20. Kapitel
Baltimore, Maryland 19. Februar
»Siehst du das auch?« Robert Swenson war ohne anzuklopfen zur Wohnungstür hereingeplatzt.
Hobart saß auf dem Sofa und starrte auf den Fernsehschirm. Die Muskeln in seinem Kinn mahlten vor Anspannung.
Swenson ging auf einem Umweg zu einem Sessel, um nicht ins Bild zu geraten, und setzte sich.
CNN wiederholte gerade einen Bericht über die Ereignisse der letzten Nacht. Mark Beamons betroffenes Gesicht war unnatürlich bleich, als er langsam an den Kameras vorbei auf ein großes Backsteingebäude zuging. Die Kamera schwenkte hin und her zwischen den Opfern, die man auf den asphaltierten Spielplatz gelegt hatte. Swenson ignorierte den Kommentar des Sprechers und betrachtete stumm die unheimliche Szenerie.
Schließlich wurde abgeblendet, und eine Nachrichtensprecherin erschien auf dem Schirm. Hobart schaltete gereizt den Ton ab. Einen Moment lang sprach keiner der Männer ein Wort.
»Was, zur Hölle, ist da passiert?«
»Karns«, antwortete Hobart schlicht.
»Hast du ihm dafür dein Einverständnis gegeben?«
»Nein, verflucht! Der Scheißkerl hat es auf eigene Faust getan. Ich wusste, dass er unberechenbar ist – aber ich habe verdammt noch mal nicht gedacht, dass er so was machen würde.« Hobart rieb sich die Schläfen. »Scheiße, Scheiße, Scheiße«, flüsterte er. Schließlich hob er den Kopf und schaute seinen Partner an.
»Wir müssen ihn abziehen. Irgendwann wird das FBI rauskriegen, woher das Zeug stammt.«
Bei einer solchen Aktion, wie Karns sie veranstaltet hatte, musste man sofort seine Zelte abbrechen und irgendwo untertauchen. Leider war das nicht die Aktion gewesen, die Hobart geplant hatte.
Swenson drückte seinen Rücken durch und imitierte, was er gerade auf dem Bildschirm gesehen hatte. »Was war mit diesen Leuten los?«
Hobart schnaubte angewidert. »Wir hatten doch überlegt, für das Zeug, das an Straßendealer verkauft wird, Rattengift auf Zyankalibasis zu nehmen – um das restliche Orellanin für ganz große Aktionen aufzuheben?«
Swenson nickte.
»Es sieht so aus, als hätte dieser Scheißkerl das falsche benutzt. Ich habe ein wenig nachgelesen, während ich diese Operation plante. Das da im Fernsehen war typisch für eine Strychninvergiftung.«
»Wird unserem Image sehr zugute kommen«, sagte Swenson sarkastisch. Sie hatten sich die Hände gerieben über die positive Reaktion der Öffentlichkeit, aber angesichts des herzzerreißenden Leidens der Menschen auf dem Spielplatz würde das vermutlich nun anders aussehen.
Hobart griff nach seinem Handy und begann Bill Karns’ Nummer zu wählen.
Luis Colombar war nicht gerade für seine Pünktlichkeit bekannt. Reed Corey wartete schon seit fast fünfzehn Minuten auf ihn. Er begann nervös mit seinem Haar zu spielen, drehte es zwischen den Fingern und zog daran, bis es wehtat. Vielleicht verhalf ihm der Schmerz zu einem klaren Kopf – ein Zustand, den er schon seit Ewigkeiten nicht mehr kannte. Der mutige Vietnamkämpfer schien mit jedem Jahr ein Stückchen mehr in einem Nebel aus Drogen und Alkohol zu verschwinden.
Ängstlich und angespannt saß Corey in dem riesigen Wohnzimmer, doch das Schuldgefühl, das er erwartet hatte, stellte sich nicht ein.
John Hobart hatte kalte Augen – wie ein Hai. Sie waren weniger Fenster der Seele als vielmehr nüchterne Kameras, die alles exakt aufnahmen. Trotzdem kannte Corey seinen alten Freund besser als irgendjemand sonst. Und ein Blick in seine Augen bei ihrem letzten Treffen hatte genügt, um zu wissen, dass Hobart die Absicht hatte, ihn zu töten.
Er hatte die richtige Entscheidung getroffen, das Haus zu verlassen und die letzten Wochen auf allen möglichen Sofas in Bogotá zu übernachten. Vor drei Tagen hatte er in einer heruntergekommenen Bar zum ersten Mal von Colombars Angebot gehört. Er kannte die Leute nicht, mit denen er zusammensaß, und wusste nicht, ob er ihnen glauben sollte. Doch am nächsten Tag hatten ihm Freunde die Geschichte bestätigt. Luis Colombar hatte eine Belohnung von zweihundertfünfzigtausend Dollar ausgesetzt für Informationen, die zur Ergreifung der Personen führte, die sich nach gewissen Aspekten der Kokainherstellung erkundigt hatten.
Die Erinnerung an sein erstes Treffen mit Hobart war ein wenig undeutlich, aber seine Fragen nach der Lage von Raffinerien und Lieferanten von Chemikalien hatte Corey noch bestens im Gedächtnis. Er wusste nicht genau, worum es bei der ganzen Sache ging, aber er hatte den Verdacht, dass Hobart der Mann war, nach dem Colombar suchte.
Obwohl er sie erwartet hatte, erschrak er, als sich endlich Schritte näherten. Rasch wandte er sich um und wischte sich geistesabwesend die Hand an seinen speckigen Hosen ab. Zwei Männer kamen die breiten Treppenstufen am anderen Ende des Raums hinunter. Beide waren tadellos gekleidet, der ältere eher leger, der jüngere trug Anzug mit Krawatte und folgte dem älteren Mann mit etwas Abstand, um dadurch seinen untergeordneten Status deutlich zu machen. Der Ältere ging an Corey vorbei, ohne ihn eines Blickes zu würdigen.
»Mr. Corey?«, sagte der andere mit einem freundlichen Lächeln. »Mein Name ist Alejandro.« Er bot ihm keine Hand.
»Hallo«, krächzte Corey. Der Schweiß, der sich auf seiner Oberlippe gesammelt hatte, löste sich beim Sprechen und rann ihm in den Mund. Es schmeckte salzig.
»Wir sind Ihnen dankbar, dass Sie so rasch hergekommen sind. Sie haben Informationen für uns?«
»J … ja, Sir.« Corey hatte den anderen Mann nicht kommen gehört, aber das leise Klirren der Eiswürfel in einem Glas verriet ihm, dass er hinter ihm stand. Alejandro hob seine Augenbrauen und bedeutete Corey fortzufahren.
»Na ja … vor ein paar Monaten kam ein Kerl, mit dem ich in Vietnam gekämpft habe, in die Stadt. Hatte ihn seit Jahren nicht mehr gesehen. Jedenfalls haben wir uns in einer Bar getroffen und ein bisschen was getrunken, und er fing an, mir Fragen wegen Drogen zu stellen. Ich wusste, dass er mal bei der DEA gewesen war, dort aber rausgeworfen wurde, deshalb dachte ich, er wollte einfach nur über die alten Zeiten quatschen. Also, wir haben für eine Weile über Koks im Allgemeinen geredet, was das für ein riesiges Geschäft ist und so …« Corey hielt inne und wischte sich mit dem Ärmel über die Stirn.
»Möchten Sie gern etwas Kaltes trinken?«, fragte Alejandro. Sein Lächeln war immer noch freundlich, aber etwas in seinen Augen verriet Corey, dass es nur eine rhetorische Frage war.
»N … nein, danke.« Die Haare in seinem Nacken richteten sich auf bei dem Klirren des Eises, als der Mann hinter ihm, der vermutlich Colombar war, erneut einen Schluck trank.
»Wir haben ziemlich gebechert, und auf einmal fängt er an, mir einige gezielte Fragen zu stellen.«
»Welche?«
»Na ja, er wollte wissen, wo genau das Zeug hergestellt wird. Und das ist mir dann doch komisch vorgekommen – außerdem hat er nach den Chemikalien gefragt, die man dabei braucht und wo man sie herkriegt. Als sei er daran ganz besonders interessiert. Er wollte Namen von Firmen wissen, die solches Zeug wie Kerosin verkaufen.«
Bei dem Wort ›Kerosin‹ blitzten die Augen seines Gegenübers kurz auf.
»Und haben Sie es ihm gesagt?«
»Nee, woher denn, Mann!«, erwiderte Corey hastig und viel zu laut. »Wir sind alte Kumpel, und da redet man gern mal über dies und das, verstehen Sie, aber nicht über so was. Nee, nicht mit mir. Ich weiß, wann ich meinen Mund halten muss, ist ja klar.«
Alejandro nickte. »Sicher. Bitte, fahren Sie fort.«
»Also, ich hab ihm das auch gesagt, und außerdem hatte ich davon ja auch gar keine Ahnung. Er wurde ziemlich sauer und ist dann einfach abgerauscht. Hab ihn nicht wiedergesehen, aber ich hab gehört, dass er noch eine Weile hier war, ungefähr ein paar Wochen …«
Wieder klirrte das Eis.
»Und wer ist dieser alte Freund?«
Corey schwieg, während er sich im Zimmer umschaute und schließlich wieder zu Alejandro blickte.
»Keine Sorge, mein Freund, Sie werden Ihr Geld bekommen. Ich denke, Sie wissen, dass eine solche Summe für uns kein Problem ist.« Er deutete wie zum Beweis auf den luxuriös eingerichteten Raum. »Sie werden jedoch verstehen, dass wir hier keine zweihundertfünfzigtausend Dollar herumliegen haben. Wir können Ihnen das Geld entweder in bar überbringen lassen oder es auf ein Bankkonto überweisen. Natürlich möchten wir Ihre Geschichte zuerst überprüfen.«
Corey überlegte und fand, dass es vernünftig klang. Er wischte sich wieder über die Stirn.
»Sein Name ist John Hobart.«
Alejandro zog einen teuren Goldfüller aus seiner Brusttasche und schrieb sich den Namen auf.
»Und wo können wir diesen Mr. Hobart finden?«
Corey schwieg für einen Moment. So sicher wie die Sonne morgen aufging, wusste er, dass Hobart beabsichtigt hatte, ihn zu töten. Trotzdem packte ihn ein unerklärliches Schuldgefühl. Erinnerungen an ihre gemeinsame Zeit im Dschungel blitzten in ihm auf. Doch jetzt gab es kein Zurück mehr. Außerdem könnte es durchaus sein, dass sein alter Kamerad sowieso am Ende die Oberhand behalten würde. Was kaltblütiges Töten anging, konnte vermutlich selbst Colombar noch einiges von ihm lernen.
»Als Letztes habe ich gehört, dass er in Baltimore, Maryland, für irgendeinen Fernsehprediger gearbeitet hat. Blake, glaube ich, ist sein Name. Wahrscheinlich steht er sogar im Telefonbuch.«
Alejandro lächelte und machte sich eine Notiz. Er schaute auf, blickte an Corey vorbei und nickte knapp. Corey erstarrte. Er versuchte zu ahnen, was der Mann hinter ihm tat.
Statt eines Messers in den Rücken bekam er ein dankbares Lächeln. »Wir wissen Ihre Hilfe sehr zu schätzen. Natürlich möchten wir nicht, dass irgendjemand etwas von unserem Gespräch erfährt, das verstehen Sie hoffentlich. Ich denke doch, Sie haben niemandem erzählt, was Sie uns eben berichtet haben?«
Corey schüttelte den Kopf.
»Gut. Wie ich schon sagte, wir möchten Ihre Geschichte überprüfen. Ich nehme an, dass wir uns unter der gleichen Nummer mit Ihnen in Verbindung setzen können?«
Corey nickte.
Wie durch Zauberei tauchte am anderen Ende des Raums der Butler auf. Alejandro bedeutete Corey, ihm zu folgen. Corey murmelte einen Abschiedsgruß und ging unsicher zur Tür. Noch immer konnte er das unbehagliche Gefühl nicht abschütteln, gleich ein Messer in den Rücken zu bekommen.
Mit einem Gefühl immenser Erleichterung erreichte er die Haustür und trat hinaus in die grelle kolumbianische Sonne. Ja, er hatte die richtige Entscheidung getroffen. Zweihundertfünfzigtausend leicht verdiente Dollar. Und dieser Alejandro schien gar kein so übler Kerl zu sein.
»Nun, was denken Sie?« Colombar nahm wieder einen Schluck von seinem Drink.
»Das ist ganz zweifellos unser Mann. Haben Sie bemerkt, dass er ausdrücklich von Kerosin gesprochen hat? Und dieser Kerl war auch noch bei der DEA. Passt perfekt.«
Colombar setzte sich auf ein Sofa und legte seine Füße auf den Tisch. Alejandro Perez hockte sich auf die Lehne des Sessels gegenüber.
»Und die anderen?«, fragte Colombar. Corey war bereits der Vierte, der versuchte, sich die Belohnung zu verdienen.
»Ich denke, wir sollten mit diesem anfangen. Das scheint mir am vielversprechendsten zu sein.«
»Das denke ich auch«, sagte Colombar. »Schicken Sie einige Leute los, um diesen John Hobart zu finden und herzubringen.«
»Das sollten wir besser nicht tun, Luis. Amerikanische Bürger zu kidnappen und über die Grenze zu schleppen kann … Komplikationen zur Folge haben. Ich würde eher vorschlagen, schlicht das FBI zu informieren. Man wird ihn in kürzester Zeit finden, und dann läuft das Geschäft rasch wieder in gewohnten Bahnen.«
»Ich will nicht, dass dieser Scheißkerl verhaftet wird – ich will, dass er tot ist!«, fauchte Colombar gereizt. »Seit wann arbeiten wir mit dem verdammten FBI zusammen, Alejandro? Seit wann?«
»Das tun wir nicht, Luis. Ich finde nur, in dieser Situation …«
»In dieser Situation werden Sie tun, was ich sage – genau wie immer.«
Perez holte tief Atem und unternahm einen weiteren Versuch, Colombar zur Vernunft zu bringen. »Vielleicht haben Sie Recht, Luis. Es ist besser, die Sache schnell zu beenden. Wie wäre es, wenn ich Renaldo nach Maryland schicke? Er kann sich dort um das Problem kümmern. Es ist nicht nötig, dass Sie persönlich in die Geschichte verwickelt werden.«
Colombar überlegte einen Moment. »Okay, machen Sie das.« Er stand auf und ging zur Bar am anderen Ende des Raums. »Dieses Stück Scheiße hat uns angelogen, dass er dem Kerl keine Informationen gegeben hat. Das kleine Dreckschwein würde für eine Prise Koks und fünfzig Mäuse alles tun. Dieser Hundesohn hat mich um zwanzig Millionen Dollar gebracht! Wer immer ihn gerade zurück in die Stadt fährt, ruf ihn an und sag, er soll ihn kaltmachen und die Leiche irgendwo in einen Straßengraben werfen.«
Perez hatte bereits einen kleinen Sieg errungen und konnte eigentlich kaum damit rechnen, dass Colombar zweimal nachgab. »Das sollten wir besser nicht tun, Luis.«
Colombar starrte ihn verärgert an.
»Wollen Sie etwa sagen, ich kann so eine süchtige Ratte nicht umbringen lassen? Das Dreckstück hat uns Gott weiß wie viele Millionen gekostet!«
»Wir haben verbreiten lassen, dass wir Informationen suchen und eine Belohnung bezahlen. Wenn herauskommt, dass wir den Mann getötet haben, der sie uns gebracht hat, könnten wir es künftig schwer haben, Auskünfte zu bekommen – auch wenn er den Tod mehr als verdient hat.«
Colombar knallte sein Glas auf den Tisch, dass der Inhalt überschwappte. »Darüber gibt es nichts zu diskutieren. Lassen Sie ihn töten.«