3. Kapitel
Baltimore, Maryland 16. Oktober
Reverend Simon Blake starrte schweigend auf das weiße Blatt Papier, das vor ihm auf dem Schreibtisch lag. Er griff nach dem Kaffeebecher, merkte aber, dass der Kaffee kalt geworden war und lehnte sich in seinem Sessel zurück.
Es war kurz nach zehn am Montagmorgen.
Eigentlich war der Montag sein Lieblingstag. An diesem Morgen schrieb er stets seine Predigt und formulierte die Worte, mit denen er Millionen Zuschauer an ihre Fernsehgeräte fesseln und auf den Pfad der Tugend bringen würde. Aber heute wollte ihm einfach nichts einfallen.
Kaum hatte er sich an seinen Schreibtisch gesetzt, waren seine Gedanken zu seinem Sohn zurückgekehrt. Bilder von Joshs ›harmlosen‹ Experimenten mit Marihuana gingen ihm durch den Sinn und wurden immer beängstigender. Schon bald sah er seinen Sohn, wie er den ersten zögerlichen Zug an einem Joint nahm, dann einen älteren Josh, der vor einem Spiegel saß, auf dem sich Kokain häufte. Schließlich sah er ihn, alt und ausgemergelt, in einer mit Müll übersäten Gasse liegen. In seinem Arm steckte eine Spritze.
Blake wusste, dass er das nicht zulassen durfte.
Ein Klopfen an der Bürotür riss ihn zurück in die Realität. Er richtete sich in seinem Sessel auf und strich sich rasch mit einer Hand durch sein kurzes Haar.
»Herein.«
John Hobart trat ein und schloss die Tür. »Guten Morgen, Reverend. Sind Sie bereit für unser Gespräch?«
Blake stand auf und ging schweigend hinüber zum Konferenztisch. Hobart setzte sich zu ihm.
»Haben Sie einen Entschluss gefasst, Reverend?«
Blake schüttelte bedächtig den Kopf. »Ich möchte gern noch einige Einzelheiten wissen.«
»Was denn, zum Beispiel?«
»Erklären Sie mir Ihre Vorstellungen, und ich sage Ihnen, wenn ich anfange, mich zu langweilen.«
Hobart räusperte sich. Er hatte gehofft, nicht allzu sehr in die Details gehen zu müssen. Sie würden dem Reverend nur Argumente gegen den Plan liefern. Und auf keinen Fall durfte er jetzt in letzter Minute wieder alles abblasen.
»Nun, zuerst würden wir uns auf Koks und Heroin konzentrieren – diese Drogen und alle, die daraus entwickelt werden, scheinen momentan das größte Problem zu sein. Ich gehe davon aus, dass nach den ersten … Opfern sämtliche Medien im ganzen Land darüber berichten werden, und jeder Süchtige wäre auf der Hut. Wir könnten also in kürzester Zeit mit einem beträchtlichen Rückgang des Konsums rechnen.«
»Was ist mit denjenigen, die wirklich süchtig sind? Glauben Sie, dass sie fähig wären, einfach aufzuhören?«
»Ich denke schon. Es gibt überall Programme, um solchen Leuten zu helfen; sie haben bisher nur keinen Anreiz gehabt, sie in Anspruch zu nehmen.«
Blake schien zufrieden mit dieser Antwort und bedeutete Hobart fortzufahren.
»Außerdem werden die meisten Drogen von Gelegenheitskonsumenten – nicht von Süchtigen – genommen, und wir können sicher davon ausgehen, dass sie sofort aufhören werden. Dadurch wird das ganze Drogengeschäft zusammenbrechen. Die Kartelle arbeiten genauso wie jedes andere Unternehmen. Kredit, Cashflow, Rentabilität, Warenbestand – das sind lauter Begriffe, die man auch bei einer Versammlung der Drogenbosse hören würde, das garantiere ich Ihnen. Plötzlich können sie das Produkt nicht mehr verkaufen, für dessen Herstellung und Vertrieb sie so viel bezahlt haben. Und es würde ihnen genauso ergehen wie Ford, wenn sie plötzlich keine Autos mehr verkaufen könnten. Schlicht gesagt, sie werden Pleite gehen. Und ohne ihre riesigen Umsätze können sie keine Politiker und keine Polizei mehr schmieren, hätten keinen Schutz und keinen Einfluss mehr auf die jeweiligen Machthaber, und ich denke, sie wären schneller am Ende als irgendjemand erwartet.«
»Sie haben von Opfern gesprochen. Wie viele?«
Das war ein Thema, das Hobart lieber ausgeklammert hätte. »Nicht viele«, log er. »Drogen sind in erster Linie ein Freizeitvergnügen. Ich denke, die Leute wären angesichts einer solchen Gefahr rasch bereit, auf dieses Vergnügen zu verzichten, meinen Sie nicht?«
Er kannte Blakes Antwort auf diese Frage. Der Prediger verstand sowieso nicht, warum überhaupt jemand Drogen nahm.
»Kosten?«
»Insgesamt rund eineinhalb Millionen«, erwiderte Blake, ohne mit der Wimper zu zucken. »Wenn die Sache erst einmal angelaufen ist, dürfte sie sich ganz von selbst finanzieren.«
»Und meine Beteiligung?«
Hobart lächelte. »Absolut gar keine. Sie lassen mich das Geld von Ihren Konten abziehen, und dann feuern Sie mich. Es gäbe keinerlei Möglichkeit, irgendeine Verbindung zu Ihnen herzustellen. Für den unwahrscheinlichen Fall, dass jemals irgendwer herumschnüffelt, sorge ich dafür, dass es so aussieht, als hätte ich das Geld unterschlagen.«
Blake stand auf und ging zu der gläsernen Wand hinter dem Schreibtisch. Dort blieb er regungslos stehen und verschränkte die Hände hinter dem Rücken.
»Das ist es, Reverend. Das ist Ihre Chance, die Kartelle zu zerschlagen und Amerika zurück auf Kurs zu bringen.« Hobart empfand eine Aufregung wie seit Jahren nicht mehr. Die Regierung mit all ihren bürokratischen Jammerlappen und Menschenrechtsfanatikern hatte den Kampf gegen die Drogen verloren. Er würde nicht verlieren.
Natürlich gab es einige Punkte, über die er sich nicht weiter ausgelassen hatte. Erstens würden die Opferzahlen zweifellos beträchtlich sein – aber das war nur von Vorteil. Es schadete nichts, wenn die Bevölkerung Amerikas etwas ausgedünnt wurde. Es war wie bei einem Lasereingriff – man schnitt den Krebs heraus und ließ das gesunde Gewebe übrig.
Zweitens musste man damit rechnen, dass das FBI sämtliche Ressourcen einsetzte, um ihm den Spaß zu verderben. Es würde allerdings verflucht schwierig für die Jungs werden. Es gab kein offenkundiges Motiv, die Opfer würden nicht bereit sein zu reden, und der Gegner kannte ihre Ermittlungstechniken in- und auswendig.
Sicher könnten sie irgendwann auf seine Fährte kommen, doch bis dahin würde es zu spät sein. Die Süchtigen wären weg, die Erinnerung an die Opfer würde in der Bevölkerung mit der Zeit verblassen, aber ihre Wohnviertel wären drogenfrei, und auf der Regierung würde der Druck lasten, diesen neuen Zustand aufrechtzuerhalten.
Hobart unterdrückte ein Lächeln. Eines Tages würde man ihn vielleicht sogar als einen der wichtigsten Männer der amerikanischen Geschichte anerkennen.
»Es sieht so aus, als hätte ich über einiges nachzudenken, John«, sagte Blake. »Lassen Sie uns morgen weiterreden.«
Simon Blake blieb am Fenster stehen, während sein Sicherheitschef leise aus dem Büro ging.
Der Moment war da. Sein Moment. Gott hatte ihn für eine große Mission auserwählt. Er war dazu berufen, Satan aus den Herzen und Köpfen der Amerikaner zu vertreiben. Bis heute hatte er gedacht, der richtige Weg seien seine Auftritte als Fernsehprediger und sein wachsender politischer Einfluss. Doch nun wusste er, dass Gott keinen Boten wollte – dafür war es längst zu spät. Er wollte einen Krieger.
John Hobart wartete bereits, als Blake am nächsten Morgen in sein Büro kam. Er saß mit dem Rücken zur Tür in einem Sessel, hatte die Beine übereinander geschlagen und tippte ungeduldig mit einem Bleistift auf sein Knie.
»Heute schon frühzeitig angefangen, John?«
»Sie kennen mich, Reverend.« Er legte den Stift neben seinen ledergebundenen Block.
»Ich vermute, Sie wollen meine Antwort auf Ihren Vorschlag haben.«
Hobart lächelte. Der reservierte Ton des Reverend und seine Wortwahl sprachen Bände. Er war bereits dabei, sich von der ganzen Sache zu distanzieren. Und das wäre nicht nötig, wenn das Projekt nicht in die Tat umgesetzt werden würde.
Blake nahm hinter seinem Schreibtisch Platz. »Meine Antwort ist ein bedingtes Ja. Allerdings bin ich der Ansicht, dass wir gewisse moralische Verpflichtungen haben.«
Hobarts Lächeln verschwand. Moralische Bedenken konnten ein praktikables Konzept ganz schnell verpfuschen.
»Ich finde, dass Sie die Öffentlichkeit von Ihren Absichten in Kenntnis setzen müssen. Außerdem will ich, dass Sie die Finger von Marihuana lassen. Damit experimentieren einfach zu viele Jugendliche herum, die im Grunde gute Kinder sind.«
»An Marihuana hatte ich auch gar nicht gedacht«, erwiderte Hobart. »Aber wie stellen Sie sich eine solche öffentliche Warnung vor?«
»Große Anzeigen in drei oder vier wichtigen Zeitungen sollten genügen. Sagen wir … drei Tage vorher.«
Drei Tage. Hobart fragte sich, ob dahinter irgendeine biblische Bedeutung steckte.
»Ich halte das für keine gute Idee. Es würde eine sowieso schon komplizierte Operation noch weiter erschweren und mein Risiko unnötig erhöhen.« Hobart beugte sich vor und schaute Blake eindringlich an. Der Reverend erwiderte kühl seinen Blick.
»Trotzdem werden wir es so machen, John. Wenn Sie glauben, das zusätzliche Risiko nicht tragen zu können, dann sind Sie vielleicht nicht der richtige Mann für diesen Job.«
Hobart ließ sich seinen Ärger nicht anmerken. Irgendwann würde er ein Messer nehmen und Blake diese selbstgefällige Fratze zerschneiden.
»Ich müsste mich erkundigen, wie viel solche Anzeigen kosten. Entsprechend erhöht sich natürlich meine Schätzung.«
»Nehmen Sie einfach zwei Millionen – das sollte sicher ausreichen. Ich denke doch, das kann ich mir leisten?«
Hobart nickte nur. Die Kirche könnte sich vermutlich eine zehnfach höhere Summe leisten.
»Sonst noch was?« Blake hatte es offensichtlich eilig, dieses Gespräch zu beenden und zu vergessen.
Hobart nickte. »Nur noch eines – mein Rausschmiss.«