Alte Bekannte
Meckems Ausbruch war gewaltig. Er stand so schnell und ruckartig auf, dass seine Kniekehlen den Schreibtischstuhl rückwärts gegen das Bücherregal schleuderten. Ein Plastikglobus stürzte ab und platzte mit einem lauten Plopp. Grau wunderte sich den Bruchteil einer Sekunde, warum kein Wasser aus der Kugel floss. Bei Meckems Vorliebe für den Kitsch dieser Zeit war alles möglich.
»Hören Sie!« Grau gestikulierte abwehrend mit beiden Händen. »Diese Art von Journalismus …«
»Himmel, Arsch und Zwirn!«, schrie MeckeM. »Es interessiert unsere Leser einen Dreck, ob Ihr Seelchen diese Art von Journalismus mag oder nicht. Die Leute wollen Bilder sehen. Jetzt sehen sie die bei der Konkurrenz!«
»Heißt das, dass Sie mich entlassen?«, fragte Grau ganz sanft. Er flehte Gott an, oder wen auch immer, dass genau dies passieren möge.
»O nein.« Meckem konnte zwei einsilbige Wörter zusammenziehen und dabei seinen Tonfall von dem heller Wut in den sabbernder Gefälligkeit verändern. »O nein, ich entlasse Sie nicht, ich entbinde Sie nur von Ihren Recherchen und setze Sie auf die Karnickelzüchtervereine Bonns an. Damit Sie endlich begreifen, worauf es in dieser Branche wirklich ankommt!«
»Woher wissen Sie denn, worauf es in dieser Branche wirklich ankommt?« Grau fand seine eigene Bemerkung im gleichen Atemzug dümmlich.
Meckem seufzte: »Es kommt darauf an, besser zu sein als die Konkurrenz. Und Sie haben genau das versiebt.«
»Ich werde es das nächste Mal auch versieben«, versprach Grau störrisch. Er hockte auf dem Stuhl wie jemand, der seinem Zahnarzt Mut machen muss, endlich den faulen Zahn zu ziehen.
Meckem stand merkwürdig zurückgebogen, als glaubte er nicht so recht an seine eigene Kraft. Sein Kopf war hochrot, violette Flecken glühten an beiden Seiten der Nase. Zum Jeanshemd trug er einen grellgrünen Lederschlips. Grau fand, dass er verdammte Ähnlichkeit mit einem wütenden Papagei hatte.
»Hören Sie mal zu, mein lieber Jobst.« Meckem langte hinter sich, richtete seinen Stuhl wieder ordnungsgemäß vor dem Schreibtisch auf und setzte sich betulich hin. Damit pflegte er anzudeuten, dass er etwas Grundsätzliches zu sagen hatte. »Hören Sie zu, mein lieber Jobst. Sie sind seit zwanzig Jahren in diesem Beruf. Gelten als guter Mann. Sie haben eine Story aufgetan: In einem Altenheim wird eine alte Frau von einer brutalen Pflegerin zu Tode gefüttert und erstickt. Ihr Auftrag war, vom Mann dieser Frau private Bilder zu besorgen, die diese tote alte Frau lebendig, lachend und glücklich zeigen. Versaut haben Sie es, weil …«
»Der alte Mann hat zwei Stunden nur geweint«, unterbrach Grau scharf. »Ich musste ihm sagen, dass es wahrscheinlich Totschlag ist, ich musste ihn trösten, ich konnte ihm nicht gleichzeitig das Fotoalbum klauen. Meine Würde …«
»Ihre Würde ist mir und den Lesern scheißegal«, schnappte Meckem, ganz ein großer Mann, ein großer bunter Papagei. »Während Sie edel mit dem Alten trauern, geht die Konkurrenz hin und luchst der Tochter die Fotos ab!«
Grau nickte. Er starrte auf den Topf mit Papyrus, den irgendjemand optimistisch und diskret in eine Ecke gestellt hatte. »Diese Form von Journalismus finde ich beschissen.«
Meckem sagte müde: »Dann sind Sie hier bei uns falsch.«
»Stimmt. Wenn man hier Sachverstand wie Diebstahl buchstabiert, dürfte diese Redaktion meinen Anforderungen nicht genügen.« Nun kündige mir doch endlich!, dachte Grau heiter.
»Geh heim, Junge«, sagte Meckem leise und sorgenvoll. »Geh nach Hause, ruh dich aus, beschimpf mich ein paar Stunden im Geiste und schlaf. Dann machst du Ferien. Du kommst wieder und wir reden noch mal.«
»Leck mich doch am Arsch!« Erbost verließ Grau das Zimmer.
Er war ein dünner, mittelgroßer Mann mit kurzem, grauem Haar und einigen scharfen Falten um Nase und Mund. Er hatte Jeans zu knöchelhohen weißen Baseballschuhen an, ein weißes Hemd, ein mattgraues dünnes Jackett. Er weigerte sich beharrlich, Krawatten zu tragen. Er ging leicht gebeugt, bewegte sich langsam, fast schläfrig, und machte meist den Eindruck, als wäre er geistesabwesend, nicht wirklich interessiert, ein Tagträumer.
Grau blieb in dem langen Korridor vor Meckems Zimmertür stehen und stopfte sich eine Pfeife. Er wirkte fehl am Platz: ein Fremder im falschen Haus, im falschen Flur, vor dem falschen Zimmer.
Es war elf Uhr vormittags. Wenn er jetzt nach Hause ging, würde er Angie ausgeliefert sein, die heute Morgen laut gejammert hatte, ihre Blusen wären bei der Wäsche nicht weiß genug geworden – jedenfalls nicht weiß genug für Teneriffa. Seit Tagen nahm er sie nur als schmale herumwerkelnde Gestalt wahr, die Wäschestücke ins grelle Tageslicht hielt und bekümmert feststellte: »Da sind noch Schatten!« Wie konnte eine Frau, die Angela hieß, darauf bestehen, dass man sie Angie nannte? »Und, bitte, ja englisch aussprechen.« Wie lange lebe ich jetzt mit ihr zusammen? Drei Jahre? Dreißig Jahre?
Er trottete zu seinem Büro, öffnete die Tür und sagte in Monheims rundes, schwitzendes Gesicht: »Ich gehe in Urlaub.«
Ohne aufzublicken, erwiderte Monheim zerstreut: »Da war ein Anruf für dich, klang amerikanisch oder englisch. White oder Weiß, was weiß ich. Er sagte, er ruft noch mal an. Hat der Chef dich durch die Mangel gedreht?« Monheim war nicht wirklich an ihm interessiert.
»Leider nein.« Grau starrte auf Monheims Bildschirm, den er hasste, weil er so vollkommen lautlos Vieldeutigkeiten produzierte. Er beschloss, irgendwo einen Kaffee zu trinken und ein Stück Obsttorte mit einer doppelten Portion Schlagsahne zu verdrücken. Angie würde jetzt sagen: Sahne schmiert die Seele! Zuweilen sagte sogar sie etwas Wahres.
»Ich dachte, er schmeißt dich raus«, sagte Monheim, ohne seine Arbeit zu unterbrechen.
»Leider nein«, wiederholte Grau. »Hat dieser White gesagt, wann er sich wieder meldet?«
»In einer halben Stunde«, antwortete Monheim. »Jetzt muss ich diesen Scheiß hier zu Ende schreiben, sonst schaffe ich es nie.« Er bezeichnete alles, was er zu schreiben hatte, als Scheiß.
Grau drehte seinen Stuhl zum Fenster, setzte sich hin und legte die Füße auf das Fensterbrett. Er sah blinzelnd in den sommerlichen Himmel. Warum hatte er sich darauf eingelassen, als Redakteur angestellt zu werden? Warum verfolgte er Themen, die er gar nicht wollte, warum zelebrierte er einen eingefahrenen kurzen, harten Stil, der ihm unangemessen schien, einen Stil, der zuweilen wie ein rostiges Messer das Papier ritzte, der zuweilen auch verlogen war?
Dann schellte das Telefon. Es war Angie und sie fragte mit hoher, ein wenig aufgeregter Stimme: »Was glaubst du, brauchen wir Filme mit hunderter Empfindlichkeit oder besser mit zweihunderter? Denk dran, du fotografierst gerne Schatten.«
»Nimm zweihunderter«, sagte er. »Kauf zehn Filme. Das lohnt sich wenigstens.«
»Glaubst du, dass du mit zwölf Hemden auskommst?«
»Aber ja«, antwortete er gutmütig. »Mach dir nicht so viel Arbeit.«
»Freust du dich ein bisschen?«
»O ja«, sagte er.
Er verschwieg den Streit mit Meckem, denn Angie würde sich ängstigen. Alles ängstigte sie, was neu und unberechenbar war und ihren zerbrechlichen Alltag zu zerstören drohte.
»Wann kommst du heim?«
»Gegen Abend«, sagte er. »Wie immer.«
»Morgen um diese Zeit sind wir schon da«, sagte sie hell, fast siegessicher.
»Ja.« Er legte auf.
Er hatte die Hoffnung aufgegeben, dass irgendetwas Unvorhergesehenes ihm diese grässliche deutsche Gruppenreise auf die Sonneninsel vermasseln würde. Sie hatte quengelnd gebeten, endlich dieses Pauschalangebot zu buchen, »wie alle normalen Menschen«. – »Deine Art, Urlaub zu machen, ist so eigenartig«, hatte sie geäußert. Das Wort ›eigenartig‹ war ein wütender Tadel. – »Was ist denn an meiner Art, Urlaub zu machen, eigenartig?«, hatte er wissen wollen. – »Na ja, du sagst zum Beispiel, wir fahren nach Saint-Tropez, aber in Wirklichkeit mietest du eine Hütte in zwanzig Kilometern Entfernung und nimmst dreißig Bücher über das Mittelalter mit. Ich bin erst siebenunddreißig, ich will noch was erleben, ich will nicht so enden wie mein Exmann, der mit fünfundzwanzig schon ein Greis war.« ›Wie mein Exmann‹ war gewissermaßen ein Schimpfwort.
Plötzlich fragte er sich, warum er nicht einfach krank wurde. Wenn er zu einem Arzt ginge, würde der irgendetwas finden. Zum Beispiel nicht näher definierbare Schmerzen im Oberbauch.
Das Telefon klingelte, Grau hob ab, jemand sagte: »Hello?«
»Grau hier. Bitte?«
»White hier. Al White, wenn Sie so gütig sein wollen, sich zu erinnern.«
»Ich erinnere mich«, sagte Grau mit einem hohlen Gefühl im Bauch. »Wie geht es Ihnen?«
»Na ja«, antwortete White vage. Er hatte eine tiefe, gut geölte Stimme. »Ich toure ein bisschen durch Europa, um den Dreckladen in Washington zu vergessen.«
»Warum rufen Sie an?«
»Weil ich Sie in guter Erinnerung habe. Können wir uns sehen?« White lachte.
»Wo sind Sie jetzt?«
»In der Botschaft in Godesberg.«
»Also doch dienstlich.«
»Nein. Hier sitzen ein paar alte Kumpels, die ich besucht habe. Also? Wie steht’s mit einem Kaffee? Wann? Wo?«
Grau versuchte, sich an Whites Gesicht zu erinnern. Er entsann sich der Haare: ein stumpfes Braun, ins Grau hineinspielend, ziemlich kurz. Überhaupt viel Braun an diesem Mann. Dunkelbraune Augen, braunes Jackett, braune Hose, braune Schuhe. Wie lange war das her? Wann ist Eichhörnchen gestorben? September 84.
»Im Stadtcafé, in einer Viertelstunde.«
Grau gab sich einen Ruck, ging hinaus zum Lift und fuhr hinunter.
Die Sonne stand hoch und stach grell in die Augen, was ihn blinzeln ließ. Er steuerte den Kiosk an und kaufte sich zwei Schachteln Gauloises. Wenn er aufgeregt war, vergaß er seine Pfeifen und rauchte Zigaretten. Er überquerte die Adenauerallee und schlenderte in den Hofgarten hinein. Den Kopf hielt er in einem spitzen Winkel zur Erde geneigt.
Er dachte verkrampft: Sie hatte zwanzigtausend Gesichter. Jede Siebzehnjährige hat zwanzigtausend Gesichter. »Herr Grau, ist diese Tote hier Ihre Tochter?« – »Herr Grau, Sie haben dem Mann beide Schlüsselbeine zerschmettert. Warum?« Grau zündete sich eine zweite Gauloise an und trat den Rest der ersten im roten Lehm des Parkwegs aus.
»Haste ’n paar Groschen für ’n antifaschistischen Umtrunk?« Ein Penner hockte inmitten eines Sammelsuriums von Plastiktüten auf dem Rasen und lächelte zahnlos und frech. Er war sehr jung.
»Sicher.« Grau gab ihm ein Zweimarkstück.
Was konnte White von ihm wollen? Verbindungen in Bonn? Vielleicht geht es ihm wie mir, vielleicht versucht er, etwas herauszufinden, von dem er nicht einmal ahnt, was es sein könnte. Pippi Langstrumpf nennt uns Sachensucher.
Grau bewegte sich langsam und verkrampft vorwärts, er wirkte wie jemand, der angestrengt gegen den Strom schwimmt. Er rauchte Kette, aber ohne Genuss, und überlegte, ob er wohl in vierundzwanzig Stunden mit einer drallen Metzgersfrau aus Düsseldorf darüber streiten würde, wo es das beste Eisbein gab: bei Pablo oder Juglio.
Das Stadtcafé war wie immer sehr voll und laut. Er fragte sich ein wenig ratlos, warum er White ausgerechnet an diesen Ort bestellt hatte. Dann fiel es ihm wieder ein: White liebte das Gedränge, mochte die Masse, versteckte sich gern als Gleicher unter Gleichen. Wahrscheinlich waren alle Geheimdienstleute so.
Er ging in den ersten Stock hinauf und entdeckte mittendrin einen freien Zweiertisch. Weil es heiß war, zog er das Jackett aus und hängte es über seine Stuhllehne. Dann bestellte er sich einen Tee und ein Stück Obstkuchen mit Schlagsahne. Die Bedienung brüllte: »Erdbeeren? Die sind frisch!« Grau nickte. »Erdbeeren.« Verdammtes Bonn, dachte er matt. Teneriffa! Wenn man das i scharf betonte, war es ein schöner Fluch.
Dann sah er White. Der lehnte mit dem Rücken an einem Rollladenschrank, in dem die Bestecke gestapelt waren. Grau benutzte das alte Zeichen. Er fuhr sich mit der rechten Hand ans Ohr und spreizte dabei den kleinen Finger weit ab, sodass der einen Bogen zum Auge bildete.
White lächelte flüchtig und näherte sich langsam. Er war einige Zentimeter kleiner als Grau, wesentlich kompakter, mit breiteren Schultern, einem runderen Gesicht und uralten dunkelbraunen Augen über einer schmalen Nase und einem dünnlippigen harten Mund.
Grau grinste, als er sah, dass alles an White braun war. Die Unauffälligkeit in Person. Ein cremefarbenes Hemd zu einer dunkelbraunen Lederjacke, einer dunkelbraunen Hose und dunkelbraunen Slippern. Nur die Krawatte war ein grüner Wollstreifen. »Nice to see you«, sagte er und wies auf den Stuhl neben sich.
»Es ist schön im alten Europa«, erwiderte White. Sie gaben sich nicht die Hand. »Wie ist es Ihnen ergangen?«
»Ich versuche unablässig, meiner Mittelmäßigkeit zu entfliehen.«
White lachte. »Ich hab mich schon gefragt, ob Sie sich diese direkte Art bewahrt haben. Sie rauchen keine Pfeife mehr?«
»Zwei Packungen lang nicht. Wenn Sie mehr als zwei Stunden meiner Zeit beanspruchen, kann ich Ihnen nicht dienen.«
»Wieso? Was ist?«
»Urlaub.«
»Den kann man verschieben.«
»Ich nicht.«
»Sind Sie wieder verheiratet?«
»Nein. Wie geht es Ihnen in Washington?«
»Ich bin Computerfachmann geworden. Kleines Haus in Georgetown für die Familie, die ich alle vierzehn Tage flüchtig sehe. Meine Frau ist sauer, meine Kinder sind sauer, ich bin es auch. Da habe ich mir gesagt: Die können mich doch alle kreuzweise. Ich mache eine offizielle Inspektionstour. Bonn, München, Rom, Madrid. Gut, Sie zu sehen.«
Grau verzog den Mund. »Es ist sieben Jahre her. Ich war ein deutscher Vater mit einem süchtigen deutschen Kind, eine Adresse unter zwanzigtausend.«
»Okay, okay, Sie sind misstrauisch. Sie fragen sich: Was will der?« White lächelte schmal.
»Und, was will er?«
White starrte auf irgendeinen Punkt über Graus rechter Schulter. »Sie sind Journalist. Ich treffe Sie nicht, ohne vorher meine Leute gefragt zu haben. Die sagten: Grau ist unauffällig, gibt nie auf, ein Berufsfrager. Also können Sie mir vielleicht helfen.«
»Ich? Der DEA helfen? Ich habe nicht die geringste Ahnung von der Szene, das müssen Ihre Leute Ihnen doch gesagt haben.«
»Das haben sie auch. Aber dieser Fall ist nicht so einfach. Mir gefällt es hier nicht. Lassen Sie uns gehen.« Grau war erstaunt, aber er widersprach nicht, legte Geld auf den Tisch und ging hinter White her. Auf der Straße blieb der Amerikaner stehen. »Gehen wir spazieren. Zum Rhein runter?«
»Hören Sie, White, was soll das?«, fragte Grau ganz ruhig. »Ich habe null Ahnung vom Drogengeschäft, ich kenne nicht einmal einen Kleindealer, ich kenne bestenfalls ein Dutzend Leute, die leuchtenden Auges berichten, um 1968 herum mal Haschisch gequalmt zu haben. Und AN 1 und Rosimon-Neu haben sie gefressen. Als der Scheißdrogenpapst Leary behauptete: ›Jesus kommt zu dir mit LSD‹, haben sie alle LSD geschmissen. Das war deren wilde Zeit, und jetzt sind sie LBS-Sparer und asthmatisch.«
»Sie haben genug begriffen, um den Dealer Ihrer Tochter halb totzuschlagen.«
»Dass Sie mich daran erinnern, ist nicht fair«, wandte Grau ein.
»Zu mir ist auch kein Mensch fair«, stellte White ruhig fest. »Ich weiß, dass Sie Ihr Geld als fest angestellter Redakteur verdienen. Ich weiß auch von dieser Frau, die Angie heißt. Ich weiß auch, dass Sie morgen früh mit der TUI nach Teneriffa fliegen wollen. Geben Sie mir einfach die Chance, Ihnen etwas zu verklickern, okay?«
»Okay.« Grau lächelte vage. »Aber schlagen Sie keinen großen Bogen, machen Sie schnell. Sie sind eigens meinetwegen hier. Richtig?«
»Richtig.«
»Sie machen auch keine Inspektion der DEA-Außenposten. Richtig? Wenn Sie mich also anheuern wollen, müssen Sie ungefähr knietief in einem Schlamassel waten.«
»Etwa bis zum Kinn.« White machte ein paar Trippelschritte, weil sie in einen Trupp Schulkinder geraten waren, die lärmend heimwärts zogen.
»Wieso ausgerechnet ich?«, fragte Grau und blieb stehen.
»Wir haben Sie im Computer.«
»Das kann nicht der Grund sein«, widersprach Grau schnell. »Sie haben Tausende von Deutschen im Computer, die möglicherweise viel besser geeignet sind.«
White schüttelte den Kopf. »Die wirklich Wichtigen stehen in meinem Notizbuch. Es gibt Lichtgestalten in meinem Beruf, Sie waren so eine Lichtgestalt.«
»Ich bin vorbestraft deswegen.«
»Ja, ja, ich weiß.«
»Also los, sagen Sie, was Sie sagen wollten.« Grau setzte sich auf eine Bank.
White sah sich aufmerksam um und sagte dann durch die Zähne: »Ich möchte lieber weitergehen.«
»Was ist denn los?« Grau wurde langsam auch unruhig.
»Die Geschichte macht mich meschugge.«
Widerwillig erhob sich Grau und sie gingen weiter.
»Ich bin 1985 nach Washington zurückversetzt worden. Ganz normal. Ich kam ins Computerzentrum der DEA. Von Zeit zu Zeit koordiniert man als ehemaliger Außenmann eine Operation. Man plant sie, man holt sich die geeigneten Leute, man zieht sie durch. Meine letzte Operation ging in die Hose. Das ist der Stand der Dinge.«
»Und ich bin jetzt der Schlüsseldienst?«
White lächelte. »Ein paar Kollegen fordern meinen Kopf. Wenn sie sich durchsetzen, hocke ich den Rest meines Lebens im Archiv, und das packe ich nicht. Ich bin erst achtundvierzig. Wollen Sie die Geschichte hören?«
Grau war plötzlich unruhig. »Ich kann nichts für Sie tun, ich fliege morgen.«
»Vielleicht fliegen Sie ja nicht«, sagte White ernst.
»Kann ich die Sache journalistisch auswerten? Und wer weiß, dass Sie mich um Hilfe bitten?«
»Niemand. Fast niemand.«
»Wie lange kann die Sache dauern?«
»Ich weiß es nicht. Vielleicht einen Monat, vielleicht drei Monate, vielleicht klappt es nie.«
»Sie schicken mich doch nicht etwa Heroin oder Koks suchen?«
»Sie sollen einen Mann finden.«
»Was ist das Besondere an ihm?«
»Er hat zehn Millionen US-Dollar in bar bei sich und etwa fünfzig Pfund reines Kokain. Wahrscheinlich ist er längst eine Leiche.«
»Ich kenne die Szene nicht«, gab Grau zu bedenken.
Sie erreichten die erste Quergasse, die zum Rhein hinunterführte, und ihre Schuhe klackten hell auf dem uralten Pflaster.
»Der Mann gehört nicht zur Berliner Szene«, erklärte White. »Das ist mein Handicap. Er ist ein Außenseiter, sozusagen ein Seiteneinsteiger.«
»Warum setzen Sie nicht ein Dutzend Ihrer Spezialisten auf ihn an?«, fragte Grau misstrauisch.
»Haben wir längst getan«, antwortete White müde. »Es gibt nichts, was wir nicht getan haben. Klingt gut für einen Journalisten, nicht wahr?«
»Klingt gut«, gab Grau zu. »Sie sind also auf mich verfallen, weil mich kein Mensch in der Szene kennt und weil ich diesen Beruf habe?«
»Ja. Und weil ich Sie ein bisschen kenne.«
»Wie behalte ich meinen Job? Ich kann nicht einfach verschwinden.«
»Sie können zunächst Ihren ganzen Urlaub verjubeln. Anschließend schreibt Sie ein Mediziner der US-Botschaft krank, inklusive Kur.«
»Wer trägt die Spesen?«
»Spesen trage ich unbegrenzt gegen Quittung. Sie bekommen außerdem täglich zweihundert Dollar Bewegungsgeld ohne Abrechnungspflicht. Sind Sie erfolgreich, bekommen Sie dreißigtausend Dollar. Zehntausend davon sofort, die behalten Sie so oder so.«
»Wo muss ich arbeiten?«
»In Berlin.« White wurde etwas lebhafter. »Sie arbeiten für National Geographic an einer Geschichte der wiedererstandenen deutschen Hauptstadt. Sie müssen also zuweilen Englisch sprechen. Wie ist Ihr Englisch?«
»Besser als das meines Kanzlers. Wer hat mir den Auftrag für National Geographic gegeben?«
»Die New Yorker Redaktion. Ein Mann namens Tree hat Sie in Bonn angerufen, Sie haben akzeptiert. Sie kennen Tree nicht, aber das ist auch nicht notwendig.«
»Kein Deckname? Kein Arbeitsname?«
»Nicht nötig. Sie sind Jobst Grau, Sie sind Journalist, Sie recherchieren, Sie haben nichts mit Rauschgift oder Dealern zu tun.«
Grau dachte erstickt: Mach’s gut, Angie! Dann fragte er: »Habe ich Kontakt, wenn etwas schiefgeht?«
»Natürlich. Kontakt über DEA Bonn. Botschaft. Tag und Nacht.«
»Da stimmt etwas nicht«, murmelte Grau. »Sie sagten: Fast niemand weiß, dass Sie sich an mich wenden. Wie können Sie mich dann bezahlen?«
White lächelte zuerst, dann lachte er. »Von meinen zwanzig Vorgesetzten glauben sechs daran, dass ich die Sache wieder in Ordnung bringe. Also habe ich einen Etat und bezahle Sie nicht von meinem Sparbuch.«
»Wann muss ich anfangen?«
»Vorgestern.«
»Dann will ich die Geschichte hören.«
Sie setzten sich auf eine Bank am Rheinufer und starrten auf den stark frequentierten Fluss. Die beiden Männer wirkten wie zwei alte Büroangestellte, die Mittagspause machen und sich wortlos darüber verständigen, dass sie nie eine weitere Sprosse auf der Karriereleiter vor sich haben werden.