Alhambra in Aufregung, sorgte für Wogen des Klatsches, die sogar in die christlichen Königreiche überschwappten. Aber immer noch nahm man an, es handle sich um ein zwar erstaunliches, aber kurzlebiges Phänomen, wie eine Sternschnuppe.

Doch Alscha war erbittert und zornig. Sie war keine Konkubine, die man beiseite schieben konnte, wenn einem die Laune danach stand. Sie war die rechtmäßige Gattin des Herrschers von Granada, die Tochter eines seiner Vorgänger auf dem Thron, die Mutter seines Erben, in ihren Adern floss das Blut des Propheten, und sie würde nicht zulassen, dass eine christliche Sklavin so viel Zeit und Aufmerksamkeit ihres Gemahls in Anspruch nahm. Sie begann, Isabel bei jeder Begegnung zu schikanieren und zu demütigen.

Isabel verbeugte sich, wie Alscha es verlangte, fiel auf die Knie, bediente sie im Bad. In ihrem Innern fing sie an, Alscha zu hassen, aber noch mehr als die gegenwärtige Feindseligkeit von Abul Hassan Alis Gemahlin beunruhigte sie der Gedanke, was Alscha mit ihr tun würde, wenn die Leidenschaft des Fürsten einmal erlosch. Wenn Isabel einfach eine vergessene Konkubine mehr war. Sie hatte es satt, immer nur ein Opfer zu sein, und sie war nicht weniger willensstark als Alscha.

Isabel handelte. Sie trat zum Islam über und nahm den Namen Zoraya an, »Morgenröte«. Und dann verwandelten sich die Wellen des Klatsches um die neue Favoritin des Emirs in ein Erdbeben. Abul Hassan Ali verkündete, er würde sie zu seiner zweiten Gemahlin machen. Seine Ratgeber, Hauptleute, Freunde protestierten, und das Volk schrie auf den Straßen von Granada: »Tod der fremden Frau!« Der Koran gestattete einem Mann zwar vier legitime Frauen, doch seit den ersten Jahrzehnten nach der Eroberung von al Andalus hatte kein Herrscher eine Christin, selbst wenn sie sich zum rechten Glauben bekannte, zu seiner Frau gemacht. Zu seiner Konkubine, ja - als Sklavinnen waren die Kastilierinnen sogar recht begehrt -, aber niemals zu seiner rechtmäßigen Gemahlin.

Ali tat es, gegen alle Ratschläge und Drohungen.

Ein Jahr später brachte seine neue Gemahlin Zwillinge zur Welt, ein Mädchen und einen Jungen. Er ließ sie den Namen für ihre Kinder wählen, und um ihm zu gefallen, wählte sie zwei Namen aus der arabischen Geschichte: Tariq und Layla. Als Alscha davon hörte, lachte sie verächtlich. »Tariq, in der Tat«, sagte sie. »Die Christin will ihren Sohn also nach dem Eroberer von al Andalus nennen? Weiß sie nicht, dass der arme Tariq ein Freigelassener war und für seine Eroberung nur Undank von seinem Kalifen erntete? Wahrlich, ein gutes Vorzeichen für einen Sohn. Und Layla? Will sie, dass die Freier ihrer Tochter wahnsinnig vor Liebe werden und sich umbringen, wie der arme Narr, der diese rührseligen Gedichte auf Layla schrieb?«

Es dauerte nicht lange, bis diese Äußerungen Isabel hinterbracht wurden, und sie schlug sofort zurück. »Merkwürdig ist es«, sagte sie, »dass Alscha al Hurra sich solche Sorgen um die Namen meiner Kinder und so wenig um die Namen ihres eigenen macht. Waren Abdallah und Muhammad nicht die Namen zweier Fürsten, die abgesetzt wurden und ihre Tage im Elend beschlossen, im Gefängnis?«

Alscha war zunächst sprachlos über so viel Frechheit, doch dann machte sie sich zum ersten Mal Sorgen. Was, wenn die Christin mit ihrer Äußerung über die entthronten Fürsten mehr im Sinn hatte als nur einen Schlagabtausch? Sie ließ erkunden, wann Zoraya die Gärten besuchte, und erschien zur selben Zeit.

Die Sommermonate mit ihrer erbarmungslosen Hitze, die sich wie eine Schlinge um den Hals der Menschen legte, hatten den Hof schon längst veranlasst, in die Sommerpaläste des Generalife umzuziehen. Der Generalife war ein Bestandteil der riesigen roten Festung, die über Granada regierte, aber in diesem Teil der Alhambra huldigten die wenigen Gebäude, die es gab, nur den Pflanzen und dem Wasser. Das Geländer der Treppe, an der sich die Gemahlinnen des Emirs trafen, bestand aus einer hohlen Rinne, die das Wasser aus den Bergen in die tiefer gelegenen Becken des Generalife leitete. Um den Hof, zu dem diese Treppe führte, hatte man ein Labyrinth aus Sträuchern angelegt, sodass Alscha und ihre Rivalin nahezu ungestört waren.

Isabel, der Alschas Fragen nicht verborgen geblieben waren, hatte sich entschlossen, nichts dem Zufall zu überlassen, und trug ihren Sohn Tariq auf dem Arm; die Amme der Zwillinge, Fatima, folgte ihr mit dem Mädchen Layla und schrak unwillkürlich zusammen, als sie Alscha gewahrte, obwohl man die Sejidah erwartet hatte. Alscha, Tochter eines Emirs (selbst wenn dieser nicht weniger als viermal entthront worden war) und Gemahlin eines Emirs, neigte mit ihren markanten Zügen und ihrer großen, stattlichen Erscheinung dazu, die Menschen selbst dann einzuschüchtern, wenn sie es nicht darauf anlegte.

Isabel de Solis, kleiner, zierlicher, vor allem aber jünger, spürte die gebieterische Ausstrahlung der Frau sehr wohl, doch sie hatte nicht die Absicht, sich noch einmal vor Alscha zu demütigen.

Sie nahm die Gegenwart der Älteren nur mit einem kurzen Nicken zur Kenntnis. Die Zeiten, in denen sie sich vor Alscha - oder überhaupt jemandem - hatte verbeugen müssen, waren vorbei.

Alscha warf einen eisigen Blick auf die Kinder. »Zwillinge«, sagte sie laut und deutlich, »gelten bei uns als Unglücksbringer.

Sie leben meist nicht sehr lange.«

Die Amme Fatima konnte einen erschrockenen Ausruf nicht unterdrücken. Isabel stand sehr still. Dann hob sie das Kinn und sah Alscha direkt in die Augen.

»Es ist Euer Sohn, Sejidah, nicht meiner«, entgegnete sie ebenso klar, »von dem es heißt, dass er Granada zu Fall bringen würde. Vielleicht wäre es gut, wenn er nie auf den Thron käme.« Kein Laut kam von Fatima oder Alschas Gefolge. Die beiden Frauen standen da, in der Nachmittagssonne, und rührten sich nicht. Sie schauten einander nur an, endlos. Beide hatten verstanden, was gesagt worden war. Es war Alscha, die sich zuerst abwandte.

»Hütet Eure Schritte«, sagte sie und ging. Isabel de Solis blieb an jenem Nachmittag noch lange in den Gärten. Als sie in den Palast zurückkehrte, begann sie mit ihrem Feldzug, um Tariq an die Stelle Muhammads zu setzen.

Die Zwillinge wussten nichts von den Weissagungen oder Prophezeiungen, als sie anfingen, sich ihrer Umgebung bewusst zu werden, nichts von Ibn Sinas naturwissenschaftlicher Skepsis noch von den Gerüchten, die besagten, dass Alschas Sohn Muhammad laut seinem Geburtshoroskop der letzte Emir von Granada sein würde. Sie wussten zunächst überhaupt nichts von einer Welt außerhalb der roten Festung; denn die Alhambra war groß genug, um in sich Moscheen, Friedhöfe, Bäder, Schulen und Bibliotheken zu bergen. Es bestand gar keine Notwendigkeit, die Stadt zu betreten.

Für Layla, die eher als Tariq begann, den Dingen einen Namen zu geben, war die kühle Eleganz der Säulenhöfe lange das, was die Amme als »Paradies« und »Sitz Allahs« bezeichnete, und es bereitete ihr Schwierigkeiten, sich Wälder vorzustellen, die nicht mit Springbrunnen und allgegenwärtigen Wasserbecken zu einer einzigartigen Landschaft aus Pflanzen und Steinen verschmolzen. Lediglich die Berge der Sierra Nevada überragten die Alhambra und erschienen ihr wie unbekannte, geheimnisvolle Riesen, die sie nicht einordnen konnte. Zunächst glaubte sie, es handle sich um die Dschinn oder Ifrits aus Fatimas Geschichten, und als man ihr sagte, dass es sich dabei um ähnliche Orte handelte wie der rote Hügel, auf dem die Alhambra stand, nur eben höher, empfand sie ein Gemisch aus Neugier und Furcht. Von da an wartete sie darauf, dass etwas aus den Bergen kommen würde.

Don Juan de Vera, der im Auftrag seiner jungen Königin kam, um den jährlichen Tribut einzufordern, wünschte sich überallhin, nur nicht in die Halle der Botschafter, wo ihn Abul Hassan Ali empfing. Ein Blick hatte genügt, um in ihm den Mann wieder zu erkennen, der ihm Vorjahren in den Wäldern begegnet war. Seine Kleidung erschien ihm plötzlich zu schwer für die Jahreszeit und die Gegend, er begann zu schwitzen und heftete seinen Blick starr auf die prächtige Decke über Abul Hassan Ali, während er mit monotoner Stimme seine Forderung überbrachte. Es wäre mir, dachte Don Juan, tausendmal lieber gewesen, der Königin meine Treue auf dem Schlachtfeld zu beweisen. Don Juan de Vera gehörte zu den Granden, die nicht unglücklich waren, dass nach dem Tod König Enriques ein Bürgerkrieg zwischen den Parteien der Tochter des Königs, Juana, und der Schwester des Königs, Isabella, ausgebrochen war. Die Gelegenheit zum Austragen längst überfälliger Fehden war nie günstiger gewesen, und de Vera hatte sich schon deshalb für die Seite Isabellas entschieden, weil es dabei auch gegen seine Intimfeinde, die Familie Ponce de Leon, ging. Doch statt sich mit Rodrigo Ponce de Leon schlagen zu können, sah er sich gezwungen, zu den Ungläubigen nach Granada zu gehen und höflich zu erbitten, was der Krone von Rechts wegen zustand. Und was Königin Isabella und ihr Gemahl, der aragonische Thronfolger Fernando, zurzeit dringender denn je benötigten.

Alis Miene blieb ruhig und undurchdringlich. Er hörte sich die Rede des Botschafters an und schwieg, als de Vera schließlich stockte. Die plötzliche Ruhe in der großen Halle irritierte den Ritter. Er sah sich gezwungen, seine Augen von den filigranen Gittern abzuwenden und Ali direkt anzuschauen.

»Das… hm… das wäre alles, Hoheit«, äußerte er endlich unbehaglich.

Ein dünnes Lächeln ohne die geringste Heiterkeit umspielte Alis Lippen. »Gut«, erwiderte er. »Dann richtet Euren Herrschern aus, dass die Emire von Granada, die Tribute an die kastilische Krone zahlten, tot sind. Gegenwärtig kommen aus unseren Prägeanstalten keine Münzen, sondern Klingen und Lanzenspitzen.«

Don Juan de Vera erstarrte. Die Hitze des Tages schien sich in Eis verwandelt zu haben. Zum ersten Mal in seinem Leben fühlte er sich wirklich hilflos, und er hasste dieses Gefühl, hasste den ungläubigen Hund, der es ihm vermittelte. Es war ihm völlig klar, was Alis Antwort bedeutete; und ebenso klar war, dass man im Moment nichts dagegen tun konnte. Seit Erzbischof Carillo sich auf die Seite Juanas geschlagen hatte, sah es um Isabellas Sache nicht gut aus. Die Königin brauchte das Geld aus Granada, aber sie konnte es sich nicht leisten, Truppen zu schicken, um es mit Gewalt einzutreiben. Und genau damit musste der verdammte Maure gerechnet haben.

Don Juan verbeugte sich steif, machte auf dem Absatz kehrt und verließ die Halle der Botschafter. Er kochte vor Zorn und wäre wohl auch im Laufschritt aus der Alhambra gestürmt, hätte ihn nicht das grelle Sonnenlicht daran erinnert, dass ihm entsetzlich heiß war und er noch einen langen Ritt vor sich hatte - mit einer solchen Nachricht für seine Königin. Er blieb inmitten des Säulenwaldes stehen, der den Löwenhof bildete, und beschloss, den Brunnen zu nutzen, um sein Gesicht abzukühlen und etwas zu trinken.

Wie es der Zufall wollte, befanden sich einige junge Männer in der Nähe, die entweder nicht den Rang oder das Alter besaßen, um am Empfang des kastilischen Botschafters teilzunehmen.

Sie kamen jetzt neugierig näher, um sich den Christen anzusehen. Don Juan de Vera fühlte sich von neuem provoziert, und diesmal, bei Gott, würde er etwas dagegen unternehmen.

»Was starrt ihr mich an, ihr verdammten Heiden?«, fragte er herausfordernd. Die jungen Leute waren nicht weniger streitlustig als er; einer entgegnete: »Ich habe ja gehört, dass die Christen stinken wie die Schweine, aber dass es gleich so schlimm ist…«

Es war eine willkommene Gelegenheit für alle Beteiligten. Don Juan zog sein Schwert. »Sag das noch einmal, du maurischer Götzenanbeter!«

Einen Moslem als Götzenanbeter zu bezeichnen, war die schwerste Beleidigung, die er hätte finden können. Der Löwenhof hallte von dem Geklirr der Waffen wider, als Abul Hassan Ali aus der Halle kam, um herauszufinden, was es mit dem Tumult auf sich hatte. Er erhob seine Stimme nur einmal.

»Aufhören, sofort! Die Waffen nieder!«

In einem leiseren Tonfall fuhr Ali fort: »Der Botschafter steht unter meinem Schutz… Solange er sich in meinem Reich aufhält, lasse ich jeden köpfen, der ihn anrührt.«

Einer der jungen Männer, der aus der Familie der Banu Sarraj stammte, welche nach den Banu Nasr die mächtigste in Granada war, zögerte; dann senkte auch er sein Schwert. Ali bemerkte es und vergaß es nicht. Die Banu Sarraj hatten seinen Vater auf den Thron gebracht, indem sie ihm halfen, den vorhergehenden Herrscher zu stürzen, der seinerseits Alschas Vater gestürzt hatte; dieser wiederum war nur durch die Unterstützung der Banu Sarraj zur Herrschaft gelangt. Es konnte sein, dass sie eines Tages nicht mehr damit zufrieden waren, die Banu Nasr nur gegeneinander auszuspielen, und selbst über Granada herrschen wollten, zumal er selbst, Ali, ihre Hilfe für seine Machtergreifung nicht nötig gehabt hatte. Außerdem hatten sie Verbindungen nach Marokko - etwas, mit dem man rechnen musste.

Don Juan de Vera sah sich einem Mann verpflichtet, den er von Minute zu Minute mehr verabscheute, und brachte mit Mühe einige höfliche Sätze heraus. Sein Abgang wäre ohnehin nicht der ruhmreichste gewesen, aber dieses Ereignis machte den Aufenthalt in Granada vollends zu einem Flecken auf seiner Ehre. Ihm blieb nur, auf einen Krieg mit den Mauren zu hoffen, sobald der Bürgerkrieg in Kastilien beendet war. Er erhoffte ihn bald.

Abul Hassan Ali beendete die Tributzahlungen an Kastilien nicht nur, weil die Zeiten dafür günstig waren. Er hatte nach wie vor Bedenken, aber einerseits konnte sich Granada einen Tribut in dieser Höhe kaum mehr leisten und zum anderen brauchte er dringend eine Geste, die seine schwindende Beliebtheit beim Volk wiederherstellte und bewies, dass er nicht unter christlichem Einfluss stand. In der Tat war die Bevölkerung begeistert - schon allein, weil der jährliche Tribut zum großen Teil aus ihren Steuern gezahlt wurde -, und der Aufruhr über die zweite Ehe des Fürsten ebbte ein wenig ab.

Innerhalb des Palastes, in dem weichen, dämmrigen Licht, das durch Bögen und kunstvolle Gitter in die Alhambra fiel, hatte der Krieg erst angefangen. Es gab keine Toten, aber die Zwillinge wuchsen in einer Verstrickung aus Schönheit und Gift auf, die jederzeit tödlich werden konnte. Sie erkannten sehr bald, dass sie anders waren; ihre Halbgeschwister und die Kinder der Adligen mieden sie, und wenn sich ein gemeinsames Spiel nicht umgehen ließ, endete es regelmäßig in einem Streit.

Tariq litt unter ihrer verwirrenden Andersartigkeit mehr als Layla. Er war von Natur aus großzügig und schloss leicht Freundschaften, aber da er schneller in Zorn geriet, als ein getrocknetes Pergament Feuer fing, hielten sie nie lange. Früher oder später machte jemand eine Bemerkung über seine Mutter, die Fremde, die den Platz der wahren Fürstin usurpiert hatte, und das war gewöhnlich das Ende der wenigen Freundschaften, die sich trotz der Umstände ergaben.

Layla, die sich sehr rasch eine verletzende Überheblichkeit zugelegt hatte, um sich gegen das Gefühl der Zurückweisung zu schützen, beschloss bald, zufrieden mit der Lage der Dinge zu sein, denn so hatte sie Tariq ganz für sich. »Wir brauchen sie nicht«, sagte sie einmal zu ihm. »Sie sind sowieso alle nur eifersüchtig, weil der Emir Mama geheiratet hat und nicht ihre Mütter.«

Die Zwillinge vergötterten ihre Mutter, wogegen ihr Vater, den sie nicht sehr häufig sahen, eine distanzierte, Ehrfurcht gebietende Erscheinung für sie war - der Fürst, den Vater zu nennen ihnen nicht einfiel, bis ihre Mutter ihnen sagte, dass es dem Emir gefallen würde. Als die Zwillinge fünf Jahre alt wurden, war es Zeit für Tariqs ersten Lehrer. Jedermann war unangenehm überrascht, als er sich weigerte, ohne seine Schwester unterrichtet zu werden.

Es entsprach nur dem Brauch, in diesem Alter die allmähliche Trennung von Mädchen und Jungen einzuleiten, und der erste Schritt sollte Tariqs Unterricht sein. Es war so offenkundig logisch, dass sich niemand die Mühe gemacht hatte, es den Kindern zu erklären. Doch die Zwillinge, die sich sonst so leicht von ihrer Mutter lenken ließen, begriffen das Offensichtliche nicht. Sie aßen nichts, schrien und tobten stundenlang und blieben unansprechbar, bis Isabel nachgab. Sie wusste sehr gut, dass die Zwillinge eigentlich nur sich selbst hatten, auch wenn sie es nicht gerne zugab.

Auch Abul Hassan Ali wusste es, und er ließ sich von ihr überreden.

Also wurden die Zwillinge gemeinsam unterrichtet und blieben zusammen, auch wenn Fatima, die Amme, zuversichtlich äußerte, sie würden sich in ein paar Jahren schon ohne Mühen voneinander trennen lassen. Der Lehrer, der ihnen lesen und schreiben und schließlich die Anfangsgründe der Wissenschaften beibringen sollte, hatte das auch schon bei den älteren Prinzen getan; da aber sein weiterer Verbleib bei Hofe durch die Favoritin Zoraya gesichert worden war, stand er ihr - und ihren Kindern - nicht feindlich gegenüber.

In die Geheimnisse der Schrift einzudringen, machte die Unterschiede zwischen Tariq und Layla einmal mehr offensichtlich und stärkte in ihrer Umgebung die Verwunderung über das enge Band zwischen ihnen. Layla verfügte über die schnellere Auffassungsgabe und sie konnte der Versuchung nicht widerstehen, das gelegentlich deutlich werden zu lassen. Sie vergaß nichts und niemanden, vor allem keine Kränkung, während Tariq zwar sehr schnell aufbrauste, aber ebenso rasch vergaß und vergab.

Er machte leidenschaftlich gern Geschenke und wäre als Sohn jeder anderen Frau wahrscheinlich der Liebling seiner Halbgeschwister gewesen. Doch zu seinem Unglück sah er noch nicht einmal wie ein Araber aus.

Er war ein wenig pummelig, wenn auch nicht eigentlich dick, und erinnerte seine Mutter mit seinen hellbraunen Locken, der Stupsnase und den Grübchen an die Engelsdarstellungen, die sie in ihrer Kindheit in Kapellen gesehen hatte. Einige der Jungen neckten ihn gerne damit, dass er das Mädchen sei, nicht seine Schwester, doch da Tariq verbissen daran arbeitete, stärker und schneller als alle seine Altersgenossen zu werden, hörte die Neckerei nach einigen schmerzhaften Prügeleien bald auf.

Layla sah zwar keineswegs wie ein Junge aus, aber sie wusste schon bald, dass sie nach den Maßstäben aller Menschen, die sie kannte, hässlich war. Ihre Nase war zu lang und zu dünn, sie hatte schmale Lippen und ein spitzes Kinn, und was Tariq zu viel an Gewicht hatte, fehlte ihr. Nur die Augen der Zwillinge glichen sich vollkommen; sie hatten beide die großen dunkelblauen Augen ihrer Mutter und ihre geraden, kräftigen Brauen.

Für Layla war ihre Mutter der Inbegriff der Schönheit, und ihre eigene Unzulänglichkeit wurde ihr zum ersten Mal während eines weiteren Zusammenstoßes zwischen Isabel-Zoraya und Alscha bewusst.

Isabel und Layla befanden sich im Bad, ein beliebter Ort, denn durch die Fenster mit ihren kunstvollen Holzgittern im zweiten Geschoss konnte man fast alles sehen, was sich in den Höfen abspielte, ohne selbst gesehen zu werden. Das Bad war nur durch den Harem erreichbar, nicht von außen, und es machte Layla Spaß, sich im Wasser zu entspannen und dabei alle möglichen Menschen zu beobachten.

Sie plätscherte noch vor sich hin, während ihre Mutter sich von einer Sklavin abtrocknen ließ, als die sorglose Stimme von Alscha über die Wasserdämpfe hinweg zu ihnen drang: »Ein Junge, der wie ein Mädchen aussieht, und ein Mädchen, das aussieht wie eine verhungerte Katze - eigentlich kann man nur Mitleid mit ihr haben.«

Alscha kam niemals in das Bad, wenn Isabel dort war, und Layla, die das wusste, erstarrte. Ihre Mutter beugte sich zu ihr nieder und legte ihr den Finger auf den Mund. Sie bedeutete auch der Sklavin, zu schweigen, und da erst bemerkte Layla, dass sie in ihrer Nische von Alscha aus nicht zu sehen waren.

War sie zufällig hier, oder war es Absicht? Layla schaute zu ihrer Mutter, die sich langsam ankleiden ließ, und jetzt drang der Inhalt dessen, was Alscha gesagt hatte, in ihr Bewusstsein.

Erst kürzlich hatte Layla Fatima nach dem Alter ihrer Mutter gefragt, und die Amme hatte die Achseln gezuckt. »Zwanzig, einundzwanzig, was weiß ich.« Layla fand, ihre Mutter wirkte noch jünger und verkörperte mit ihrer schlanken Gestalt, den makellosen Brüsten und dem langen Haar, das ihr bis über die Hüften reichte, alles, was die Dichter in den Liedern, die sie täglich hörte, priesen. Sie schreitet stolz einher in grünem Kleide/Sich wiegend wie im Blätterschmuck der Ast/Ihr Blick wirkt wie des Schwertes scharfe Schneide/Ihr Antlitz strahlt des vollen Mondes Glast…

Das Mädchen zweifelte daran, jemals auch nur etwas von diesem Glanz zu besitzen. War ihre Mutter sehr enttäuscht darüber? Sie wirkte nicht beunruhigt oder verärgert durch Alschas plötzliches Erscheinen oder die Bemerkungen der ersten Frau, nur etwas angespannt. Layla blieb im Wasser, ohne sich zu bewegen, aber es hatte seinen Zauber verloren. Ihr war kalt.

Eine Weile hörte man nur Flüstern und Wispern, dann erhob sich Alschas Stimme von neuem aus dem ebenmäßigen Gemurmel. »Also gut, ich will es euch verraten«, sagte sie heiter.

»Mein Gemahl und ich haben beschlossen, Muhammad mit einer von Ali al Atars Töchtern zu verheiraten. Er kommt ja bald zurück, und dann wird die Vermählung stattfinden.«

Einige der anderen Frauen schrien entzückt auf. Durch Laylas Mutter ging ein Ruck. Dann, als wäre ihr eine Idee gekommen, begann sie schnell, sich wieder auszuziehen, bedeutete ihrer Sklavin aber gleichzeitig, Layla aus dem Wasser zu holen und anzukleiden. Währenddessen ging die Unterhaltung im gegenüberliegenden Bereich des Bades weiter.

»Morayma«, antwortete Alscha auf die Frage nach dem Namen der Braut. »Mein Sohn könnte es kaum besser treffen. Sie ist von makelloser Abstammung, und Ali al Atar gehört zu den Mächtigsten in Granada.«

Isabel war fertig. Sie gab der Sklavin ihre Sachen, nahm Layla bei der Hand und ging so, wie sie war, zu Alscha hinüber. Wie immer, wenn die beiden Gemahlinnen des Herrschers sich begegneten, schwieg alles, was sich im Raum befand. Layla hatte nicht oft die Gelegenheit, Alscha zu sehen, aber irgendwie gelang es der Fürstin jedes dieser wenigen Male, dem Mädchen instinktive Furcht einzuflößen, auch diesmal, als sie nackt auf einer Bank lag und sich massieren ließ.

Alscha, stellte Layla für sich fest, war um einiges älter als ihre Mutter, und man sah es, aber niemand hätte sie als alte Frau bezeichnet. Ihre Augen - schwarz und groß, wie der Prophet es als Ideal forderte - waren von Kälte und Triumph zugleich erfüllt, als ihre Rivalin vor ihr stehen blieb. Sie hat gewusst, dass wir hier sind, dachte das Kind. Langsam setzte die Fürstin sich auf.

Laylas Mutter machte eine kurze anerkennende Geste mit der Hand. »Meinen Glückwunsch, Sejidah«, sagte sie, »zu der Hochzeit Eures Sohnes… und seiner Rückkehr.«

Alscha zog die Brauen hoch. »Das scheint überraschend für Euch zu kommen«, erwiderte sie honigsüß. »Hat mein Gemahl Euch noch nichts von unseren Plänen erzählt?«

Isabel ließ Layla los und verschränkte beide Hände hinter ihrem Kopf, eine Bewegung, deren sinnliche Herausforderung Layla erst später klar wurde. Sie dehnte sich ein wenig, fuhr mit den Fingern durch ihr langes Haar und sagte mit gut gelaunter, träger Stimme: »Ach, wisst Ihr, er hat es wahrscheinlich vergessen… wir hatten so viele andere Dinge… zu bereden.«

Dann drehte sie sich um, nahm Layla wieder bei der Hand und verließ das Bad, während alle anwesenden Konkubinen, Sklavinnen und Alscha empört hinter ihr herstarrten.

Isabel schickte Layla fort, als sie sich wieder in ihren Gemächern befanden, und das Mädchen machte sich auf die Suche nach Tariq. Sie brauchte nicht lange, um ihn zu finden. Er stand auf der Nordmauer und schaute zur Sabikah hinüber, dem Übungsplatz der jungen Krieger.

»Wir haben Alscha im Bad getroffen«, sagte Layla und schlüpfte neben ihn.

Tariq schauderte unwillkürlich ein wenig, dann grinste er. »Hat sie versprochen, dich bei lebendigem Leib zu fressen? «, fragte er. »Sie mag fettes Fleisch lieber«, entgegnete seine Schwester und wich einem Rippenstoß aus. »Du, sie hat erzählt, dass Muhammad zurückkommt.« Sie schwiegen beide.

Die Zwillinge kannten Muhammad nicht. Vor zwei Jahren war er nach Fez aufgebrochen, angeblich, um seine Erziehung zu vervollkommnen. Aber die Diener erzählten etwas von einem heftigen Streit zwischen Muhammad und seinem Vater; einige behaupteten sogar, der Streit habe zwischen Muhammad und ihrer Mutter stattgefunden. In jedem Fall waren die Zwillinge noch zu jung, um sich an die Zeit vor zwei Jahren erinnern zu können. Doch die anderen Kinder hatten genug von Muhammad erzählt, um ihn wie einen Helden aus dem Märchen erscheinen zu lassen: wie fabelhaft er ritt, wie er jedes Turnier gewann, wie belesen und gelehrt er schon als kleiner Junge gewesen war.

Und er war Alschas Sohn.

Und Alscha hasste ihre Mutter.

»Ich habe eine Idee«, verkündete Tariq plötzlich. »Wir bereiten ein Willkommensgeschenk für Muhammad vor. Dann wird er unser Freund, und Alscha kann nicht länger böse auf uns sein.

Vielleicht werden sogar Mutter und Alscha Freundinnen.«

Insgeheim zweifelte Layla daran. Doch Tariqs Begeisterung übertrug sich auf sie; die Vorstellung, ganz allein den Familienzwist zu beenden und so selbst zu Helden zu werden, erschien auch ihr unwiderstehlich.

Während die Zwillinge ihren Willkommensplänen nachhingen, schmiedete Isabel ihre eigenen Pläne. Muhammads Heirat mit der Tochter des mächtigsten Adligen von Granada, eines Verbündeten der Banu Sarraj, würde seine Position ungeheuer stärken, wie Isabel sehr genau wusste. Zornige Erbitterung fraß an ihr, aber sie ließ sich nichts davon anmerken, als Ali am Abend zu ihr kam. Sie begrüßte ihn liebevoll, servierte ihm Speisen, die er schätzte, und erst später, als sie beide zufrieden zwischen den seidenen Kissen ruhten, sagte sie beiläufig: »Du hast mir noch gar nichts von der Rückkehr deines Sohnes erzählt. Und von seiner Heirat.«

Ali strich über ihr dunkles Haar. »Es sind jetzt zwei Jahre, Zoraya. Und wahrhaftig, eine Verbindung mit Ali al Atar könnte die Banu Sarraj zu Verbündeten machen.«

»Zu Verbündeten für Muhammad«, sagte sie schärfer, als sie beabsichtigt hatte, und fügte deshalb mit sanfterer Stimme hinzu: »Ich mache mir Sorgen um dich, mein Geliebter. Muhammad ist jetzt ein Mann, kein Junge mehr, und Männer sind ehrgeizig.«

»Er ist mein Sohn«, erwiderte Ali und ließ sie los. Sie rührte sich nicht. In der Dunkelheit war ihre körperlose Stimme zärtlich wie eine Umarmung: »Wie viele Söhne, Vettern, Brüder deiner Familie sind gewaltsam auf den Thron gekommen, mein Gebieter? Ich glaube, ich kann mich nur an zwei Emire Granadas erinnern, die nicht von ihren Verwandten entthront wurden.«

Ali antwortete nicht. Er starrte in die Nacht, mit weit geöffneten Augen, und fand noch lange keinen Schlaf.

Der sechste Geburtstag der Zwillinge kam und ging. Das Jahr näherte sich seinem Ende, als Abu Abdallah Muhammad, Kronprinz von Granada, zurückkehrte. Die Zwillinge hatten, vom Fieber der Erwartung gepackt, kaum geschlafen und waren schon sehr früh auf die äußeren Mauern geklettert, um die Ankunft ihres Halbbruders nicht zu verpassen. Zu ihrer Überraschung hatte ihre Mutter sie kommentarlos begleitet. Layla drückte sich zwischen zwei Zinnen und starrte auf die weißwürflige Stadt, die sich an die Alhambra schmiegte, hinab. Sie schaute zur Kuppel der großen Moschee, denn aus dieser Richtung drangen die Jubelrufe des Volkes, das Muhammad begrüßte.

»Wie ein Triumphzug«, stieß Isabel zwischen den Zähnen hervor. Tariq hörte sie nicht, und auch Layla ignorierte zum ersten Mal in ihrem Leben ihre Mutter völlig; die Zwillinge beobachteten beide gebannt Muhammad. Alle drei schwiegen, bis der Kronprinz das erste Tor der roten Festung passiert hatte.

Fatima hat nicht gelogen, dachte Layla, er sieht aus wie ein Held aus dem Märchen. Mit dem Bewusstsein, selbst nicht schön zu sein, war in ihr eine Verehrung für Schönheit gewachsen, und wenn ihre Mutter für sie das Inbild der weiblichen Schönheit war, so erblickte sie jetzt in ihrem unbekannten Bruder den Inbegriff männlicher Schönheit. Er trug eine helle Zihara, und der gelbe Tailasan, der um seinen Kopf geschlungen war, ließ sein Gesicht völlig frei - ein Gesicht mit regelmäßigen, edlen Zügen, das fast zu vollkommen für einen Mann war.

Er schaute zum Palast hoch, und es schien Layla, dass er ihr zulächelte. Sie hätte um ein Haar gewinkt wie die Leute dort unten, aber auf die Entfernung hätte er es nicht sehen können.

Außerdem erinnerte sie sich wieder, dass ihre Mutter neben ihr stand.

»Hast du sein Schwert gesehen?«, fragte Tariq aufgeregt. »Das ist aus Damaskus, ganz bestimmt! Vielleicht hat er noch mehr dabei. Glaubst du, er gibt mir…«

Layla stieß ihn ärgerlich in die Seite. Noch galt es, den Versöhnungsplan vor ihrer Mutter geheim zu halten. Vorsichtig blickte sie zu Isabel auf und erkannte, dass diese nichts bemerkt hatte.

Sie beachtete die Zwillinge nicht; auch sie beobachtete unausgesetzt Muhammad.

Die Zwillinge nahmen nicht an dem Begrüßungsfest teil, was auf eine taktvolle Entscheidung ihres Vaters zurückging. Tariq war enttäuscht, nicht nur Muhammads wegen.

Auch al Zaghal würde auf dem Fest sein, und al Zaghal war das kriegerische Idol des ganzen Reiches, ohne besonderen Wert darauf zu legen. Seine barsche Art sorgte dafür, dass er Anhänger hatte, aber keine Freunde. Nur mit seinem Bruder verband ihn eine enge Beziehung.

Doch um al Zaghal zu sehen, würde es noch andere Gelegenheiten geben. Was Muhammad anging, so beschlossen die Zwillinge, ihn abzufangen, wenn er das Fest verließ; eine Begegnung zu dritt wäre ohnehin günstiger für ihr Geheimnis. Es fiel ihnen nicht weiter schwer, Fatima zu täuschen; darin hatten sie Übung. Isabel befand sich auf dem Fest, denn ihre Abwesenheit hätte wie eine Niederlage gewirkt.

Die Zwillinge richteten sich darauf ein, eine Ewigkeit warten zu müssen, aber Muhammad kam schon sehr bald aus der Halle. Er ging sehr zielgerichtet, und sie folgten ihm leise. Bald merkten sie, dass er nicht zu seinen oder Alschas Räumen wollte, sondern zum Falkenhaus. Das war noch besser, als sie gehofft hatten, denn dort befand sich um diese Zeit mit Sicherheit niemand mehr. Sie folgten ihm so geräuschlos wie möglich. Als sie das Falkenhaus betraten, verwirrte sie das Schweigen der Vögel etwas: Fatima hatte erzählt, dass die Vögel in der Nacht, wenn kein Mensch sie hören konnte, miteinander sprachen.

Sie kannten sich dort nicht so gut aus, und das Licht war bereits gelöscht, aber Muhammad wies ihnen selbst den Weg. Sie hörten ihn mit einem der Falken sprechen.

»Zuleima… Zuleima… erkennst du mich, Schöne?«

Layla glitt auf dem Stroh aus und stürzte. Muhammad wirbelte herum. »Wer ist da?«

»Wir sind’s nur«, sagte Tariq schnell, half seiner Schwester auf und zerrte sie etwas unsanft vorwärts, »wir haben ein Willkommensgeschenk für dich, aber sie haben uns schon ins Bett geschickt, also geben wir’s dir heimlich.«

Muhammad hatte sich inzwischen an die Dunkelheit gewöhnt und konnte die Kinder, die vor ihm standen, recht gut sehen. Er lächelte. »Das ist nett von euch.« Ein wenig bitter fügte er hinzu: »Ich hätte nicht gedacht, dass mich hier jemand erkennt.

Mein Hund hat mich vergessen und mein Lieblingsfalke auch, scheint es.«

»Vielleicht sind sie einfach alt«, sagte Layla schüchtern, »für Tiere, meine ich.«

Muhammad lachte. »Das wird es sein. Aber gehen wir lieber nach draußen, ich bin neugierig auf euer Geschenk.«

Später fragte sich Layla, für wen er sie wohl gehalten hatte - für Sklavenkinder, für Sprösslinge einer der Konkubinen, für die Kinder eines Gastes?

Sie verließen das Falkenhaus mit ihm. Der Generalife war nicht weit, und ohne nachzudenken, schlugen alle drei diese Richtung ein. Tariq fragte Muhammad nach seiner Reise, und dieser erzählte von riesigen Wellen, von Sandstürmen und der goldenen Stadt Fez. Wie ein guter Märchenerzähler alter Tradition übertrieb er etwas, und die Zwillinge waren gebührend begeistert.

»Und hast du auch welche von den Dschinn gesehen? Einen Ifrit?« Muhammad schüttelte den Kopf. Aus der Nähe betrachtet sah er, fand Layla, nicht so vollkommen aus, dafür aber menschlicher, wärmer. Er hatte den Tailasan längst abgenommen und griff sich manchmal unbewusst ans Ohr, eine Angewohnheit, die auch ihr Vater hatte. Seine Haare waren etwas zerzaust, obwohl kein Wind in dieser lauen Spätherbstnacht wehte.

»Nein, aber ich sah die Stelle bei Mekka, wo der Prophet den Dschinn begegnet ist.«

»Mekka«, sagte Tariq tief beeindruckt. Ehrfürchtig fragte Layla: »Dann hast du die heilige Pilgerfahrt gemacht, den Hadsch?« Muhammad blieb stehen und schaute über den Generalife hinweg auf die Berge, die im Vollmond klar zu erkennen waren; das Mondlicht ließ ihre schneebedeckten Spitzen aufleuchten wie die Dächer des Albaicin, des alten Stadtviertels, das sich tief unter ihnen befand.

»Ja. Aber die ganze Zeit wusste ich, dass das Paradies sich hier befindet. Und dass es zum Sterben verurteilt ist.«

»Was?«, fragte Tariq verunsichert. Muhammad zuckte die Achseln und ließ sich auf dem Rand eines Springbrunnens nieder.

Er hob die Zwillinge nacheinander hoch, damit sie neben ihm sitzen konnten.

»Vergiss es, ich rede nur dummes Zeug. Wo ist nun das versprochene Geschenk, ihr zwei?«

Tariq holte aus seinem Burnus das Pergament hervor. Es handelte sich um ein Schutzamulett, das er und Layla mit einer Sure aus dem Koran beschrieben hatten, sehr sorgfältig, um nichts falsch zu machen, abwechselnd, jeder einen Vers. Solche Schutzamulette waren eigentlich nur dann wertvoll, wenn sie von einem Iman gesegnet wurden, aber die Zwillinge hatten sich darauf geeinigt, dass Muhammad es selbst segnen lassen würde, wenn es ihm gefiel.

Sie hatten eine kleine Ansprache über die Versöhnung zwischen ihren Müttern vorbereitet, doch Tariq war so nervös, dass er Muhammad das Schutzamulett einfach nur in die Hand drückte.

»Wir haben es selbst geschrieben«, sagte Layla hastig.

»Dann ist es umso wertvoller.«

Muhammad lächelte die Kinder an und las laut vor:

»Oh, du beruhigte Seele,

Kehre zurück zu deinem Herren zufrieden, befriedigt, Und tritt ein unter meine Diener,

Und tritt ein in mein Paradies.«

Er schwieg einen Augenblick und senkte den Kopf. Dann sagte er: »Ihr beschämt mich. Ihr macht mir dieses Geschenk, und ich kann mich nicht mehr an eure Namen erinnern, so sehr ich es auch versuche, die ganze Zeit schon.«

»Das macht nichts«, meinte Tariq großzügig, »du warst ja zwei Jahre weg. Ich bin Tariq, und das ist Layla.«

»Weißt du«, unterbrach Layla ihn, weil ihr die vorbereitete Rede wieder eingefallen war und Tariq sie offensichtlich nicht halten würde, »wo wir doch jetzt Freunde sind - wir haben gedacht - deine Mutter und unsere Mutter - wir könnten die beiden auch versöhnen - und dann ist alles wieder in Ordnung.«

Es war nicht ganz der sorgfältig ausgearbeitete Vortrag, den sie geplant hatten; Layla geriet ins Stocken, weil Muhammad sie von Sekunde zu Sekunde immer seltsamer ansah. Er blickte zu Tariq, dann wieder zu ihr.

»Ihr seid«, sagte er schließlich mit fremder Stimme, »ihr seid - ihre Kinder?«

Unwillkürlich rückte Layla ein wenig von ihm ab und wäre dabei beinahe in den Brunnen gefallen. Er hielt sie fest, aber der Griff war hart, als wollte er ihr Schmerz zufügen.

»Ihre Kinder?«, wiederholte er. Tariq streckte die Hand nach ihm aus, berührte ihn an der Schulter. »Wir haben gedacht…«, begann er. Muhammad ließ das Mädchen los und schlug Tariqs Hand weg. Er sprang auf und starrte die Zwillinge an. Dann ließ er das Schutzamulett auf den Boden fallen, absichtlich, ließ es langsam aus der Hand gleiten. Er drehte sich um und ging fort, zuerst im Laufschritt, aber bald rannte er.

Die Zwillinge konnten sich lange Zeit nicht bewegen. Dann rutschte Tariq vom Rand des Springbrunnens herunter auf den Boden und trat auf das Amulett, trampelte darauf herum, erst stumm, dann keuchend, und Layla bemerkte, dass er weinte. Ihr fehlten die Tränen, aber sie hatte ebenfalls das Bedürfnis, etwas zu zertreten, also sprang sie. Sie stürzte auf die Knie. Es schmerzte, ein kurzes heftiges Brennen; sie schlug mit ihren Fäusten auf den Boden, bis Tariq ihre aufgeschürften Fingerknöchel festhielt.

»Weine nicht«, flüsterte Layla.

»Ich weine nicht«, sagte Tariq. »Ich überlege, wie ich es Muhammad heimzahlen kann.«

Das Echo eines Gelächters drang durch den Garten, wie Blätterrauschen. Layla blickte sich um, aber sie konnte niemanden sehen, und nach einer Weile dachte sie, sie hätte es sich nur eingebildet.

Abul Hassan Ali hatte seinen Bruder gebeten, mit ihm einen Spaziergang über die Wälle zu machen. Sie verließen das Fest getrennt und nacheinander. Als al Zaghal am Bab al Sharirah, dem Tor der Gerechtigkeit, ankam, fand er Ali wartend vor. Ali sah müde und besorgt aus; sein grauer Bart schien weiß im Mondlicht.

»Was ist mit dir?«, fragte al Zaghal brüsk. »Und warum diese Heimlichtuerei? Du bist der Emir!«

Ali verzog das Gesicht. »Auch Emire müssen sich mit Spionen abfinden. Du solltest das wissen, Bruder. Es gibt schlechte Neuigkeiten, und ich möchte vermeiden, dass man sie jetzt schon erfährt.«

»Schlechte Neuigkeiten verbreiten sich schneller als Heuschrecken«, kommentierte al Zaghal. Wortlos schritten sie über die Wälle; es war eine alte Gewohnheit, aufgenommen, als sie noch Knaben waren. Bei einem solchen Spaziergang hatte sich Ali zu dem Entschluss durchgerungen, ihren Vater Said zu entmachten und selbst Regent zu werden. Said war im doppelten Sinn blind geworden; an seiner Augenkrankheit ließ sich nichts ändern, doch er hatte begonnen, Fehler über Fehler zu machen, den Christen nicht nur Tribute, sondern auch Landstriche zuzugestehen, aus Furcht vor einem zerstörerischen Krieg. Al Zaghal hatte Ali seiner unbedingten Loyalität versichert, und gemeinsam hatten sie den alten Mann entmachtet und ans Meer geschickt, nach Almunecar, wo er für den Rest seines Lebens dahindämmerte.

Als erriet er al Zaghals Gedanken - was er häufig tat -, sagte Ali, während sie in harmonischer Übereinstimmung nebeneinanderher schritten: »Erinnerst du dich, Muhammad, wie unser Vater immer wieder darauf beharrte, selbst ein demütigender Friede sei besser als Krieg mit den Christen?«

»Er war alt«, versetzte al Zaghal kurz.

»Alt.« Ali seufzte. »Ich werde auch langsam alt, Bruder. Ich glaube nicht wie er, dass Frieden um jeden Preis die Sache wert ist, aber ich fürchte… ich weiß nicht. Unsere guten Zeiten sind vorbei, Muhammad. Die Königin von Kastilien steht kurz vor einem Friedensschluss mit den Portugiesen, zu ihren Bedingungen, und wenn ihre Nichte die Unterstützung Portugals verliert, dann ist dort auch der Bürgerkrieg zu Ende.«

Al Zaghal blieb stehen. »Bist du sicher?«

»Ich bezahle genügend, um sicher zu sein«, erwiderte Ali knapp. »Sie wird Frieden schließen, aber leider ist das noch nicht alles. Der König von Aragon liegt im Sterben. Ist dir klar, was das bedeutet?«

Sein Bruder nickte. »Fernando kommt auf den Thron. Und damit haben Aragon und Kastilien dieselben Herrscher.«

Sie schwiegen eine Zeit lang. Unter ihnen lag die Alhambra, wie ein Schiff, das zwischen der Ebene und den Bergen vor Anker gegangen war, eine riesige dunkle Galeere zwischen zahllosen kleinen, hellen Fregatten. Die rote Farbe der Außenmauern, die auf Neuankömmlinge so verstörend wirkte, weil sie an Blut erinnerte, gab den Brüdern ein Gefühl der Sicherheit.

Rot war die Wappenfarbe der Banu Nasr, und solange die rote Feste stand, würden auch ihre Herrscher bestehen. Al Zaghal atmete die linde Nachtluft ein und ballte die Hände.

»Aber die Christen in Kastilien und die in Aragon hassen einander, Ali. Allah hat in seiner Gnade schon seit Ewigkeiten Zwietracht unter ihnen gesät.«

Ali schüttelte den Kopf. »Du weißt so gut wie ich, dass es ganz gleichgültig ist, wie sehr sie einander verabscheuen, wenn der König und die Königin eine Armee zur Verfügung haben, die sich nicht mehr mit den Portugiesen beschäftigen muss. Bald haben wir ihre Gesandten wieder hier. Und ihre Tributforderungen.«

»Und wennschon«, entgegnete al Zaghal stürmisch. »Bruder, in den letzten Jahren hatten wir keinen Krieg. Unsere Einkünfte wurden uns nicht mehr weggenommen. Granada ist wieder reich an Geld und an Menschen. Wir können es uns leisten, nicht nachzugeben. Sie sollen nur kommen! Ich sage dir, meine Leute werden sie…«

Ali hob beschwichtigend die Hand. »Ich weiß, ich weiß. Ich zweifle nicht daran, dass wir sie aufhalten können. Vor vier Jahren hätte ich noch gesagt, tun wir es. Wir sind stark genug.«

»Und was hat sich verändert?«

»Damals hatte ich keinen erwachsenen Sohn, der von den Banu Sarraj hofiert wird«, sagt Ali knapp.

Stille senkte sich zwischen sie. Al Zaghal musterte das vertraute Gesicht seines Bruders, die Falten um Augen und Mund, die tiefen Linien in der Stirn, die jedes Jahr mehr wurden, und fragte: »So schlimm steht es?«

Der Emir hob die Schultern. »Du hast seine Ankunft erlebt.«

Alscha al Hurra und Zoraya waren normalerweise ein Thema, über das die Brüder nicht sprachen, aber jetzt konnte al Zaghal sich nicht mehr zurückhalten.

»Du kennst meine Meinung: Weiber sind fürs Bett gut, und nur dafür. Du hättest Alscha damals nie so viel Einfluss geben dürfen, und was die Chri… deine zweite Frau betrifft, ich habe nie verstanden, warum du sie unbedingt heiraten musstest. Was haben wir nun davon? Du musst dich fragen, ob dein ältester Sohn nicht besser in Fez geblieben wäre. Aber ich glaube, du irrst dich. Muhammad ist ein guter Junge. Er liebt dich.«

Heftige Gefühlsausbrüche waren nie Alis Sache gewesen - er hatte einmal gescherzt, seinen Anteil hätte er al Zaghal überlassen -, aber jetzt entgegnete er mit unverhüllter Verbitterung:

»Das mag so gewesen sein - vor vielen Jahren. Aber ich verstehe ihn durchaus. Erinnerst du dich, was wir für unseren Vater empfanden, mein Bruder?«

Al Zaghal blickte zur Seite. »Das war etwas anderes.«

»Das ist es immer.«

Ali al Atars Tochter Morayma, Muhammads Braut, besaß alle Eigenschaften, die der Koran von einer Frau forderte - Sanftmut, Bescheidenheit, Demut. Sie war gottesfürchtig und respektvoll gegenüber allen Älteren, und Alscha, die wie die meisten Fürstinnen von Granada keine dieser Eigenschaften hatte und das auch nicht für notwendig hielt, war zunächst entzückt von ihr und teilte dies Ali al Atar, mit dem sie über den Brautpreis verhandelte, sofort mit. Muhammad dagegen erblickte seine zukünftige Gattin erst, als sie im Dar al Aruhsa, dem Haus der Braut, ihren Schleier ablegte, um vor ihrem Gemahl und ihrer neuen Familie ihr Gesicht zu enthüllen. Diesmal hatten die Zwillinge darum gebeten, nicht anwesend sein zu müssen, doch ihre Mutter hatte darauf bestanden. Isabel wollte nicht, dass Alscha ihre Abwesenheit als eifersüchtige Schwäche interpretierte. Während Muhammad seine Braut, die in der Tat jenen

»züchtig blickenden, großäugigen Mädchen gleich einem versteckten Ei«, die der Prophet den Gläubigen im Paradies versprach, glich, spürte Layla einmal mehr all ihre Mängel. »Wie eine verhungerte Katze«, dachte sie.

Sie hasste jeden Augenblick der Feier, doch sie fand einen gewissen Trost darin, dass all ihre Geschwister anwesend waren, sodass sie und Tariq in der Menge untertauchen konnten. Sie hatte sich hinter dem breiten Rücken von Raschid postiert, einem Bruder, der fast so alt war wie Muhammad, um möglichst von niemandem gesehen zu werden, aber schließlich siegte ihre Neugier, und sie drängte sich an ihm vorbei, um einen Blick auf Morayma zu werfen, als Ali ihre und Muhammads Hände ineinander legte. Der Emir sprach einen Vers aus der dreißigsten Sure, und seine Stimme war die eines geübten Rezitators, was Layla an Ibn Faisal, ihren Lehrer, erinnerte.

Ibn Faisal hatte den Zwillingen erklärt, dass es eine hohe Kunst sei, den geheiligten Koran richtig zu rezitieren, und Sünde, das Wort Gottes an den Propheten durch stümperhaftes Lesen zu verunzieren. Bisher hatte er ihnen noch nicht gestattet zu zitieren, sondern sie an Gedichten üben lassen.

Abul Hassan Alis Aussprache war jedoch makellos und offenbarte die Schönheit der Verse, die Layla mit der Schärfe eines Schwertes trafen. » Und zu seinen Zeichen gehört, dass er euch von euch selbst Gattinnen erschuf, auf dass ihr ihnen beiwohnet, und er hat zwischen euch Liebe und Barmherzigkeit gesetzt. Siehe, hierin sind wahrlich Zeichen für nachdenkende Leute.«

Muhammad löste Moraymas Schleier zur Gänze. Layla starrte zu Boden. Tariq hatte sie inzwischen wiedergefunden und ergriff ihre Hand. In der wortlosen Verständigung von Zwillingen schauten sie einander an, hielten einander fest, und so gelang es ihnen, den Tag in aller Selbstbeherrschung zu überstehen.

Am nächsten Tag gingen die Feierlichkeiten weiter, aber sie brauchten nicht mehr daran teilzunehmen. Also wanderten sie ungewohnt ziellos durch die Alhambra und beschäftigten sich damit, ihre Lesekünste an den zahllosen Gedichten und Suren zu erproben, die überall an den Wänden geschrieben standen.

Gewöhnlich fand Layla das recht unterhaltsam, doch weder sie noch Tariq waren mit den Gedanken ganz bei der Sache.

»Ich heirate nie«, sagte sie und starrte auf die sechs Sternenreihen an der Kuppel, die sich über ihnen wölbte, so fein und gebrochen wie ein gewaltiges Netz, das über der Alhambra lag.

»Unsinn«, erwiderte Tariq. »Alle Mädchen heiraten.«

»Ich will aber nicht, und im Übrigen kann ich auch gar nicht, so wie ich aussehe.«

Tariq zog an ihrem Haar. »Das ist in Ordnung«, sagte er großzügig. »Mach dir keine Sorgen. Niemand wird es wagen, die Schwester des Emirs von Granada abzulehnen. Ich mache das schon, ich verheirate dich.«

Sie waren leider nicht allein, sonst hätte Layla sich dieser Gönnerhaftigkeit wegen auf ihn gestürzt; also musste sie sich damit begnügen, ihn in den Arm zu kneifen. »Wie kommst du darauf, dass du Emir wirst, du kleines Nichts?« In diesem Jahr war sie ein wenig größer als er, und sie machte sich diesen Umstand oft zunutze.

Tariq wollte sich auf sie stürzen, doch seine Schwester wich ihm aus. Sie rannte los, und einige der Sklaven, die mit der Art Verfolgungsjagd vertraut waren, die sich nun im Saal der Botschafter entwickelte, und damit beschäftigt waren, den Boden zu säubern, warfen den Kindern indignierte Blicke zu. Schließlich verfing sich Laylas Fuß in einem Teppich; sie stürzte und zog Tariq, der sie eben erreicht hatte, mit sich. Beide landeten prustend auf dem weichen Gewebe.

»Natürlich werde ich Emir«, keuchte Tariq, »Mutter hat es mir versprochen.«

»Aber du hast ihr doch nichts von…«

»Nein«, unterbrach er seine Schwester wütend. »Sie hat es mir gestern gesagt, als ich nicht bei der Hochzeit dabei sein wollte.«

Layla hatte keine Lust, über die Hochzeit zu sprechen oder darüber, wer Emir werden würde. Also widmete sie sich wieder dem Studium der Wände. Plötzlich fiel ihr etwas auf. Sie legte den Kopf schief, runzelte die Stirn.

Die Zwillinge waren selbstverständlich noch zu jung, um den Koran zur Gänze zu lesen, aber durch die Gebete und die Zitate, die ihr Lehrer im Unterricht verwendete, erkannten sie mittlerweile bestimmte Suren wieder, ganz abgesehen davon, dass jeder gläubige Moslem oft und gerne Zitate im Munde führte.

»Tariq«, sagte Layla verwirrt, »das ist die Schutzsure.«

Er starrte auf die Schriftzeichen. »Und?«

»Warum steht sie hier?«

Vor ihnen an der Wand war die Sure zu lesen, die Schutz vor den Mächten der Dunkelheit gewährte, verbunden mit dem Namen des ersten Emirs aus dem Geschlecht der Banu Nasr, Muhammad Ibn al Ahmar.

»Im Namen Allahs, des Erbarmers, des Barmherzigen! Möge Allah unseren Herren Muhammad und sein Gefolge segnen und ihm das Seelenheil gewähren. Sprich: Ich suche Zuflucht beim Herrn des Morgengrauens, vor dem Übel dessen, was er erschaffen, vor dem Übel der Nacht, wenn sie naht, vor dem Übel der Zauberinnen, die auf Knoten blasen, vor dem Übel des Neiders, wenn er neidet.«

Die Schutzsure wurde gewöhnlich benutzt, um böse Geister fern zu halten, meistens auf nächtlichen Reisen, in Wochenbetten oder bei Krankheiten. Sie stand auch manchmal an Türen.

Was sie im Herzen der Alhambra zu suchen hatte, konnte sich Layla beim besten Willen nicht erklären. Sie berührte vorsichtig die Schriftzeichen, fuhr die kunstvollen Verschlingungen mit der Hand nach und runzelte die Stirn. Der Stein erschien ihr ungewohnt kalt. Plötzlich schrak sie zusammen. Tariq, der ebenfalls über der Sure gegrübelt hatte, fragte verblüfft: »Was hast du?«

»Hast du nichts gehört?«

Sein verwunderter Gesichtsausdruck war ihr Antwort genug.

Layla, die nicht wollte, dass er sie wegen ihrer Schreckhaftigkeit neckte, meinte ablenkend: »Lass uns Ibn Faisal nach der Sure fragen.« Und sie zog ihn fort. Nur mit Mühe widerstand sie dem Drang, sich noch einmal umzudrehen. Ihr war, als hätte sie wieder das Lachen vernommen, das Lachen aus dem Garten.

Der ehrwürdige Ibn Faisal war an diesem Tag nicht zu finden.

Möglicherweise, mutmaßten die Zwillinge, hatte er die Feierlichkeit zu einem Ausflug in die Stadt genutzt. Vielleicht hätten sie ihre Frage rasch vergessen, doch sie brauchten etwas, das sie von der Zurückweisung durch Muhammad ablenkte, und das Geheimnis um die Sure bot sich dazu an.

Also wurde der gelehrte Ibn Faisal am nächsten Tag von zwei ungeduldigen Kindern überfallen, die ihn mit der Frage bestürmten, warum Muhammad Ibn al Ahmar, der erste Bauherr der Alhambra, es für nötig befunden hatte, die Schutzsure inmitten des Palastes unterzubringen. Man konnte sofort erkennen, dass ihm dieses Thema unangenehm war.

»Euer Vorfahre war ein großer Krieger und weiser Mann«, äußerte er unbehaglich. »Er wird seine Gründe gehabt haben.«

Layla war enttäuscht. Eine derartige Auskunft hätten sie auch von Fatima bekommen. Oder vielleicht auch nicht. Fatima war eine Klatschbase, die voller Geschichten steckte, und insofern wohl die geeignetere Auskunftsquelle. Also beschränkte Layla sich darauf, ehrfurchtsvoll dem Vortrag Ibn Faisals über die Bedeutung von ilm, Wissen, zu lauschen, und zog mit Tariq anschließend zu Fatima.

Ihre Amme klatschte in die Hände, ein weiteres Mittel, um die Geister abzuwehren. »Es wird wegen des Fluches sein«, flüsterte sie geheimnisvoll. Die Zwillinge blickten sich entzückt an; das klang besser, als sie gehofft hatten. »Was für ein Fluch?«, fragte Layla.

Fatima zog die Stirn in Falten, wie sie es immer tat, wenn sie ihre Zuhörer tief beeindrucken wollte. »Es heißt, dass der gesegnete Muhammad nicht der Erste war, der auf dem roten Hügel baute. Vor ihm herrschten die verdammten Berber, die Banu Ziri, und einer von ihnen, Badis, vergaß sich so sehr, dass er nacheinander einen Juden und dessen Sohn zu Wesiren machte.«

Natürlich hatten die Zwillinge schon von Samuel ha Levi gehört oder Ismail Ibn Nagralla, wie sein arabischer Name gelautet hatte, dem berühmten jüdischen Wesir von Granada. Der Nagid, wie ihn seine Zeitgenossen und die Geschichtsschreiber bezeichnet hatten, war auch als Dichter und Gelehrter berühmt gewesen, und Ibn Faisal hatte seine jungen Schüler bereits mehrere Gedichte Samuels rezitieren lassen. Doch Samuel ha Levi war, soweit sie wussten, friedlich in seinem Bett gestorben, und keine Geschichte brachte ihn mit irgendwelchen Flüchen in Verbindung.

»Ich weiß schon«, sagte Tariq und sprach Laylas Gedanken aus,

»Ismail Ibn Nagralla. Aber was hat der mit Flüchen zu tun?«

»Nicht er«, verkündete Fatima in ihrer tiefsten Stimmlage,

»sein Sohn, Jusuf. Jusuf war voller Stolz und Hochmut und führte gotteslästerliche Reden. Er ließ seine Glaubensgenossen sogar Waffen tragen und wagte es, einen Palast errichten zu lassen, der prächtiger wurde als der seines Herrn, des Emirs. Da war das Maß voll, und die Berberfürsten, die Sinhadja, stürmten gemeinsam mit dem Volk die Residenz des Juden… Sie kreuzigten ihn am Stadttor und schlugen vor seinen Augen Tausende seines Volkes tot. Es heißt aber, dass Jusuf, bevor er starb, Volk und Herrscher von Granada verfluchte und prophezeite, sein Geist würde nicht ruhen, bis auch der letzte Araber aus Granada vertrieben und die Juden gerächt wären.«

Das war die schaurigste Geschichte, die Fatima den Zwillingen je erzählt hatte, und sie waren gebührend beeindruckt. Außerdem erwies es sich als kluger Schachzug, Ibn Faisal davon zu berichten, denn nun fühlte er sich in seiner Ehre getroffen. Er rückte seinen grünen Gelehrtenturban zurecht und schnaubte verächtlich: »Abergläubisches Geschwätz! Es war eine unglückselige Geschichte, das ist alles. Wir hatten in al Andalus nie Schwierigkeiten mit den Juden, nicht vorher und nicht nachher. Niemals haben wir sie oder die Christen gezwungen, sich zum wahren Glauben zu bekennen, nicht zu Zeiten des gesegneten Kalifats und nicht in den Zeiten der taifa, der Stadtstaaten. Ismail Ibn Nagralla war ein großer Wesir. Aber die Juden Waffen tragen zu lassen, das ging zu weit, und da kam es eben zu Gewalttätigkeiten. Eine bedauerliche Entgleisung in der glorreichen Geschichte von al Andalus. Doch das braucht euch nicht zu kümmern, schließlich herrschten damals die Sindhadja, nicht die Banu Nasr, und von den Berbern war nie Gutes zu erwarten.«

»Aber dieser Palast, den Jusuf da baute…«, begann Layla zögernd, und Tariq fuhr eifrig fort: »War das die Alhambra?«

»Unsinn!«, sagte Ibn Faisal scharf. »Ihr wisst doch alle beide genau, wer die Alhambra gebaut hat. Muhammad Ibn al Ahmar und seine Nachfolger bis zu Muhammad ben Jusuf, der sie vollendete. Die ganze Geschichte ist heillos übertrieben, und jetzt will ich nichts mehr davon hören.«

Die Zwillinge sahen sich an. Es gab Zeiten, wo sie Ibn Faisal so lange bedrängen konnten, bis er um des lieben Friedens willen nachgab, aber heute war dies nicht der Fall. Sie gehorchten und übten ihre Schreibkünste, statt weiter von der Vergangenheit zu sprechen. Später saßen sie an einem der künstlichen Bäche und versuchten, Steine springen zu lassen.

»Glaubst du, es sind wirklich Tausende Juden gestorben?«, fragte Layla und griff nach einem neuen Kiesel.

Tariq biss sich auf die Lippen und antwortete nicht. Er warf seinen eigenen Stein, der fünfmal auf der Wasseroberfläche tanzte, bevor er versank.

»Der Koran sagt«, fuhr das Mädchen fort, »wir müssen die Juden beschützen, weil sie das Volk der Schrift sind, selbst wenn sie sie verfälschen. Warum…«

»Vielleicht war er einfach ein böser Mann, Jusuf, meine ich.«

»Tariq ben Ali«, sagte Layla und versuchte, den Tonfall ihrer Mutter nachzuahmen, wenn sie ihn tadelte - was sie selten tat -,

»sei doch nicht so einfältig.«

Das führte zu einer weiteren Streiterei und zu einer weiteren Versöhnung, und die Zwillinge dachten nicht mehr an die Geschichte von Jusuf dem Juden und seinem Fluch. Es war eine Geschichte von vielen, nur bemerkenswert, weil Ibn Faisal sich so gesträubt hatte, sie zu erzählen.

Bald danach kamen sie auf den Einfall, sich von ihrer Mutter Kastilisch beibringen zu lassen. Sie hatte es bisher vermieden, aus offensichtlichen Gründen, aber früher oder später würden die Zwillinge es ohnehin lernen müssen - warum also nicht von ihr?

Erst zu diesem Zeitpunkt wurde es Layla bewusst, dass ihre Mutter nie über ihre Vergangenheit sprach. Niemals. Sie begann nie einen Satz mit »Als ich ein Kind war«, erzählte nie von ihrer Familie oder ihrer Heimat. Ihren christlichen Namen kannten die Kinder nur deshalb, weil Alscha ihn benutzte; sie weigerte sich, Isabel de Solis »Zoraya« zu nennen. Die Zwillinge hatten sie auch nie nach ihrer Zeit als Christin gefragt, zum einen, weil sie keine andere Vergangenheit zu haben schien als ebendie, sie beide geboren zu haben, zum anderen, weil sie von allen anderen ständig an ihre Abstammung erinnert wurden und sie lieber vergessen hätten.

Isabel brachte den Zwillingen Kastilisch bei. Doch ihre Vergangenheit blieb weiterhin ein Geheimnis, und sie ermahnte ihre Kinder, die Sprache nie vor anderen zu verwenden. Tariq und Layla trösteten sich damit, dass die anderen Kinder früher oder später ebenfalls anfangen würden, die kastilische Mundart zu erlernen, und dann würden sie ihnen meilenweit voraus sein.

Das nächste Jahr brachte all die Veränderungen mit sich, die Ali befürchtet hatte: Isabella von Kastilien wurde von den Portugiesen anerkannt, der König von Portugal ließ seine Ehe mit ihrer Nichte Juana annullieren und verpflichtete sich, das Mädchen ins Kloster zu schicken, und Isabellas Gemahl Fernando wurde König von Aragon. Neue Gesandte kamen, um den Tribut zu fordern; Abul Hassan Ali weigerte sich, ihn zu entrichten. Die Lage wurde immer gespannter, und es war sehr klug von der Favoritin Zoraya, nie in der Öffentlichkeit mit ihren Kindern in ihrer Sprache zu reden, denn die Gerüchte, wonach sie beschuldigt wurde, eine heimliche Spionin zu sein, flammten wieder auf.

»Bei Allah dem Barmherzigen«, sagte Ali einmal ärgerlich, als sogar eine Gesandtschaft seiner Verbündeten in Fez auf die Bedenklichkeit einer kastilischen Gemahlin zu sprechen kam,

»selbst der Prophet, gepriesen sei sein Name, hatte einmal eine Sklavin christlicher Herkunft.«

Damit hatte er Recht, doch war dieser Hinweis ein zweischneidiges Schwert; die Gemahlinnen des Propheten hatten den Monat, den er mit der Sklavin Maria verbrachte, so übel aufgenommen, dass der Prophet in seine nächste Offenbarung als Vergeltung einen Tadel an seine Frauen einschloss: »Vielleicht gibt ihm sein Herr, wenn er sich von euch scheidet, bessere Gattinnen als euch zum Tausch, moslemische, gläubige, demütige, reuevolle, anbetende, fastende, nicht mehr jungfräuliche und Jungfrauen.«

Doch niemand hätte gewagt, die Eheschwierigkeiten des Propheten mit denen des Emirs zu vergleichen. Im Übrigen verlagerte sich die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit mehr und mehr von Alscha auf Muhammad. Er vertrat offen die Meinung, die Tributzahlungen sollten wieder aufgenommen werden, um einen Krieg abzuwehren, und die Auseinandersetzungen zwischen ihm und seinem Vater wurden immer häufiger.

Bezeichnend für die Verquertheit der Lage war, dass Alscha al Hurra von ihrer Einstellung her eigentlich an der Seite ihres Mannes - wenn nicht gar an der des viel radikaleren al Zaghal - stand, aber durch die ganze Entwicklung nicht anders konnte, als lauthals die Ansicht ihres Sohnes zu unterstützen.

Je älter die Zwillinge wurden, desto mehr graute es Layla vor ihrem zehnten Geburtstag. Sie wusste inzwischen, dass der kleine Sieg damals, der ihr außer Tariqs Gesellschaft noch Ibn Faisals reichen und fruchtbaren Unterricht eingebracht hatte, nur ein Aufschub auf Zeit gewesen war; wenn sie das elfte Lebensjahr erreichten, würde man sie und Tariq tatsächlich und endgültig trennen. Man würde sie auf das Leben einer guten Ehefrau vorbereiten, und Layla schauderte, wenn sie daran dachte, Morayma vor Augen. Moraymas süße Scheu und Nachgiebigkeit hatten angefangen, jedermann außer Muhammad zu langweilen, und sogar Alscha sollte, wenn man den Haremsgerüchten glauben durfte, den Wunsch geäußert haben, ihre Schwiegertochter möge doch nur gelegentlich etwas von dem Geist ihres kriegerischen Vaters Ali al Atar zeigen. Aber Morayma war bestrebt, jedermann alle Wünsche von den Augen abzulesen, ganz besonders Alscha, und das machte es unmöglich, ihr auf Dauer etwas übel zu nehmen. Es machte sie allerdings auch für Layla zum Schreckensbild einer möglichen Zukunft.

Laylas geheime Heldin war Wallada, die Tochter eines Kalifen, die in Cordoba gelebt und gewirkt hatte. Wallada zählte zu den größten Dichterinnen - und Dichtern - nicht nur von al Andalus, sondern der arabischen Sprache überhaupt. Statt zu heiraten, hatte sie sich ihre Liebhaber ausgesucht, und ihre heftige Affäre mit dem Dichter Ibn Zaydun - eine Beziehung, die sie und nicht er später abbrach - gehörte einschließlich der Gedichte, welche die beiden aneinander gerichtet hatten, zu den populärsten Liebeslegenden. Es war Walladas Wahlspruch gewesen, der Laylas Aufmerksamkeit ursprünglich auf sie gelenkt hatte, als Ibn Faisal ihn zitierte (selbstverständlich nur, um ein Beispiel für Walladas bevorzugtes Versmaß zu geben):

»Ich bin, weiß Gott, der edlen Dinge fähig und schreite stolz dahin.

Meinem Liebhaber gebe ich das Recht,

die Wange mir zu streicheln,

meinen Kuss gebe ich jedem, den ich will.«

Wenn es für Wallada möglich gewesen war, so zu leben, dachte Layla, müsste es für sie auch möglich sein. Allerdings rechnete sie nicht damit, je in die Verlegenheit zu kommen, einen Liebhaber wählen zu müssen. Die wundersame Verwandlung in eine Schönheit, die Fatima ihr immer wieder prophezeite, ließ weiterhin auf sich warten, und Layla fand, dass sie noch immer einer verhungerten Katze glich.

Tariq hatte mehr Glück: Er verlor die Pummeligkeit, die er als kleines Kind gehabt hatte, wenn auch nicht sein so unarabisches Gesicht. Mit zehn würde er an den Übungen der Männer in der Sabika teilnehmen dürfen und einen neuen Lehrer bekommen, der ihm die adab, die umfassende Erziehung eines Moslems, vermitteln würde. Layla gab ihren Empfindungen bei dieser Perspektive keinen Ausdruck, bis die Zwillinge eines Tages auf der Südmauer standen und die Sabika beobachteten. Muhammad war dort und veranstaltete gerade ein Wettrennen mit Raschid. Tariq kniff die Augen zusammen.

»Er ist wirklich gut«, sagte er widerwillig, »aber ich werde besser sein.«

Plötzlich war Layla so wütend, dass sie ihn hätte schlagen können. In ein paar Wochen würde der Unterricht für sie vorbei sein, und sie würde den meisten Teil ihrer Zeit in den Frauengemächern verbringen müssen, während er durch die Gegend jagen konnte, solange er wollte. Und alles, woran er dachte, war, dass er Muhammad in irgendwelchen Wettkämpfen besiegen wollte.

»Viel Spaß dabei«, presste sie hervor und umklammerte mit beiden Händen die Mauer, damit sie ihn nicht ohrfeigte. Tariq musterte seine Schwester verdutzt. Unerklärliche Äußerungen waren bei den Zwillingen selten und verwirrten ihn, wenn sie einmal vorkamen, umso mehr.

»Was hast du denn?«, fragte er so arglos, dass sich ihre Gereiztheit noch steigerte.

»Oh, nichts, gar nichts! Nur erwarte bitte bei deinem glorreichen Sieg nicht, dass ich dir dabei zusehe. Hier auf der Mauer ist es kalt, und die Sabika darf ich nicht betreten, wie du weißt. Und erwarte auch kein Glückwunschgeschenk, weil ich dann nämlich nicht mehr in die Stadt darf, um dir eines zu kaufen.«

»Du bist verrückt«, stellte Tariq fest. »Wir dürfen doch schon jetzt nicht allein in die Stadt. Schick eine Sklavin.«

»Allah, gib mir Geduld«, murmelte Layla. Tariq grinste.

»Wieso? Willst du freiwillig auf Moraymas Kind aufpassen?«

»Nein«, gab seine Zwillingsschwester zurück, »du bist als Säugling schon anstrengend genug.« Aber Layla konnte nicht länger zornig sein; ihre gute Laune war wiederhergestellt.

»Außerdem«, fügte sie hinzu, »glaubst du, Alscha würde mich auch nur in die Nähe ihres kostbaren Enkels lassen?«

»Eher übergibt sie ihn einer Löwin«, sagte Tariq todernst, und die Zwillinge kicherten.

Aber die Vorstellung, bald vor dem Ende ihres Lebens, so wie sie es gekannt hatte, zu stehen, ließ Layla nicht mehr los. Ibn Faisals Zukunft war gesichert - ihre Mutter hatte versprochen, dafür zu sorgen, dass er als geehrter Gast bleiben konnte -, sodass ihn in diesen Wochen weniger das Ende seiner Tätigkeit als Laylas ständige Fragen plagten.

»Wenn, wie Ibn Hazm sagt, in den Augen Allahs niemand größer ist als der Gelehrte, der anderen sein Wissen vermittelt, wieso beugt sich der Gelehrte dann vor dem Fürsten?«

»Weil Gelehrte den Platz von Fürsten kennen, aber Fürsten nicht den Platz von Gelehrten. Erinnert euch immer daran, es gibt keinen größeren Schatz als ilm, Wissen.«

»Aber wieso hat dann Ibn Hazm eine Streitschrift gegen Ismail Ibn Nagralla geschrieben, wo er ihn doch selbst als den gelehrtesten Mann bezeichnet hat, der ihm je begegnet sei? Das heißt doch, dass Ismail Ibn Nagralla in den Augen Allahs…«

Ibn Faisal seufzte. »Ibn Hazm«, erläuterte er und fragte sich, ob das immer wieder aufflammende Interesse dieses Mädchens für die beiden jüdischen Wesire von Granada nicht ein schlechtes Zeichen war, »verfasste diese Streitschrift nicht gegen den Gelehrten Ismail Ibn Nagralla, sondern gegen den Privatmann Samuel ha Levi, der es vorher tatsächlich gewagt hatte, eine Abhandlung über Widersprüche im Koran zu verfassen. Kein Wunder, dass sein Sohn es später schaffte, die gesamte Sinhadja mit seinen gotteslästerlichen Sprüchen zu beleidigen.«

»Besitzt unsere Bibliothek ein Exemplar?«, erkundigte sich Layla mit einer so lebhaften Neugier, dass sich Ibn Faisal zu einem ernsthaften Tadel veranlasst sah.

»Wenn dem so sein sollte, dann wäre eine derartige Schrift keine Lektüre für junge Mädchen - oder überhaupt für unreife Köpfe«, fügte der Lehrer hastig hinzu, als er sah, wie Tariq den Mund öffnete.

Layla fragte nicht weiter, doch sie vergaß kein einziges Wort.

Zum ersten Mal in ihrem Leben empfand sie etwas wie Eifersucht auf ihren Zwillingsbruder, ihr anderes Selbst, und das Gefühl erschreckte sie zutiefst. Es legte nahe, dass sie und Tariq nicht länger gleich waren, dass es eine Kluft zwischen ihnen gab, und das konnte sie nicht akzeptieren.

Daher stand sie, als Tariq zum ersten Mal zur Sabika ging, auf der Mauer und schaute ihm gemeinsam mit ihrer Mutter nach, fest entschlossen zu beweisen, dass es so etwas wie Eifersucht für sie nicht gab. Ihr Vater war an diesem Tag nicht in Granada; die Bauern an der Grenze hatten sich beklagt, dass die Raubzüge der Kastilier diesmal das erträgliche Maß überstiegen, und er wollte sich selbst ein Bild davon machen. Es war seit ein paar Jahren sowohl von granadischer als auch von kastilischer Seite üblich, etwa dreitägige Ausflüge über die Grenze zu unternehmen, dabei einige Felder zu verwüsten und so viel Beute wie möglich einzusacken. Wer damit angefangen hatte, spielte keine Rolle mehr; wichtig war, dass auf jeden Zug der einen Seite einer der anderen erfolgte, wobei beide das nicht als offizielle Kriegserklärung auffassten.

Der Emir war also fort, und damit war Muhammad der Ranghöchste auf der Sabika. Während Layla und ihre Mutter außerhalb der Hörweite im Wind standen und die jungen Männer beobachteten, teilte Muhammad Tariq sein Pferd zu. Tariq warf einen ungläubigen Blick auf die sanfte, braune Stute, die er gut kannte; damit wurde den Kindern innerhalb der Zitadelle das Reiten beigebracht. Er lehnte ab und forderte ein anderes Tier.

»Du bist noch zu jung, um ein anderes zu reiten«, sagte Muhammad ruhig.

»Bin ich nicht!«, protestierte Tariq aufgebracht. Von der Mauer aus bemerkte Layla nur, dass er sehr aufgeregt war. »Ich kann ein echtes Rennpferd reiten, sogar… sogar deines!«

Die Umstehenden schwiegen mittlerweile alle und hielten den Atem an. Niemand außer Muhammad hatte es bisher fertig gebracht, den feurigen Tadsch-al-Muluk zu zähmen, ein Geschenk des Herrschers von Fez, ein Pferd, das die unbarmherzige Wüste noch in sich trug.

»Du bist nicht nur jung, sondern auch dumm«, entgegnete Muhammad langsam. »Er würde dir die Knochen brechen.«

Tariq reckte sich ein wenig. »Warum sagst du nicht die Wahrheit«, gab er herausfordernd zurück. »Du hast Angst, dass ich es schaffen könnte, weil du eifersüchtig auf mich bist. Genau wie deine Mutter.«

Einige Sekunden lang stand Muhammad still da. Dann sagte er tonlos: »Also gut, versuch es.«

Ein anderer seiner Halbbrüder, Raschid, näherte sich Muhammad und flüsterte: »Das kann doch nicht dein Ernst sein…«

»Lass ihn nur«, sagte Muhammad. »Vielleicht lehrt es ihn eine Lektion über Manieren.«

Unterdessen war Tariq zu Tadsch-al-Muluk gegangen. Er stand vor ihm, legte vorsichtig eine Hand an seinen muskulösen Hals, sprach leise auf ihn ein, um ihn zu beruhigen, wie er es gelernt hatte. Der Hengst war in bester Verfassung, sein Fell glänzte wie Seide. Bei Tariqs Berührung schüttelte er sich und schnappte nach ihm. Muhammad trat zu Tadsch-al-Muluk und hielt ihn fest, damit Tariq aufsteigen konnte. Als er im Sattel saß, sagte Tariq kühl: »Danke, aber ich brauche keinen…«

Weiter kam er nicht. Muhammad ließ los. Und Tadsch-al-Muluk brach aus.

Er keilte nach hinten aus, versuchte, Tariq über seinen Kopf zu werfen; er tänzelte, bäumte sich auf, raste über den ganzen Platz. Alle anderen Anwesenden waren längst zurückgewichen; Layla und ihre Mutter standen in stummem Entsetzen auf der Mauer. Da Tariq nicht sofort abgeworfen wurde, hoffte Layla verzweifelt, dass es ihm gelingen würde, Tadsch-al-Muluk tatsächlich in seine Gewalt zu bringen.

Aber er war erst zehn Jahre alt und kein ebenbürtiger Gegner für diesen Hengst. Als das Pferd ein weiteres Mal nach hinten auskeilte, stürzte Tariq und flog über seinen Kopf hinweg auf den Platz. Dort blieb er liegen und rührte sich nicht. Layla hielt es nicht länger auf ihrem Beobachterposten. Sie stürzte die nächste Treppe hinunter und rannte zum nächstgelegenen Tor.

Bis sie bei der Sabika angelangt war, ging es Tariq wieder so gut, dass er sich aufsetzen konnte. Er hatte sich, so stellte sich später heraus, das linke Bein gebrochen, war aber ansonsten unverletzt.

»Das war eine der größten Dummheiten, die du je gemacht hast«, sagte Layla streng zu ihm, dann fiel sie ihm um den Hals.

»Nein«, erwiderte Tariq, immer noch ein wenig atemlos, »das war die allergrößte.«

»Das war Mord«, sagte eine Stimme hinter ihnen. Layla drehte sich um und erblickte ihre Mutter. Nur Isabels eiskalte Augen waren zu sehen; der Rest ihres Gesichtes war verhüllt, was Layla sofort daran erinnerte, dass sie vergessen hatte, sich ebenfalls zu verschleiern. Sie war jetzt zehn, und es waren nicht nur Familienmitglieder anwesend.

Isabel ging auf Muhammad zu, bis sie nur noch etwa eine Armlänge von ihm entfernt war. Dann rief sie laut, dass man sie noch in der Zitadelle hören konnte: »Abu Abdallah Muhammad, Ihr habt das mit Absicht getan. Ich klage Euch des Mordversuchs an meinem Sohn an. Für dieses Verbrechen werdet Ihr bezahlen!«

Muhammad sagte leise etwas zu ihr, aber keiner der Zwillinge, die ihre Mutter in ihrem Zorn kaum wieder erkannten, konnte es verstehen, denn nach einer Schrecksekunde hallte der ganze Platz vom erregten Protest der jungen Männer wider. Einige allerdings äußerten Zweifel. Die Feindseligkeit, die in der Luft lag, war für alle Anwesenden spürbar.

Isabel bedeutete Layla, Tariq beim Aufstehen zu helfen und ihn zu stützen. Dann zog sie sich mit den Zwillingen zurück, bis in ihre Gemächer, und verbarrikadierte sich dort, da sie, wie sie erklärte, Alscha und ihrem Sohn einen weiteren Anschlag zutraute. Das war die Lage in der Alhambra, als Abul Hassan Ali mit al Zaghal und der Nachricht zurückkehrte, dass der Krieg nun unmittelbar bevorstünde.

Abul Hassan Ali hatte bei seinem Zug zur Grenze festgestellt, dass die Kastilier diesmal nicht nur eines, sondern gleich mehrere Dörfer überfallen und sich nicht auf das Ausplündern beschränkt, sondern alle Häuser in Brand gesteckt und die Einwohner niedergemetzelt hatten.

Das erforderte einen Gegenschlag, der diesen an Härte übertraf und den Bauern in Zukunft die Sicherheit verschaffte, die sie brauchten, zumal im Winter.

Also entschied sich Ali, kein Bauerndorf, sondern die kastilische Grenzfestung Zahara, von der die Soldaten gekommen waren, zu überfallen. Da nun schon seit Jahren Feindseligkeiten hin und her gingen, waren die Christen selbstverständlich auf der Hut, aber sie rechneten nicht damit, dass der Emir ausgerechnet während eines Schneesturms und mitten in der Nacht angreifen würde.

Als der Tag anbrach, war Zahara in Alis Hand. Er ließ einen Teil seiner Soldaten zurück, um die Festung zu halten, und schickte nach al Zaghal mit der Bitte um Verstärkung. Al Zaghal handelte rasch, und so kam es, dass die beiden Brüder mit einer Reihe christlicher Gefangener in der Hauptstadt einzogen, in dem Bewusstsein, dass der lange verzögerte Krieg nun begonnen hatte.

»Es war Absicht«, sagte die zweite Gemahlin des Emirs kalt, ohne die geringste Erregung, »er wollte Tariq umbringen. Er hat die ganze Angelegenheit geplant, genau zum richtigen Zeitpunkt, und wenn nicht er, dann sie.«

Ali schüttelte den Kopf. »Ich kann es nicht glauben. Muhammad schwört, dass es ein Zufall war. Es mag sein, dass er dich und deine Kinder hasst, Zoraya, aber du bist meine Gemahlin, und sie sind seine Geschwister. Er würde ihnen niemals ein Leid zufügen.«

Jetzt stieg Farbe in ihre blassen Wangen. »Du bist blind«, erklärte sie leidenschaftlich, »völlig blind. Ich wusste schon immer, falls wir das Glück haben sollten, bis zu deinem Tod zu überleben, dann wird Alscha mich und meine Kinder noch in derselben Stunde ebenfalls sterben lassen, sie wird keine Rivalen für ihren Sohn dulden, und Muhammad ist ihr williges Werkzeug. Das war er immer.«

Sie fiel vor ihm auf die Knie. »Ich weiß, dass du alle deine Söhne liebst, Geliebter, und deshalb habe ich geschwiegen, bis jetzt. Aber was Tariq geschehen ist, zeigt mir, dass ich nicht länger schweigen darf. Du musst eine Entscheidung treffen.

Wenn du Alscha und Muhammad leben lässt, verurteilst du uns zum Tode. Dann lass uns gleich sterben, alle zusammen, aber lass mich nicht Tag für Tag darauf warten, dass ich meine Kinder ermordet sehe.«

Zuerst war Alis Gesicht weicher geworden, nachgiebiger, und sie hatte Hoffnung geschöpft. Aber nun verhärtete es sich wieder. »Isabel«, sagte er sehr ernst und gebrauchte ihren alten Namen, »was du von mir verlangst, ist unmöglich. Ich kann nicht zwischen meinen Kindern wählen und eines davon umbringen lassen. Aber sei versichert, ich werde dafür sorgen, dass keinem von euch etwas geschieht.«

»Wie?« Sie hatte geglaubt, sie könne nicht mehr weinen - es war so viele Jahre her -, doch sie hatte sich geirrt. Es stand zu viel auf dem Spiel. Den Blick starr auf Ali geheftet, liefen ihr die Tränen über die Wangen, und er war erschüttert.

»Ich werde Muhammad unter Arrest stellen«, sagte der Emir,

»bis diese Angelegenheit geklärt ist.«

Don Rodrigo Ponce de Leon, Marquis von Cadiz, blickte aus den Bergen von Loja auf die Stadt Alharna herab. Der winterliche Halbmond ließ sie wie eine reife Frucht erscheinen, die darauf wartete, gepflückt zu werden, und er zweifelte nicht daran, dass seinem Unternehmen Erfolg beschieden sein würde.

Es war ein waghalsiger Plan, und wäre es nach dem vorsichtigen Fernando gegangen, hätte der Marquis von Cadiz nie die Truppen bekommen, die er brauchte. Aber er war Kastilier und hatte sich an die Königin gewandt. Isabella hatte sowohl den Mut als auch die Fantasie, um eine kleine Armee auf den Vorschlag eines Mannes hin, der noch vor ein paar Jahren ihre Rivalin Juana unterstützt und sie bekriegt hatte, zu riskieren. Sie war nicht nachtragend, sie wusste, wie man Talente benutzte, und vor allem wusste sie, was sie wollte. Und sie wollte Granada.

Eigentlich, dachte Don Rodrigo und strich sich über seinen rötlichen Bart, hatten sie sich nur den Einfall des verfluchten Abul Hassan Ali zu Eigen gemacht. Ein nächtlicher Überfall, im Winter. Er war mit seinen Leuten immer nur in der Nacht marschiert, trotz der Kälte, trotz des Murrens der Männer, und bis jetzt hatte diese Taktik scheinbar auch Erfolg gehabt. Die Mauren erwarteten einen Angriff an der Grenze, nicht inmitten von Granada. Alhama lag nur einige Meilen von der Hauptstadt entfernt.

Der Marquis winkte einige seiner Leute zu sich. Bis auf etwa hundert Soldaten sollten die Truppen versteckt bleiben, bis diese Männer die Wächter von Alhama unschädlich gemacht und die Tore geöffnet hatten. Nervös fuhr sich Don Rodrigo mit der Zunge über die Lippen. Es hing alles davon ab, ob es seinen Männern gelang, ihre Leitern im Schatten der Türme ungesehen aufzustellen und in die Festung einzudringen. Wenn sie frühzeitig entdeckt wurden…

Er wartete. Es schien Stunden zu dauern, und die Kälte der Winternacht wurde mit jeder Minute unerbittlicher. Die Männer hatten Order, die maurischen Soldaten, die sie vorfanden, ausnahmslos umzubringen, und zwar so geräuschlos wie möglich.

Niemandem durfte Gelegenheit gegeben werden, Alarm zu schlagen. Deswegen hatte er nur die erfahrenen Kämpfer losgeschickt, keine von den Grünschnäbeln, die am Ende Skrupel bekommen könnten, jemanden im Schlaf zu töten. Aber jetzt gaukelte ihm seine Fantasie ebendies vor: Seine Leute zögerten, die Mauren wachten auf, sein Plan zerfiel in Trümmer… Seine Augen verengten sich. Er sah nochmals hin. Es handelte sich tatsächlich um das vereinbarte Fackelsignal.

»Die Mauren?«, erkundigte sich Don Rodrigo. »Erledigt«, erwiderte sein Hauptmann knapp. Die Torflügel öffneten sich, geräuschvoll knarrend, und für den Marquis war es fast eine Erleichterung, als Stimmen laut wurden, Geschrei sich erhob.

Bei Tagesanbruch war die Burg in christlicher Hand. Don Rodrigo indessen gönnte sich noch keine Zeit für Triumphgefühle.

Es blieb immer noch die Stadt. Die Bewohner waren hauptsächlich Kaufleute, aber es stand nicht zu erwarten, dass sie sich einfach in ihr Schicksal fügen würden. Er gab Ortega gerade Order, einen Vorstoß zu formieren, als er durch laute weibliche Schreie in unmittelbarer Nähe abgelenkt wurde.

Don Rodrigo war nicht zimperlich, und er wusste, dass es keine Kriege ohne Vergewaltigungen gab. Aber er hatte sie nicht gerne in unmittelbarer Nähe, zumal es ihn bei der weiteren Planung störte. Also betrat er den anliegenden Raum, der der Ausstattung nach dem Alkayden der Garnison gehört haben musste.

Dort hatten seine Männer inzwischen eine ganze Reihe von Frauen zusammengetrieben. Don Rodrigo gebot ärgerlich Einhalt. Eine der Frauen warf sich ihm vor die Füße und flehte um Gnade. Er verzog den Mund, das ganze Schauspiel war nicht nach seinem Geschmack, aber dies war seine große Stunde, und er würde sie sich nicht von ein paar ungehobelten Soldaten zunichte machen lassen.

»Steht auf«, sagte er in seiner eigenen Sprache zu der Frau, da er das Arabische nicht gut beherrschte. »Wir führen Krieg gegen Männer, nicht gegen wehrlose Frauen.«

Sie erhob sich langsam, und er konnte nur annehmen, dass sie ihn nicht richtig verstanden hatte, denn sie blickte ihn an und begann, hysterisch zu lachen.

»Don Ortega, sorgt dafür, dass die Männer sich zurückhalten. Wir haben noch eine Stadt zu erobern.«

Damit wandte er sich ab und verließ den Raum, während Ortegas Stimme Befehle brüllte. Inzwischen war die Sonne aufgegangen, was ärgerlicherweise auch dazu geführt hatte, dass sich jeder einzelne Bewohner von Alhama der Eroberer bewusst war. Ein Soldat meldete atemlos, dass die Bürger die Straßen, die zur Burg führten, verbarrikadiert hatten und diese Sperren mit Steinen und Pfeilen verteidigten.

Der Marquis war ungehalten. Er hatte gehofft, auch die Bürgerschaft überrumpeln zu können. Die Eroberung durfte sich nicht zu lange hinziehen, sonst erfuhr die Hauptstadt davon und schickte Hilfstruppen, bevor Alhama völlig in seinen Händen war. Einer seiner Hauptleute schlug zögernd vor, sich vorerst auf die Burg zu beschränken.

»Unsinn! Das da draußen sind keine Krieger, nur Krämer, und Ihr lasst Euch von ihnen ins Bockshorn jagen?«

Der Offizier trat verlegen von einem Bein aufs andere. »Ihr habt den Männern die Plünderung versprochen. Jetzt, wo wir die Burg und die…«

»Die Frauen haben«, vollendete Don Rodrigo verächtlich.

»Wenn es nach Euch ginge, lägen wir alle mit den Heidinnen im Bett, während Ali kommt und uns in aller Ruhe abschlachtet. Bei der Heiligen Jungfrau, hat denn keiner hier Verstand?

Wir müssen die Stadt in unsere Gewalt bringen. Danach kann geplündert werden. Ist das klar?«

»Jawohl«, murmelte der Mann eingeschüchtert.

Den ganzen Tag lang wehrte sich die Bevölkerung von Alhama.

Schließlich war nur noch die Moschee nicht in christlicher Hand, und als der Abend anbrach, zogen sich die meisten Bürger mit ihren Familien dorthin zurück.

»Verdammt«, kommentierte Ortega. »Das Ding kann ewig lange verteidigt werden. Morgen haben wir den Emir da, und dann sind Mauren hinter unseren Linien. Was sollen wir tun, Don Rodrigo?«

»Steckt die Moschee in Brand«, sagte der Marquis.

Einer der jüngeren Hauptleute wandte überrascht ein: »Aber da sind Frauen und Kinder drin, und Ihr habt doch heute Morgen gesagt…«

Don Rodrigo seufzte entsagungsvoll. Leider kam man ohne derartige Frischlinge nicht aus, und gerade junge Leute ließen sich am meisten für die heilige Sache begeistern, aber manchmal sah er den jüngeren Teil seines Offiziersstabs als schwere Geduldsprüfung an. Er ignorierte den Mann.

»Verbrennt sie«, sagte er zu Ortega. »Wer sich sofort ergibt, wird verschont, der Rest…« Ortega nickte. »Ich habe verstanden, Don Rodrigo.«

Das war das Ende von Alhama.

Layla saß im Zimmer ihrer Mutter, hinter einen Diwan gekauert, und versuchte sich in der Kunst des Stickens. Um sie herum war nicht nur die Alhambra, sondern die ganze Stadt in Aufruhr. Ihre Mutter hielt es für klug, sich jetzt nicht außerhalb ihrer Räume blicken zu lassen. Tariq hatte nun ein eigenes Zimmer, in dem er lag und sein gebrochenes Bein auskurierte, während die Soldaten des Emirs aus der Stadt zogen.

Laylas Mutter und Fatima waren mit einem Brettspiel beschäftigt, aber keine von beiden konnte sich wirklich konzentrieren, und sie schoben ziemlich lustlos ihre Figuren hin und her.

»Ich erinnere mich an Don Rodrigo«, sagte ihre Mutter plötzlich, und hinter dem Diwan schrak Layla zusammen. Isabel sprach sonst nie von ihrer Vergangenheit, und dass sie es in einem solchen Augenblick tat, zeigte, wie sehr sie aus dem Gleichgewicht war.

Fatima kam nicht dazu, darauf zu reagieren, denn der Eunuch Malik stürzte herein und meldete den erhabenen Abu Abdallah Muhammad al Zaghal an. Isabel erhob sich erstaunt und Fatima hielt den Atem an. Wenn al Zaghal in den letzten zehn Jahren auch nur mehr als fünf Sätze mit der zweiten Gemahlin seines Bruders gewechselt hatte, dann war das schon eine großzügige Schätzung. Layla, die sich hütete, irgendjemanden auf ihre Gegenwart aufmerksam zu machen, konnte sich nicht vorstellen, was ihn jetzt hierher führte.

Ihre Neugier sollte bald befriedigt werden. Al Zaghal hielt sich nie gerne mit langen Umschweifen auf, auch wenn die meisten anderen Leute es taten und es sogar zur zivilisierten Kunst des Gespräches gehörte.

»Schickt Eure Dienerin weg«, sagte er. »Ich habe mit Euch zu reden, Sejidah.«

Isabel kam seiner Aufforderung nach. Sie erwähnte nicht, dass Layla sich ebenfalls im Raum befand; das Mädchen fragte sich, ob ihre Mutter sie vergessen hatte oder aus Misstrauen gegen al Zaghal so handelte. Sie kauerte sich zusammen und versuchte, so flach wie möglich zu atmen.

»Nun, Sejid«, sagte ihre Mutter ein wenig spöttisch, »wir sind allein. Was verschafft mir die Ehre Eures hohen Besuches?«

»Muhammad«, entgegnete al Zaghal schroff. »Mein Bruder wird in der nächsten Zeit damit beschäftigt sein, die Ungläubigen aus Alhama zu vertreiben, und er hat mir während seiner Abwesenheit den Befehl übergeben. Wollt Ihr Muhammad immer noch tot sehen?«

»Ich verstehe nicht«, sagte Laylas Mutter vorsichtig, »wie Ihr das meint.«

»Bei Iblis und allen Dschinn, Weib, stellt Euch doch nicht dümmer an, als Ihr seid! Ihr habt Euch nach Kräften bemüht, dafür zu sorgen, dass nur Muhammads Tod eine Lösung für das sein kann, was Ihr mit Euch brachtet. Aber Ihr habt einen Fehler gemacht. Mein Bruder wird Muhammad nie hinrichten lassen, er wird nie den Befehl dazu geben. Doch ich werde es. Wenn Ihr…«

Isabel lachte, ein hoher, zerbrechlicher Klang. »Und das soll ich glauben? Ihr hasst mich, Sejid, Ihr habt mich immer gehasst, und ich weiß, dass Ihr Euren Neffen zumindest gern habt.

Weswegen solltet Ihr mir helfen und ihn töten?«

»Weil«, sagte al Zaghal gefährlich leise, »wir Krieg mit Euren Landsleuten haben. Weil wir uns keine weiteren Fehden mehr leisten können, sondern einig und stark sein müssen. Weil ein Emir von Granada es sich nicht erlauben kann, seinen Sohn zum Rivalen zu haben, und Ihr habt dafür gesorgt, dass die beiden sich nie wieder versöhnen werden, nicht wahr… Zoraya?«

Laylas Hände zitterten, und erst jetzt merkte sie, dass sie noch immer ihre Stickerei festhielt. Die Fäden kratzten an ihrer Haut.

Sie konnte jede Kleinigkeit wahrnehmen; den Stoff, die kühle Luft, das Parfüm ihrer Mutter.

»Warum bringt Ihr dann nicht mich um?«, erkundigte Isabel sich sachlich. »Das würde Eure Schwierigkeiten ebenfalls lösen.«

»Nein«, sagte al Zaghal hart, »sonst hätte ich es schon getan.

Ali würde für den Rest seines Lebens alle die hassen, die er für schuldig an Eurem Tod hält, und wir wären schlimmer dran als zuvor. Ihr habt ihm ein Gift eingeflößt, das er nicht mehr loswerden kann, und deswegen komme ich zu Euch. Ich werde für Muhammads Tod sorgen, heimlich, nicht öffentlich, sonst haben wir hier einen Volksaufstand. Wenn Ihr versprecht, dass Ihr mir danach bei Ali den Rücken stärkt.«

Beide schwiegen, aber Layla kam es vor, als hörte sie ein ständiges Pochen, das immer lauter wurde, bis sie begriff, dass es ihr eigenes Herz war.

»Gut«, sagte ihre Mutter schließlich, nichts weiter. Al Zaghal hielt die Unterredung damit für beendet und schickte sich an, den Raum zu verlassen, als Isabel ihm einen Pfeil hinterhersandte.

»Werdet Ihr die edle Tat selbst vollbringen oder lasst Ihr das durch einen Eurer Handlanger erledigen?«

Al Zaghals Schritte kamen abrupt zum Stillstand. Zum ersten Mal hörte Layla aus seiner Stimme etwas mehr als Verachtung oder Ungeduld heraus.

»Ich werde es selbst tun«, sagte er würdevoll. »Glaubt Ihr, ich würde zulassen, dass irgendein Bauer Hand an meinen Neffen legt? Er verdient den Tod, den er sich wünscht. Zumindest das werde ich ihm geben können.«

»Gut«, antwortete Isabel seidig. »Ich weiß ja, wie vertraut Ihr mit dem Tod seid.«

Wieder erklangen Schritte. Diesmal entfernten sie sich endgültig.

Layla hatte sich noch nie zuvor in Alschas Gemächern aufgehalten, obwohl sie wusste, wo diese sich befanden. Später konnte sie sich dennoch nie erinnern, wie sie dort hingekommen war, ihr Gedächtnis setzte erst wieder ein, als sie steif vor Alscha al Hurra stand und ungehalten gefragt wurde: »Was tust du hier?« Das war ihr selbst nicht klar. Sie war gerade dabei, ihre Mutter an deren schlimmste Feindin zu verraten, und das alles vielleicht nur einer schmerzhaften Erinnerung wegen - an die kurze Zeit zwischen dem Falkenhaus und den Gärten, in der Muhammad wahrhaftig ein Bruder gewesen war. Ihre Gedanken verwirrten sich wie die Fäden eines sich auflösenden Stoffes; sie konnte nur einen dieser Fäden ergreifen und festhalten - sie wollte Muhammad nicht tot sehen. Aber es auszusprechen fiel schwer, so schwer. Alscha winkte bereits einer Sklavin, als Layla mit ihrem Verrat herausplatzte.

»Ihr müsst dafür sorgen, dass Muhammad so bald wie möglich flieht, sonst wird er sterben!«

Alschas Hand verharrte in der Luft. Dann sammelte sie sich wieder und meinte verächtlich: »Soll das ein Versuch sein, mich und meinen Sohn noch mehr in Verruf zu bringen? Denkt deine Mutter, ich weiß nicht, dass eine Flucht wie ein Eingeständnis ihrer törichten Anschuldigungen wäre? So einfach werde ich es ihr nicht machen, das kannst du ihr ausrichten.«

Layla schüttelte verzweifelt den Kopf. »Nein, nein, man wird ihn töten, bitte, Ihr müsst mir glauben, Sejidah, man wird ihn töten.«

Irgendetwas im Ton des Mädchens ließ Alscha unsicher werden. »Sie würde es nicht wagen, den Sohn des Emirs umbringen zu lassen… selbst sie nicht…«, murmelte sie, als sei Layla nicht vorhanden, als spräche sie mit der Wand.

»Nicht meine Mutter«, sagte Layla tonlos. »Al Zaghal.«

Das wirkte wie eine Ohrfeige auf Alscha. Sie zuckte zusammen, und mit einem Mal spürte Layla, dass die Fürstin ihr glaubte.

»Al Zaghal«, zischte sie. »Ich hätte es wissen müssen. Ich habe es immer geahnt! Dieser Sohn von Iblis will selbst den Thron erben!«

Sie packte das Mädchen an den Schultern. »Wann? Wie? Was weißt du noch?«

Noch nie in ihrem Leben war Layla so sehr danach gewesen, in Tränen auszubrechen, und sie verabscheute sich dafür. Ihre Unterlippe zitterte, und Alscha ließ sie los. »Das spielt ohnehin keine Rolle mehr«, sagte sie kurz.

In den nächsten Stunden achtete Alscha darauf, Layla an ihrer Seite zu behalten, während sie die Rettung ihres Sohnes in Gang setzte, weniger aus Dankbarkeit als aus tiefem Misstrauen und dem Verdacht heraus, es könnte sich vielleicht doch um eine List der verhassten Zoraya - oder al Zaghals - handeln.

Muhammad stand unter Arrest; dank seines Standes waren die Umstände seiner Haft jedoch mehr als komfortabel. Man hatte vor seinen Gemächern einfach einige Wachen aufgestellt. Als die Abenddämmerung hereinbrach, stattete Alscha mit all ihren Frauen und der Tochter ihrer Rivalin im Schlepptau ihrem Sohn einen Besuch ab. Die Wache ließ die Sejidah anstandslos durch und machte sich auch nicht die Mühe, die Frauen zu zählen oder gar näher anzusehen.

Als die Frauen das Gemach betraten, stand Muhammad am Fenster und blickte zu den Bergen empor. Er hatte nicht die Zeit, seiner Verwunderung über den zahlreichen Besuch Ausdruck zu verleihen; während Alscha ihm fieberhaft und im Flüsterton alles erklärte, wurde er bleich, doch seine Miene veränderte sich kaum.

»Ich habe alles geregelt«, endete seine Mutter. »Draußen wartet ein Kaufmannszug auf dich; sie werden dich in ein sicheres Versteck bringen.«

»Und Morayma?«, fragte er.

»Ich habe ihr nichts erzählt. Ihr wird nichts geschehen, und deinem Sohn ebenso wenig. Nur du bist in Gefahr.«

Moraymas unausweichliche laute Klagen hätten alles ruiniert und das wusste er. Er nickte nur. Als Alscha ihm die Frauenkleidung in die Hand drückte, zögerte er kurz. Dann zog er Layla aus dem Kreis der Frauen hervor, löste ihren Schleier und blickte ihr in die Augen. »Ich danke dir, Layla«, sagte er so leise, dass nur sie es hören konnte.

Einen Moment lang erschien er ihr wieder wie der Held aus Fatimas Märchen, der in Granada eingezogen war. »Du hast Tariq doch nicht absichtlich dazu gebracht, auf dem Pferd zu reiten, oder?«, wisperte sie.

»Das genügt«, unterbrach Alscha scharf. »Jede Sekunde ist kostbar.«

Muhammad berührte kurz Laylas Wange, dann wandte er sich ab und ging in das kleine Nebenzimmer, um die Kleidung zu wechseln. Er hatte ihre Frage nicht beantwortet.

Die größte von Alschas Frauen hatte den Befehl, an seiner statt in Muhammads Gemächern zu bleiben, bis sie entdeckt wurde.

Er selbst war kein Riese, was Alschas Plänen entgegenkam.

Nach einer Weile verließen Alscha und ihr Gefolge die Räume, und wieder machte die Wache keine Anstalten, sie zu durchsuchen oder aufzuhalten. Die Wachposten, fand Layla, sahen eher gelangweilt drein und wünschten sich wahrscheinlich, an dem Feldzug gegen die Christen teilnehmen zu können; die Inhaftierung des Kronprinzen hielten sie wohl ohnehin für ungerecht und überflüssig.

Muhammad verließ die Alhambra mit einigen von Alschas Dienerinnen ohne jede Schwierigkeiten, doch Alscha behielt Layla noch eine weitere Stunde lang bei sich, um sicher zu sein, dass ihr das Mädchen nicht in den Rücken fiel. Sie sprachen nicht miteinander. Als man Layla endlich gehen ließ, war es bereits Nacht. Seit dem späten Vormittag hatte sie Alscha nicht mehr verlassen. Nun, da alles vorbei war, fragte sie sich, ob ihre Mutter sie vermisst hatte. Hatte man sie suchen lassen? Ahnte Isabel, was ihre Tochter getan hatte? Sie wird mir nie verzeihen, dachte Layla. Das taube Gefühl des Unglücklichseins, das sie den ganzen Tag umhüllt hatte, veränderte sich und wurde zu einem Brennen. Sie flüchtete zu Tariq.

Da man ihn zwang, im Bett zu liegen, war Tariq hellwach. Er setzte sich auf, als er seine Schwester sah.

»Wo warst du so lange?«, fragte er. »Wir wollten doch Schach spielen. Du hast ja keine Ahnung, wie öde es mit einem gebrochenen Bein ist.«

Layla setzte sich auf sein Bett; der mühsam errichtete Damm ihrer Selbstbeherrschung stürzte endlich zusammen, und sie brach in Tränen aus. Tariq wusste nicht, was er tun sollte. Also umarmte er sie, die sich an ihm festklammerte und immer heftiger weinte, weil es zum ersten Mal in ihrem Leben etwas gab, das sie ihm nicht erzählen konnte. Schließlich besann er sich auf seine männliche Würde und rückte ein wenig von Layla ab.

Er wusste nicht, was geschehen war, und das beunruhigte ihn; gewöhnlich hatte er keine Schwierigkeiten zu erkennen, was Layla verärgert oder bestürzt hatte. Außerdem hatte sie seit Jahren nicht mehr geweint; es passte nicht zu ihr, und um diesen rätselhaften Zustand schnellstmöglich zu beenden, zerbrach er sich den Kopf nach einer Ablenkung. Schließlich kam ihm eine Idee.

»Itimad war vorhin hier, mit Süßigkeiten«, sagte er und hob die Schale vom Boden auf. »Ich mag keine Schokolade mehr. Da, nimm schon. Du bist ohnehin zu dünn.«

Layla musste unter Tränen lachen. »Und du bist so ein schlechter Lügner, Tariq ben Ali«, sagte sie. Sie griff nach einer gezuckerten Frucht, und die Süße begann den Salzgeschmack aus ihrem Mund zu vertreiben.

Die Zwillinge erzählten ihrer Mutter später, Layla sei verbotenerweise in der Stadt gewesen und habe dann Tariq besucht. Isabel äußerte sich nicht dazu, und der Gedanke, dass ihre Mutter ahnte, was geschehen war, ließ Layla nicht mehr los, ebenso wenig wie der Alptraum, der sie in der Nacht nach Muhammads Flucht heimsuchte.

Sie träumte, sie ginge in den Gärten spazieren, mit Morayma, die ihr Kind bei sich hatte. Plötzlich warf Muhammads Gemahlin ihren Sohn in die Luft, und er verwandelte sich in eine Taube, die davonflatterte. Layla starrte Morayma verwundert an.

»Aber ich bin doch eine christliche Spionin«, sagte ihre Schwägerin. »Weißt du das nicht?«

Dann war sie verschwunden. Layla stand allein inmitten von Pflanzen aller Art, die immer näher rückten. Jemand lachte, und sie wusste, dieses Lachen hatte sie schon einmal gehört; sie konnte sich nur nicht erinnern, wo und wann. Das Lachen ging in ein Flüstern über, das sie zunächst nicht verstand, bis sie begriff, dass es ihr Name war, immer wieder: »Layla Layla Layla Layla…«

Sie war froh, als der lang gezogene Ruf der Muezzins sie weckte. Obwohl sie sich scheute, irgendjemandem von ihren Träumen zu erzählen, fragte sie Fatima, woran man einen Zauber erkenne, der auf einem liege. »Nun, da gibt es mehrere Anzeichen«, erwiderte die Amme und begann bereitwillig, sie alle aufzuzählen, bis Layla, die keines davon an sich wiederfand, sie unterbrach.

»Und wer verhängt solche Zauber?«

»Oh, von Iblis angefangen bis zum niedersten Dschinn gibt es jede Menge böser Geister, die bestrebt sind, einen Menschen zu unterjochen. Aber du brauchst dich nicht zu fürchten. Wer Allah um Hilfe bittet, dem kann nichts geschehen. Und im Übrigen müsstest du erst so unachtsam sein, einen Geist zu beschwören, also hüte dich nur vor Anrufen und Knotenblasen, und…«

»Ich fürchte mich überhaupt nicht«, schnitt Layla ihr unwillig das Wort ab. Fatimas Gerede erschien ihr inzwischen nicht nur weitschweifig, sondern auch töricht. Sie hätte sich gerne bei Ibn Faisal erkundigt, aber sie wusste, dass er Zauberei grundsätzlich für Aberglauben hielt. Er würde sich Sorgen um ihren Verstand machen, und er mochte Recht damit haben. Sie entschied sich, ihre Träume künftig zu ignorieren; es gab genügend andere Dinge, die sie beschäftigten.

Abul Hassan Ali und Don Rodrigo Ponce de Leon hatten bereits in ihrer Jugend gegeneinander gekämpft; als Heerführer seines Vaters Said hatte Ali den jungen Rodrigo bei Estepa besiegt, aber einen Monat später hinnehmen müssen, dass dieser den Jabal Tariq, den die Christen Gibraltar nannten, eroberte. Infolgedessen kannte er die Fähigkeiten Don Rodrigos und wusste, dass dieser kein Gegner war, den man unterschätzen durfte.

Der Kastilier hatte die Leichen der gefallenen Stadt- und Burgbewohner sorgfältig um die Stadtmauern verteilen lassen. Alle möglichen Aasfresser hatten sich bereits eingefunden, und für Alis Armee war dieses Bild bei ihrer Ankunft ein unerträglicher Anblick. Sie warteten seinen Befehl nicht ab, sondern stürmten wutentbrannt auf die Stadtmauern los, und Abul Hassan Ali blieb nichts anderes übrig, als ihnen zu folgen.

Damit verlor er den Vorteil eines geplanten, organisierten Angriffs, während der Marquis von Cadiz immer noch Herr der Lage war. Überdies war Alhama - wenn die Verteidiger nicht gerade schliefen - eine hervorragend angelegte Festung, die nur sehr schwer erobert werden konnte. Die Attacken der Granader wurden wieder und wieder abgewehrt, und am späten Nachmittag hatte sich die Lage immer noch nicht verändert.

Doch Abul Hassan Ali hatte seine Männer inzwischen wieder völlig im Griff und befahl das Ende der Angriffe. Er hatte die Zeit genutzt und einen neuen Plan entwickelt. Während sie sich ausruhten und frische Kräfte sammelten, wandte er sich an Ali al Atar, Muhammads Schwiegervater und einen der erfahrensten Soldaten im Land.

»Sag den Leuten«, begann er mit gedämpfter Stimme, »sie sollen sich darauf vorbereiten, einen Damm zu bauen. Und sondere genügend Truppen ab, die sicherstellen, dass sie niemand daran hindert.«

»Einen Damm?«, wiederholte Ali al Atar verblüfft. Dann verstand er. Alhama hatte keine Quellen und wenige Zisternen; es bezog das nötige Wasser ausschließlich aus dem Fluss, der an den Stadtmauern vorbeifloss.

»Wir werden sehen«, sagte sein Fürst, »wie lange die Christen es ohne Wasser und ohne Nahrungsnachschub aushalten.«

Don Rodrigo Ponce de Leon stand auf den Zinnen der Burg, die er erobert hatte, und starrte auf das feindliche Feldlager unter sich. Neben ihm standen zwei seiner Hauptleute. Ihre Rüstungen und selbst die Tuniken darunter waren durchtränkt von Blut, Dreck und Wasser - das Ergebnis des fruchtlosen Versuches, die Mauren von ihrem Dammbau abzuhalten. Als Don Rodrigo begriff, was Abul Hassan Ali vorhatte, konnte er sich nicht länger auf den reinen Abwehrkampf beschränken. Er hatte einen Ausfall befohlen und ihn selbst angeführt. Doch außerhalb der Mauern waren die Moslems in der Überzahl, und Ali hatte die Gelegenheit erhalten, die christlichen Streitkräfte um ein gehöriges Maß zu dezimieren. Was, so vermutete Don Rodrigo, auch einer der Gründe für den Dammbau gewesen war.

Er kniff die Augen zusammen.

»Von jetzt an«, sagte er barsch, »bleiben wir in der Stadt. Sie dürfen uns nicht noch einmal herauslocken, ist das klar?«

»Aber das Wasser…«, begann Ortega de Prado. Don Rodrigo deutete auf den Fluss. »Seht Ihr das? Dieser heidnische Bastard war nicht damit zufrieden, den Fluss zu stauen, umzuleiten und seine Truppen dort zu postieren, nein, er hat auch noch dafür gesorgt, dass unsere Leichen das Wasser vergiften. Selbst wenn wir die Mauren auch nur eine Stunde lang genügend zurückdrängen könnten, um uns neues Wasser zu holen, würde es nichts nützen.« Ortegas Gesicht sah grau aus. Er leckte sich die Lippen. »Und - was machen wir nun?«

Don Rodrigo zog langsam einen seiner Kettenhandschuhe aus und blickte zum Himmel. Es war wenigstens nicht Sommer.

Aber die ersten Sterne waren deutlich zu erkennen, es gab keine Wolken; die Zeit der Stürme war offensichtlich vorüber.

»Wir warten auf unsere Verstärkung«, sagte der Marquis. »Und sparen jeden Tropfen Wasser, der sich finden lässt. Wasser gibt es nur noch für die Soldaten und die Pferde. Es tut mir Leid um die Verwundeten, aber die kampffähigen Männer kommen zuerst. Für die Gefangenen gibt es überhaupt nichts. Haben wir uns verstanden?«

Den Mienen seiner Hauptleute nach zu schließen, hatten sie ihn in der Tat verstanden.

Während die Belagerung ihren Lauf nahm, beunruhigte den Emir mehr und mehr das Ausbleiben jeglicher Informationen aus Granada. Er hatte al Zaghal gebeten, ihn über weitere Bewegungen an der Grenze auf dem Laufenden zu halten, denn er konnte sich nicht vorstellen, dass ein erfahrener Kommandant tief ins Innere eines feindlichen Landes marschierte, wo er von jedem Nachschub abgeschnitten sein würde, ohne mit Verstärkung irgendeiner Art rechnen zu können. Unter anderen Umständen wäre er, Ali, zweifellos im Vorteil gewesen, denn er konnte beliebig lange vor Alhama ausharren; aber der Marquis von Cadiz war kein Dummkopf. Etwas würde geschehen.

Er verspürte widerwillige Achtung vor seinem christlichen Feind; er konnte sich vorstellen, wie es mittlerweile in Alhama aussah. Dennoch zeigten sich jeden Tag die Soldaten in ihren Rüstungen, welche die Sonne widerspiegelten, auf den Mauern.

Schließlich entschied Ali, nicht länger zu warten. Die Christen mussten mittlerweile zu geschwächt sein, um einem erneuten Sturmangriff zu widerstehen. Er hatte sich entschlossen, eine Seite aus Don Rodrigos eigenem Lehrbuch zu verwenden. Während er die scheinbare Hauptattacke anführte und so alle Aufmerksamkeit auf sich lenkte, würden ausgewählte Männer versuchen, heimlich die andere Seite der Mauer, die wegen ihres steilen, felsigen Untergrunds als unzugänglich galt, zu erklimmen, in die Stadt einzudringen und die Tore zu öffnen.

Sie kamen etwa bis zur Stadtmitte. Dann schlossen die Truppen, die der vorausschauende Marquis für einen solchen Fall bereitgestellt hatte, sie ein, verzweifelte, ausgehungerte und von brennendem Durst gequälte Männer, die um ihr blankes Überleben kämpften und jetzt eine kleine Gruppe der Leute vor sich sahen, die für ihren Zustand verantwortlich waren.

Als die Anzahl der Verteidiger auf den Wällen geringer wurde, ahnte Abul Hassan Ali, dass sein Plan erfolglos geblieben war.

Er setzte den Angriff trotzdem unter Einsatz seiner gesamten Reserven fort; doch kurze Zeit später traf einer der Kundschafter ein, die er selbst losgeschickt hatte, um die Grenzgegend zu beobachten, und meldete, dass eine große christliche Armee unter dem Befehl des Herzogs von Medina Sidonia auf dem Weg nach Alhama war.

Zwischen zwei christliche Streitkräfte gestellt, selbst wenn eine davon halb verdurstet war, wäre sein eigenes Heer zu einem aussichtslosen Kampf verurteilt. Voller Ingrimm und Trauer und mit einem bitteren Geschmack im Mund befahl Ali den Rückzug nach Granada.

Stadt und Palast hallten vom Wehklagen der Bevölkerung wider, als der Emir zurückkehrte, doch die Alhambra erlebte außerdem noch den ersten heftigen Streit zwischen Abul Hassan Ali und seinem Bruder al Zaghal.

»Warum hast du mich nicht rechtzeitig benachrichtigt? Hast du dir überhaupt die Mühe gemacht, die Grenze beobachten zu lassen, oder warst du zu sehr damit beschäftigt, hier den Herrscher zu spielen?«, fragte Ali eisig.

Al Zaghal war nicht daran gewöhnt, im Unrecht zu sein und sich verteidigen zu müssen. Er hatte keine Übung darin und er tat es sehr schlecht.

»Die Armee der Ungläubigen wurde von Medina Sidonia geführt, und jeder weiß doch, dass er diesen Rodrigo hasst wie die Pest!« In der Tat ging der Streit zwischen dem Herzog von Medina Sidonia und dem Marquis von Cadiz über Jahrzehnte zurück bis auf die Eroberung des Jabal Tariq, als der Herzog darauf bestanden hatte, dass die arabische Garnison sich ihm als dem Ranghöheren ergab, obwohl es Don Rodrigo gewesen war, der die militärische Leistung vollbracht hatte.

»Ich dachte, er würde sich deswegen Zeit lassen, um derjenige zu sein, der Alhama wieder von dir zurückerobert, nachdem sein Feind gescheitert ist. Ich dachte, ich hätte noch Zeit, um Muhammad zu finden und wieder einzufangen. Wir wären dann immer noch rechtzeitig genug gekommen, um dir beistehen zu können, und du hättest nie etwas von der ganzen unerfreulichen Geschichte hier zu erfahren brauchen.«

»Alles, was ich weiß«, entgegnete Ali immer noch zornig, »ist, dass du, der du dich den größten Krieger unseres Reiches nennst, versagt hast, als ich dich brauchte. Und dass mein Sohn verschwunden ist, Allah weiß, wohin, obwohl er hier unter Arrest stand. Ich danke dir, Bruder, für diese Wohltaten.«

Niemand sonst hätte es wagen dürfen, so mit al Zaghal zu reden. Er biss die Zähne zusammen und schwieg, nur seine Kinnmuskeln arbeiteten.

»Bruder«, sagte Ali, mit einem Mal müde, »Alscha schwört, dass du den Befehl gegeben hast, Muhammad in meiner Abwesenheit umzubringen. Ist das wahr?«

In ihrer Kindheit hatten die beiden gerne ein gefährliches Spiel gespielt, um ihren Mut zu beweisen. Sie gingen in die Berge und suchten sich eine gefährliche Klippe aus. Einer der beiden legte sich dann auf den Klippenrand, der andere ergriff seine Hände und ließ sich über den Abgrund hängen. Jedes Mal etwas länger. Es war ein ständiger Wettbewerb zwischen zwei Rivalen, die sich gleichzeitig ihr Leben anvertrauten. Daran erinnerte sich al Zaghal, als er um eine Antwort rang. Es war dasselbe Gefühl. Zwischen Himmel und Abgrund, und nur Alis Hände hielten ihn fest, aber Ali konnte jeden Augenblick loslassen.

Er hatte eigentlich vorgehabt, Ali sein Vorgehen zu erklären.

Sicher würde sein Bruder einsehen, dass es in der Tat die einzige Lösung war, dass al Zaghal ihm nur eine Last abgenommen hätte, die ihm schon längst wie ein Mühlstein am Hals hing. Ali, hatte al Zaghal gedacht, wäre eine Weile sicherlich erzürnt, aber letztendlich würde er verstehen.

Was er nicht eingeplant hatte, war die Katastrophe von Alhama und die Gemütsverfassung, in der Ali sich befand, nachdem er von dort zurückgekommen war. Al Zaghal war ein rücksichtsloser Mann, und wäre er nicht als Prinz geboren, hätte er als Seeräuber ebenso glücklich werden können. Aber einige Dinge gab es, die ihm am Herzen lagen. Unter anderem das Königreich Granada und sein Bruder. Er setzte alles auf einen Wurf.

»Alscha lügt«, sagte er gelassen und souverän. »Sie hat Muhammad zur Flucht verholfen, und, so Leid es mir tut, diese Flucht kann nur eines bedeuten. Er will nicht länger darauf warten, deinen Thron zu besteigen.«

Die beiden Männer, einander so ähnlich, schauten sich an, und das Vertrauen einer ganzen Lebenszeit hing in der Schwebe.

Dann seufzte Ali und wandte sich ab. »Ich wollte es nicht wahrhaben, aber in meinem Herzen wusste ich, es ist so.«

Al Zaghal legte ihm mitfühlend eine Hand auf die Schulter.

Nach einer Weile fuhr Ali fort: »Das macht es uns natürlich unmöglich, sofort wieder gegen die Christen zu ziehen. Er ist sehr beliebt, und wenn ich seine Verbannung verkünde, so bald nach Alhama, wird das Volk murren. Und ich kann es mir nicht leisten, mit einer Armee zu kämpfen, die nicht zuverlässig ist.«

»Wir werden sie vertreiben«, sagte al Zaghal. »In ein paar Monaten. Es steht geschrieben, dass Allah uns Prüfungen sendet, damit der Sieg umso glänzender werde.«

Als man ihr mitteilte, dass ihr Vater sie in Alschas Gemächern zu sehen wünsche, wusste Layla, was sie erwartete. Doch dank der Zeit, die inzwischen verstrichen war, betrat sie diesen Teil der Alhambra beim zweiten Mal wesentlich gefasster, als es beim ersten Mal der Fall gewesen war.

Während sie sich verneigte, bemerkte sie entsetzt, wie sehr ihr Vater in den letzten Wochen gealtert war. Das Grau hatte sich bei ihm zum größten Teil in Weiß verwandelt, seine dunklen Augen lagen tief in den Höhlen, und sie konnte sich auch nicht erinnern, ihn je so erschöpft erlebt zu haben.

Ihre Erscheinung schien ihn ebenfalls zu verwundern, denn als sie sich aufrichtete, sagte er: »Aber Layla, du bist… hm… groß für dein Alter.« Sie war nicht größer als vor ein paar Wochen, also verstand sie nicht, was er meinte. Er räusperte sich.

»Hast du«, fragte er streng, »Alscha erzählt, du hättest al Zaghal Muhammads Tod planen hören?«

Das Mädchen hatte es bisher erfolgreich vermieden, Alscha anzusehen. Sie hatte diese Frage erwartet, aber diesmal ausreichend Zeit gehabt, um über ihre Handlungen nachzudenken, und sie hatte sich entschieden. Also schaute sie auf und blickte Alscha, die in einiger Entfernung von ihrem Vater stand, voll ins Gesicht.

»Nein«, sagte Layla, mit einem Hauch Verwunderung und Vorwurf in der Stimme.

Alscha zuckte zusammen, und einen Moment lang war sie fassungslos. Dann bestanden ihre Augen nur noch aus glühendem Hass. Layla kam sich vor wie eine Seele, die von Iblis gefangen wurde. Alscha war bis zu diesem Zeitpunkt der furchteinflößendste Mensch in ihrer Welt gewesen, aber während sie dem Blick der Fürstin standhielt, entdeckte sie, dass Alscha nur eine verzweifelte Frau in einer ausweglosen Lage war und dass es schlimmere Dinge gab: ihrer Mutter gegenüberzutreten, nachdem sie sie des Mordversuchs bezichtigt hatte, beispielsweise.

Muhammad das Leben zu retten, war eine Sache; ihre Mutter zu verraten, eine andere. Mit dieser Unterscheidung hatte sie ihr Gewissen inzwischen beschwichtigt.

»Sie lügt«, stieß Alscha hervor. Wenn sie nichts hinzugefügt hätte, wäre sie vielleicht überzeugender gewesen, doch sie sprach weiter, immer hastiger, als liefe sie vor jemandem davon: »Sie lügt! Das war alles von Anfang an geplant! Deine christliche Hexe steckt dahinter! Verflucht sei der Tag, der sie nach Granada brachte, verflucht seien sie und alle ihre Nachkommen! Möge Dschehannam sie verschlingen, sie ist unser aller Verderben, ich habe es dir…«

»Das genügt«, unterbrach Ali sie kalt. »Wenn überhaupt etwas, dann ist deine Eifersucht unser aller Verderben. Du kannst gehen, Layla.«

Während Layla sich erneut verbeugte, wunderte sie sich darüber, dass Alscha tatsächlich schwieg. Sie ahnte nicht, dass an diesem Tag das letzte dünne Band, das Alscha noch mit ihrem Gatten verknüpfte, zerrissen war.

Wie der Emir es prophezeit hatte, rief die öffentliche Verbannung seines Sohnes heftigen Protest hervor; doch er erstarb überraschend schnell, innerhalb weniger Wochen, wie auch das Gerede über seine Niederlage bei Alhama. Al Zaghal kehrte nach Malaga zurück, und Abul Hassan Ali beschloss, eine Woche allein in Alexares zu verbringen, um sich von den Katastrophen der letzten Zeit zu erholen, wie er offiziell verlauten ließ.

Alexares war ein kleiner Landsitz in der Nähe der Hauptstadt, nicht geeignet, einen großen Hofstaat mitzunehmen; doch die Entscheidung des Emirs, wirklich allein dorthin zu gehen, auch ohne eine seiner Frauen, offenbarte zwar seine Stimmung mehr als deutlich, hatte jedoch noch einen anderen Grund. Spione am Hof der christlichen Könige waren selten und zu kostbar, um ihre Entlarvung zu riskieren. Ali, der alle seine Verbindungen genutzt hatte, wartete dringend auf eine Botschaft, die ihm das Ziel des nächsten christlichen Angriffs verriet.

Zur Verwunderung der Zwillinge wirkte ihre Mutter entspannter und fröhlicher, als die Geschwister sie in den letzten Jahren je erlebt hatten. Layla fürchtete sich immer noch vor dem Moment, an dem ihre Mutter sie nach Muhammads Flucht fragen würde, aber Isabel schien die Unterredung mit al Zaghal vergessen zu haben. Sie umarmte ihre Kinder und sagte überschwänglich: »Jetzt beginnen für uns die guten Jahre!«

»Aber Mutter«, protestierte Tariq, »jetzt hat doch der Krieg angefangen, mit den Christen in Alhama und…«

Er stockte. Christen waren etwas, worüber die Zwillinge nicht mit ihrer Mutter sprachen, weil sie selbst dieses Thema aus ihren Gesprächen verbannt hatte. Isabel bemerkte seine Verlegenheit nicht und sagte abwesend: »Es hat immer Krieg gegeben. Den gibt es schon seit Hunderten von Jahren. Ich meine, jetzt beginnen die guten Zeiten für uns! Du wirst Emir, mein Sohn, und wir leben glücklich bis ans Ende unserer Tage.«

Ihr entging, dass sich ihre Freude nicht auf die Kinder übertrug.

Die Zwillinge blickten sich an. Sie hatten inzwischen die schaurigen Einzelheiten aus Alhama erfahren. Mit einer Schüssel Pistazienkerne bewaffnet, flüchteten sie in eines ihrer Gartenverstecke. Was sie nicht selbst aßen, verfütterten sie an die Vögel.

»Bei lebendigem Leib in der Moschee zu verbrennen«, sagte Layla niedergedrückt. »Stell dir das vor. Und der Rest ist vor Durst wahnsinnig geworden.«

»Vater wird die Stadt wieder zurückerobern«, meinte Tariq zuversichtlich.

Layla steckte sich einen Kern in den Mund. »Aber die Leute sind dann doch trotzdem noch tot.«

»Schon, aber man hat sie gerächt. Ich wünschte, mein Bein würde endlich wieder heil. Ich will fechten lernen. Eines Tages werde ich ein großer Krieger, du wirst schon sehen. Noch berühmter als al Zaghal.«

Tariq humpelte immer noch, und als er das sagte, war seine Schwester unsinnig froh darüber. Ruhmreich in der Schlacht zu sterben, mochte ein erstrebenswerter Tod sein. Doch Layla entdeckte, dass sie Ruhm dieser Art nicht für ihren Zwillingsbruder wollte. Impulsiv küsste sie ihn auf die Wange.

Nach dem Abendgebet, als sie ins Bett ging, stellte sie fest, dass er ihr einen Dornenzweig hineingelegt hatte, und ihre schwesterliche Zuneigung sank um ein Beträchtliches. Sie nahm sich vor, sich am Morgen grausam zu rächen, und zerbrach sich den Kopf nach dem geeignetsten Mittel. Darüber schlief sie ein, und als sie erwachte, war ihre Kindheit zu Ende.

Es war noch Nacht, soviel konnte Layla durch das Fenster erkennen, aber das Lärmen und die Schritte, die sie aufgeweckt hatten, zeigten an, dass etwas nicht stimmte. Sie war noch dabei, sich in aller Hast anzukleiden, als ihre Mutter in das Zimmer trat, das zu ihren eigenen Gemächern gehörte. Seit Tariqs Unfall hatte Layla Isabel nicht mehr so erlebt. Sie half ihrer Tochter wortlos; als Fatima mit Tariq kam, seufzte sie erleichtert auf.

Inzwischen hatte Layla ihre Stimme wiedergefunden. »Was ist geschehen?«

»Ich glaube, der Palast wird überfallen«, sagte Tariq aufgeregt.

»Unsinn«, erwiderte seine Mutter scharf. »Keine Armee kommt auch nur in die Nähe der Stadt, ohne dass Alarm geschlagen wird, geschweige denn in die Zitadelle.«

Layla schauderte, als sie an das Schicksal der Bewohner von Alhama dachte, und rückte etwas näher an ihre Mutter heran.

Fatima schüttelte den Kopf. Die gewöhnlich ausufernde Herzlichkeit der Amme hatte sich in angsterfüllte Präzision verwandelt.

»Es sind die Banu Sarraj«, sagte sie. »Ich habe ein paar von ihnen erkannt, auf dem Weg hierher. Es sind die Banu Sarraj, Sejidah.«

»Aber sie könnten doch nicht in den Palast, ohne…« Isabel erstarrte plötzlich. Dann befahl sie Fatima, so schnell wie möglich alles Notwendige für eine längere Reise zu packen. Sie musterte ihre Kinder und runzelte die Stirn.

»Dein Schleier«, sagte sie zu Layla. »Tariq, leg diesen Tailasan ab. Er ist zu auffällig.«

»Was ist denn…«, begann ihre Tochter, und sie wirbelte herum.

»Himmel«, sagte sie auf kastilisch, »habt ihr denn noch immer nicht begriffen, Kinder? Das sind nicht nur die Banu Sarraj. Das sind Muhammad und seine Mutter und bestimmt die halbe Stadt!«

»Wie ich sehe«, kommentierte die gelassene Stimme von Alscha al Hurra, »habt Ihr Euch bereits reisefertig gemacht. Ich kann das nur begrüßen. Allerdings reist Ihr nicht weit. Die Gefängnisse liegen nur ein paar Stockwerke tiefer.«

Alscha stand am Eingang, neben ihr Ali al Atar, einer der Banu Sarraj und Muhammad, der die Stirn runzelte, als er Alschas letzte Worte hörte.

»Das ist nicht nötig, Mutter«, sagte er, dann wandte er sich an Isabel. Sie schauten einander an; Layla versuchte, etwas zu Muhammad zu sagen, doch die Worte blieben ihr in der Kehle stecken, und sie erkannte, dass für ihn und ihre Mutter kein anderer Mensch im Raum zu existieren schien.

»Ihr habt es gehört«, sagte Muhammad endlich kalt. »Haltet Euch bereit. Sobald sich alles beruhigt hat, könnt Ihr Granada verlassen. Ich werde Euch eine Eskorte geben, die Euch aus der Stadt bringt.«

Alscha öffnete den Mund, Ali al Atar desgleichen, doch es war Isabel, die als Nächste sprach. »Wie großzügig«, antwortete sie lächelnd. »Wie ehrenhaft. Wann wird der kleine Reitunfall stattfinden?«

Muhammad wurde weiß im Gesicht. Er hob die Hand, und einen Moment lang glaubten die Zwillinge, er würde ihre Mutter schlagen, und traten instinktiv einen Schritt vor, um sie zu beschützen. Doch er tat es nicht. Stattdessen wandte er sich ab.

»Haltet Euch bereit«, warf er ihr über die Schulter zu.

Ali al Atar war offenbar nicht gesonnen, das hinzunehmen.

»Muhammad!«, protestierte er. »Du kannst dieses Weib und ihre Bälger doch nicht gehen lassen! Hier haben wir die Gelegenheit, das Unheil von Granada ein für alle Mal zu vernichten!«

»Das Unheil von Granada«, sagte Tariq verächtlich, machte sich von der Hand seiner Mutter los und ging auf Ali al Atar zu,

»sind Verräter wie Ihr. Und ich werde dafür sorgen, dass Ihr alle Euren Kopf verliert!«

Layla nahm sich vor, ihn später ausgiebig mit Verwünschungen zu überhäufen. Das war genau der richtige Augenblick, um den Helden zu spielen!

Ali al Atars Hand fuhr an seinen Säbel. Alscha sagte langsam:

»Wir sollten sie wahrhaftig gefangen halten, mein Sohn.« Aus der Art, wie sie »gefangen halten« aussprach, ließ sich schließen, dass sie etwas ganz anderes meinte. Muhammad schüttelte den Kopf.

»Nein. Sie ist die Gemahlin meines Vaters, und das sind seine Kinder.«

Alschas Miene zeigte Ungeduld. Ali al Atar fragte höhnisch:

»Wie können wir da sicher sein?« Dann stöhnte er auf und starrte überrascht nach unten. Tariq hatte ihn mangels einer anderen Waffe mit der Faust in den Bauch geschlagen.

»Du kleiner Bastard«, flüsterte der mächtige Krieger leise, »das sollst du mir büßen.«

Immer noch kühl und gelassen, sagte Alscha: »Bring ihn um.«

Layla hörte den fassungslosen, unmenschlichen Aufschrei ihrer Mutter, sie sah Muhammads unwillkürlichen Schritt nach vorne, Ali al Atars blitzschnellen Schlag mit dem Säbel, bevor sie begriff, was Alscha gesagt hatte.

Tariq hatte noch nicht einmal Zeit zu schreien.

Seine Mutter fiel auf die Knie. Layla selbst war schon längst auf dem Boden, rutschte zu Tariqs leblosem Körper. Der Kopf lag säuberlich abgetrennt daneben. Sein Mund war leicht geöffnet, die Augen verwundert aufgerissen. Sie starrte auf Tariqs Kopf, versuchte, ihn wieder an den Hals zu pressen, ohne auf die schrillen, monotonen Schreie ihrer Mutter zu achten. Dann erkannte Layla, was sie tat, und löste mühsam ihre Hände aus Tariqs wirrem Haar. Ihre Zähne schlugen aufeinander, aber sie konnte immer noch nicht schreien.

Langsam hob sie den Kopf und sah Muhammad vor sich stehen.

Wie betäubt registrierte sie, dass er nichts tat. Überhaupt nichts.

Sie hörte Alschas Stimme durch die Schreie ihrer Mutter dringen. »Es war notwendig, mein Sohn. Ali al Atar hätte es in jedem Fall getan. Auf diese Weise wird niemand mehr dein Recht auf den Thron in Frage stellen können, und auch die Christin wird nie wieder eine Gefahr sein. Sieh sie dir doch an.«

Isabel hörte auf zu schreien. Sie kroch zu ihren Kindern, doch sie berührte weder Tariq noch Layla. Ali al Atar steckte seinen Säbel wieder ein, und dieses Geräusch war es, das etwas in Layla einrasten ließ und sie endlich in die Lage versetzte, den Mund zu öffnen. Als sie den Klang ihrer eigenen Stimme hörte, bemerkte sie verwundert, dass sie nicht schrie, sondern flüsterte.

»Vernichten. Euch alle. Vernichten.«

Jemand legte seinen Arm um sie, Fatima. Layla schüttelte sie ab. »Das arme Kind«, sagte die Amme weinend. Ali al Atar starrte mit einem gewissen Ekel auf Layla herab, Alscha drehte sich um und ging. Während sie auf ihre Mutter starrte, die neben ihr kniete, erkannte Layla, dass sie nichts empfand. Keinen Schmerz, kein Mitleid mit ihrer Mutter, kein Entsetzen. Sie hüllte sich in diese selige Empfindungslosigkeit, die sie in die Lage versetzte, alles zu beobachten und sich einzuprägen, denn nichts davon war wirklich. Sie wollte das ihrer Mutter mitteilen, doch sie entdeckte, dass sie vergessen hatte, wie man Sätze formulierte. Dann bemerkte sie, dass ihre Hände klebrig waren.

Layla hob sie an ihr Gesicht und starrte sie verwundert an. Es ist natürlich Blut, dachte sie und dann überhaupt nichts mehr; sie ließ sich fallen, bis nur noch Schwärze sie umgab.