DRITTES KAPITEL

Ich bog auf den Hof und mußte in die Bremsen gehen, weil sie da auf einem Koffer hockte und den Eindruck machte, als bewache sie mein Haus. Ich hatte sie vergessen, ich erinnerte mich, daß sie angerufen hatte, aber wie sie hieß, wußte ich nicht mehr. Was hatte sie gesagt? Bettina? Bettina? Bettina ... Sie stand auf: »Grüß dich, ich bin also die Bettina. Du erinnerst dich?«

Zuweilen ist es gut, bei der Wahrheit zu bleiben, zuweilen ist es besser, nicht unbedingt höflich zu sein. Ich gab also zu: »Tut mir leid, ich erinnere mich nicht. Was hast du gesagt, wo haben wir miteinander gesprochen?«

»Beim Sommerfest von Petra. In Gräfelfing. Du hast mir erzählt, daß du ganz allein hier lebst, wie dich das ausfüllt und wie dich das glücklich macht...«

»Petras Sommerfest ist mir geläufig«, sagte ich vorsichtig. »Wie kommst du in diese Gegend?«

»Ich habe eine alte Mitschülerin besucht. In Daun. Sie hat mit mir zusammen Abitur gemacht und ist da verheiratet. Weil ich sowieso in der Gegend war, da dachte ich ... o Scheiße, ich komme im falschen Augenblick, nicht? Ich bin völlig falsch, du erinnerst dich nicht an mich. Kann ich verstehen, manchmal geht das so, ich geh ja schon wieder, ich störe ja nur ...«

»Mal langsam. Wenn du hier auf den Bus warten willst, stehst du bis Montag morgen um halb acht. Das sind nur rund sechsunddreißig Stunden. Was, sagtest du, habe ich dir erzählt?«

Sie war schmal und dunkelhaarig und hatte große, eindrucksvolle Rehaugen und einen vollen Mund, der dauernd zuckte, als wolle sie zu weinen beginnen.

»Du hast auf diesem Fest bei Petra erzählt, wie du hier wohnst. Wir haben darüber gesprochen, was man im Leben unbedingt lernen sollte. Du hast gesagt: Man muß unter allen Umständen lernen, mit sich allein zu leben. Erst dann ist man gut für das Leben mit anderen. Das ... das habe ich nicht vergessen. Ruf mir ein Taxi, ich bin hier falsch, ich störe doch nur, ich ...«

»Nun komm erst einmal rein«, sagte ich energisch. »Gib mir diesen Koffer, dann kochen wir uns einen Kaffee. Und dann finden wir ein Bett für dich, und morgen sehen wir weiter.«

»Aber wenn ich doch störe, und was sagt deine Familie?«

»Ich habe keine Familie, jedenfalls meistens nicht. Sieh mal, da ist Krümel, das ist meine Katze, das ist meine Familie. Und hinten im Garten gibt es Glockenunken, eine Erdkröte und einen oder mehrere Grasfrösche, und unter der größten Birke liegt ein Haufen alter Äste. Da wohnt ein Igelpaar, die haben Junge, und da gibt es ein Plastikbecken mit einem Haufen Wasserflöhe. Das ist meine Familie. Jetzt steh hier nicht rum ...«

Mein Vortrag wurde massiv gestört durch ein Auto, das mit quietschenden Reifen um die Kurve schoß, auf den Hof donnerte, tiefe Spuren in die Erde riß und schepperte, als es abgebremst wurde. Es war der junge Kollege namens Unger, und er kam aus dem Auto herausgesprungen, als sei der Teufel hinter ihm her. Er stürzte heran, leckte sich die Lippen und keuchte dann: »Wir müssen einen Deutschrussen namens Wassi, also Wassiliew, finden. Der weiß was, ich wette, der weiß was.«

»Er behauptet, daß er nichts weiß«, berichtigte ich. »Das ist Bettina, ein Gast aus München, das ist Herbert Unger, ein Mensch aus Hamburg. Gebt euch die Hand und vertragt euch. Jetzt will ich einen Kaffee.« Ich nahm den Koffer und marschierte ins Haus. Ich hörte, wie Unger hinter mir höflich fragte: »Sind Sie auch daran interessiert, die Kohlen zu finden?« Sie antwortete verwirrt: »Welche Kohlen denn?«

Ich öffnete für Krümel eine Dose Thunfischhäppchen und füllte ihr eine Schüssel mit Wasser. Meinen Gästen erklärte ich: »Ich habe ein Problem mit euch. Morgen kommt ein lieber alter Freund. Ich habe aber keine drei Zimmer.«

»Wieviel haben Sie denn?« fragte Unger.

»Zwei«, entgegnete ich wahrheitsgemäß.

»Ich kann doch wieder abhauen«, murmelte Bettina. »Schließlich hast du nicht mit mir gerechnet ...«

»Kommt gar nicht in Frage«, bestimmte Unger. »Irgendwie schaffen wir das schon. Der liebe alte Freund kriegt ein Zimmer, die Bettina kriegt Zimmer Nummer zwei, und ich kann vielleicht irgendwo auf einem Sofa schla...«

»Kommt überhaupt nicht in Frage«, widersprach ich. »Die nächsten Tage werden hektisch. Wenn ich hektisch bin, will ich nicht über fremde Körper stolpern. Haben Sie was dagegen, in einem Schlafsack zu pennen?«

»Oder vielleicht in einem Hotel?« schlug Bettina vor.

»Das geht nicht«, sagte Unger schnell, und er wurde verlegen.

Ich klärte sie auf: »Das geht deswegen nicht, weil sein Chef ihm aufgetragen hat, sich eng an mich zu halten und mich keine Stunde allein zu lassen. Da hilft nur der Schlafsack.«

»So isses«, nickte Unger dumpf. »Was sagt Wassi?«

»Wassi arbeitet im Wald, ist gern im Wald, war schon in Kasachstan im Wald, hat aber nichts gesehen, weil er nicht am Tatort war«, informierte ich ihn.

»Und, glauben Sie das?«

»Nein, das glaube ich nicht«, gab ich zu.

»Sollen wir ihn ein bißchen unter Druck setzen?« fragte er.

»Hier wird niemand unter Druck gesetzt«, verneinte ich resolut. »Er wird reden, wenn er will. Wenn er nicht will, müssen wir ... egal, wir werden sehen. Was war noch auf der Pressekonferenz?«

»Der übliche Schmonzes«, resümierte er. »Kein Mensch weiß etwas, aber alle reden klug daher. Der Banker geht mir auf den Senkel, der redet unentwegt Schmalz und hat Augen wie ein totes Pferd.«

»Wo ist der Kaffee?« fragte Bettina.

»Ich helfe Ihnen«, bot sich Unger schnell an.

»Das ist eine gute Idee«, lobte ich und marschierte hinüber in mein Arbeitszimmer. Einigermaßen verzweifelt ließ ich mich in meinen Sessel fallen. So viel Besuch! Drei Leute im Haus, das muß man sich mal vorstellen! Krümel strich um meine Beine, und ich tröstete sie: »Wir müssen jetzt hart sein, da müssen wir durch!« Um mir zu beweisen, daß ich nicht der einzige war, der mit akuter Melancholie schwanger ging, legte ich Mahlers Lied von der Erde auf, um es dann schleunigst durch die Dutch Swing College Band zu ersetzen, die die Lage jedoch auch nicht in den Griff bekam.

Wie das an superwarmen Wochenenden so sein kann, tauchte plötzlich mein Bürgermeister in der Tür auf. »Falls du eine Flasche Bier im Eisschrank hast, nehme ich dein Angebot an und setze mich fünf Minuten«, lud er sich ein.

»Hast du was erreicht? Gibt's Neues von der Witwe Bolte?«

»Nicht die Spur.« Er schüttelte den Kopf. »Sie hockt zu Hause und kocht nichts mehr. Sie sagt, alles Irdische sei unrein, und singt ununterbrochen Marienlieder. Nein, kein Platz in Sicht. Die vom Altenheim sagen ganz klar: Wir haben in Notfällen Aufnahmepflicht, aber in diesem Fall ist eine Klinik zuständig. Die Kliniken in Daun, Gerolstein und Wittlich wiederum sagen: Wir nehmen akute Psychiatrie-Patienten nur und nur so lange, bis sie durch Medikamente ruhiggestellt sind. Mehr nicht!«

»Und die Kliniken in Andernach, Schieiden oder Neuenahr?« warf ich ein.

Er zündete sich eine Zigarette an: »Geht nicht, das mache ich nicht. Sie stammt aus unserem Dorf, war ihr Leben lang hier und ist ja meistens auch ganz normal. Wenn ich sie jetzt irgendwo jotwede unterbringe, ist sie im Eimer. Dann wird sie wirklich meschugge. Oh, verdammt, was hat mich bloß dazu gebracht, hier den Bürgermeister zu machen?«

»Hast du jemanden, der sie gelegentlich betreut? Essen kocht und so?«

»Kättchen macht das. Ich gucke auch manchmal, aber das ist doch alles nicht das richtige.«

»Was sagt denn der Arzt?«

»Was soll der sagen, der ist kein Facharzt, der dröhnt sie zu, und das war es dann. Wenn sie die Tabletten verdaut hat, geht alles von vorne los. Was macht der Geldraub?«

»Was soll er machen? Alle reden, keiner weiß etwas. Weißt du etwas? Setzen Sie eine Belohnung aus?«

»Sie wollen achthunderttausend bieten, heißt es. Ganz schönes Taschengeld. Hast du einen Schimmer, wer es gewesen sein könnte?«

»Niemand hat einen Verdächtigen. Hilft es dir, wenn ich zwischendurch der Witwe Bolte auch mal das Essen mache?«

Er nickte und trank von dem Bier. »Ich habe Gäste, ich muß zurück. Vielleicht kannst du zur Witwe Bolte rübergehen und mal mit ihr reden?«

»Mache ich. Und wenn du etwas von dem Zaster erfährst, sagst du es mir?«

Er versprach es mir und ging davon, voller Sorge über die Zukunft der Witwe Bolte.

Unger und die Bettina saßen vorn in der Stube und schienen schon ein Herz und eine Seele zu sein. Ich erklärte ihnen: »Ich muß eine alte kranke Frau besuchen. Unger, Sie legen den Schlafsack am besten hier in die Ecke. Ich habe die Bettwäsche in dem Schrank dort.«

»Ist gut«, murmelte er nicht sonderlich interessiert. »Wir fahren vielleicht noch nach Gerolstein in die Disco. Stört Sie das?«

Bevor ich antworten konnte, brach Bettina in Tränen aus: »Ist doch alles Scheiße«, schluchzte sie. »Ich bin aus meiner Ehe raus, ich wurde langsam verrückt, versteht ihr. Ich wußte nicht, wohin. Ich klapperte alle Mitschülerinnen ab, von denen ich weiß, wo sie leben. Aber die haben mich früher nicht interessiert, und jetzt können sie mit mir nichts anfangen, und ich ... Da dachte ich: Vielleicht kann Baumeister helfen ...«

»Ist schon in Ordnung«, beruhigte sie Unger ganz sanft. »Jetzt gehen wir erst mal in die Disco und sehen uns die Prinzen aus der Provinz an. Schwoofen wird dir guttun, oder?«

Sie schniefte und nickte, und ich sagte: »In der Glasschüssel auf der Garderobe liegt ein Hausschlüssel ... Ich verschwinde jetzt.«

Meiner Schätzung nach war es immer noch zwanzig Grad warm, viele Leute saßen in ihren Gärten, hatten Lichter in Gläsern auf die Tische gestellt und genossen die Friedlichkeit des Sommers. Als sie noch Bauern waren, hatten sie nie die Zeit gehabt, im Sommer nächtelang zu singen und zu feiern. Jetzt, da sie irgendwo arbeiteten und die Trecker verkauft waren, feierten sie gerne und sangen: »Am Brunnen vor dem Tore ...« Es klang immer wie eine Beschwörung. Wenn es warm wird, sind die Nächte von Samstag auf Sonntag endlos, nichts und niemand wartet, außer der Pfarrer am Sonntagmorgen.

Das Haus der Witwe Bolte stand einsam am Ende der schmalen Straße auf der linken Seite. Sie hatte keine unmittelbaren Nachbarn. Nach vorn hinaus sah sie auf das Dorf und die alte Kirche, nach hinten auf die Scheune vom jungen Christian Daun. Witwe Bolte lebte in ihrem kleinen, uralten Haus wie auf einer Insel.

Ich war erleichtert, denn ich sah kein Licht, hörte keinen Laut und wollte schon wieder umkehren, als ihr Lied durch die nur angelehnte Haustür tönte. »Meerstern, ich dich grüße, o Maria hilf ...« Sie sang frisch und klar wie ein sehr junges Mädchen, selbst die hohen Töne kamen deutlich und ohne Fehl.

Ich klopfte gegen die Tür, aber sie hörte mich nicht. Ich trat ein und sah sie in der Küche. Sie hatte das Licht ausgeschaltet, und auf dem Fußboden und dem Küchentisch brannten Teelichter, sicherlich alles in allem mehr als hundert.

Sie kniete auf dem Boden und sang mit sehr rhythmischen Kopfbewegungen. Sie drehte sich leicht zu mir, lächelte und wies einfach hinter sich. Wahrscheinlich wollte sie, daß ich mich hinter sie kniete. Das ließ ich sein, blieb stehen und wartete, bis sie drei Strophen gesungen hatte.

Bevor ich etwas sagen konnte, wandte sie lächelnd den Kopf und fragte: »Guten Abend, Herr Baumeister. Wollen Sie mit uns beten?«

»Das will ich nicht. Ich wollte nach dir sehen, weil man sagt, du bist krank.«

Sie war einen Augenblick lang still, schien nicht einmal zu atmen, dann drückte sie ihren sehr schweren Körper hoch und stand auf. »Ja, ich bin wohl krank. Aber die Leute meinen alle, ich bin verrückt. Dabei bete ich nur zum Erzengel Michael und zur heiligen Jungfrau.«

»Das ist sicherlich gut und schön ...«, meinte ich.

In diesem Augenblick kam Kättchen, die Frau meines Bürgermeisters, aus dem Schlafzimmer, stutzte und sagte dann: »Grüß dich, Siggi. Unser Klärchen hat jetzt ein frischgemachtes Bett. Und du? Kümmerst dich um den Geldlaster?«

»Ein bißchen, Kättchen, ein bißchen. Aber es sieht nicht so aus, als würde jemand damit zum Fundamt gehen.«

Sie lachte. »Damit kann man eine Bank aufmachen.«

»Dafür reicht es wohl nicht, aber die Portokasse wäre gut gefüllt. Sag mal, ist das nicht gefährlich mit den Teelichtern?«

Sie nickte. »Schon. Aber was willst du machen? Kaum bist du draußen, stellt sie neue auf und zündet sie an. Aber eigentlich ist Klärchen ja ganz vernünftig. Nur ißt sie zu wenig.«

Ich knipste das Licht in der Küche an. Die Witwe Bolte trug einen alten, verwaschenen Bademantel über einem weißen Nachthemd. »Wann hast du denn zum letzten Mal gegessen?« fragte ich.

»Ich brauche doch nichts essen, der Herr ernährt mich schon irgendwie«, antwortete sie zuversichtlich. Ihr Gesicht war schwer und glänzte ein wenig fettig, ihre Augen strahlten.

»Laß mal sehen«, meinte Kättchen. Auf dem Herd standen zwei zugedeckte Töpfe. In einem war Soße mit einer Art Krautwickel, im anderen Kartoffeln. »Das ist doch schon was«, erklärte das praktische Kättchen. »In zehn Minuten gibt es was zu essen.«

»Das kann doch der Siggi mit nach Hause nehmen«, schlug die Witwe Bolte keck vor. »Er ist doch allein.«

»Ich bin aber hier, um aufzupassen, daß du anständig ißt«, sagte ich. »Du hörst jetzt brav auf Kättchen. Mit wem redest du denn die meiste Zeit? Mit Maria? Oder mit dem Erzengel Michael?«

»Das kommt darauf an«, erklärte die Witwe Bolte ernsthaft. »Meistens natürlich mit Mutter Maria. Schließlich ist sie ja auch eine Frau. Manchmal aber auch mit Michael. Es kommt ... es kommt auf das Thema an. Meistens sind es ja Frauenthemen.«

Kättchen, eine deftige Frau in den Vierzigern, stand am Herd und rührte in den Töpfen. »Wo sie schon gerade von Mutter Maria redet. Hast du das von Mater Maria im Altenheim schon gehört?«

»Nein, was?«

»Die muß heute nachmittag richtig blau gewesen sein, richtig besoffen.«

»Mutter Maria? Die? Doch nie!«

»Doch, doch. Sie hat sich doch immer eine neue Küche für das Altenheim gewünscht. Und hatte keine Chance, sie zu kriegen, weil der Neubau soviel Geld verschlungen hat. Das Ding sollte sage und schreibe 130.000 Mark kosten. Nun hat sie heute irgendeinen Spender gefunden, der ihr das finanziert. Und soweit man hört, ist sie heute abend bei einer Frauengruppe oder so was richtig besoffen aufgetreten und hat alle umarmt und abgeknutscht. Die Gruppe ist ausgefallen, die Frauen haben dann Sekt getrunken. Mater Maria war dun!« Sie kicherte.

Die Witwe Bolte übernahm das Kichern. »Die Jungfrau Maria ist manchmal richtig gut gelaunt. Als ich gesagt habe, unser Pfarrer hätte es nicht so gern, wenn ich mit ihr rede, hat sie gesagt, der war nur neidisch.«

»Wie lange darfst du schon mit Maria und Michael sprechen?« fragte ich grinsend.

»Na ja, so zehn Jahre, denke ich. Das war viel Arbeit, weil man es sich durch Gebete verdienen muß. – Die Gabeln sind da in der Schublade. – Wenn ich viel gebetet habe, schlafe ich glatt zwölf Stunden. – Die Teller sind oben im Schrank, nicht unten. Wollt ihr ein Schnäpschen? Einen selbstgemachten Schlehenschnaps?«

»Hast du selbst Schlehen gepflückt?«

»Na sicher, nach den ersten Frösten im Dezember. Es gab diesmal unheimlich viele. Du glaubst auch nicht, daß ich mit der Jungfrau rede und dem Erzengel, nicht wahr?«

»O nein, im Gegenteil. Ich wette, du sprichst wirklich mit ihnen, und ich wette, niemand außer dir kann sie wirklich verstehen.«

Die Witwe Bolte schwieg. Dann murmelte sie: »Das ist nett von dir. Oh, Kättchen, tu nicht zu viel auf den Teller!«

»So«, befahl Kättchen, »der Teller wird aber leergegessen!« Dann grinste sie mich an und hatte den Schalk im Nacken. Harmlos versprach sie: »Der Siggi kann doch so gut Geschichten erzählen. Wenn du brav ißt, Klärchen, erzählt er dir sicher eine Gute-Nacht-Geschichte.«

»Das ist aber toll!« strahlte die Witwe Bolte, und ich dachte über irgendeine brutale Todesart für Kättchen nach.

»Na gut.« Ich streckte die Waffen. Insgeheim beschloß ich, mich furchtbar zu rächen, hatte aber noch keine Ahnung, wie das aussehen könnte.

»Komm her, Klärchen«, sagte Kättchen. »Ab ins Bett! Und nicht mehr aufstehen und nicht mehr rumlaufen. Und auch nicht mehr beten. Hörst du?«

»Ich bin ja ein braves Mädchen.« Sie kicherte, sie war eine wirklich fröhliche Verrückte.

Kättchen geleitete sie ins Schlafzimmer und zog ihr den scheußlichen Bademantel aus. Dann legte sich die Witwe Bolte hin, wurde zugedeckt, und ich bekam einen Hocker neben das Bett gestellt.

Da sitzt man gegen Mitternacht neben dem Bett einer alten Frau, und es fällt einem nichts, absolut nichts ein. Sie liegt wie ein Kind auf dem Kissen und strahlt in Erwartung dessen, was kommen wird. Ich druckste herum und sagte: »Ja, äh, ähem« und Ähnliches mehr. Plötzlich erinnerte ich mich an eine kitschige, honigsüße Fünf-Minuten-Geschichte von dem wundersamen Igel namens Murkel, der nachts die Kinder in den Betten besucht und sie tröstet, wenn sie unglücklich sind. Die erzählte ich ihr. In meiner Geschichte tröstete Murkel erfolgreich einen kleinen Jungen, der steif und fest behauptete, den Heiligen Antonius gesehen zu haben.

Ich brachte die Geschichte nicht zu Ende, denn entweder war sie so einschläfernd schlecht, daß die Witwe Bolte zu schnarchen begann, oder sie war das beste Beruhigungsmittel seit Erfindung des Holzhammers.

Kättchen flüsterte erstaunt: »Das wirkt ja Wunder«, was mich nicht gerade tröstete. Wir löschten das Licht und gingen hinaus. Kättchen erklärte: »Ich schließe nicht ab. Kein Mensch kommt auf die Idee, Klärchen zu klauen.« Damit machte sie sich auf den Weg.

Ich schlenderte durch die Nacht und hatte keine Lust zu irgendwas. Nicht, nach Hause zu gehen, ins Bett zu steigen und zu schlafen. Also kletterte ich in den Jeep und fuhr zu dem, was sie lapidar Tatort nannten. Ich stellte den Wagen zwischen die Bäume, stopfte mir die Prato von Lorenzo, schmauchte vor mich hin und betrachtete diese zweihundert Quadratmeter, auf denen sich alles abgespielt haben sollte. Dabei stellte ich mir vor, ich hätte herauszufinden, wohin der Transporter fuhr, wer ihn steuerte, wie die Wachleute überlistet worden waren. Angenommen, das war zu schaffen. Wohin jetzt mit dem Wagen? Wieviel Zeit hatte ich, wieviel Zeit sah meine Planung vor? Zwanzig Minuten, sechzig Minuten, zwei, drei, vier Stunden. Konnte ich das überhaupt planen? Wenn ich wußte, wann dieser Wagen durchkam, wenn ich wußte, mit welchem Trick ich die zwei Transportbegleiter herauslocken konnte, dann mußte ich auch wissen, daß der Wagen ein Zeitschloß hatte, eines, das erst um achtzehn Uhr den Zugang zu den Millionen freigeben würde. Also mußte meine Planung vorsehen, mir mindestens bis zu diesem Zeitpunkt den Rücken freizuhalten. Erst danach könnte ich den Wagen leeren, das Geld verladen. Und dann? Dann mußte ich mit dem Geld in ein absolut sicheres Versteck abtauchen können. Ich hatte den Wagen seit kurz nach elf, ich mußte ihn absichern bis achtzehn Uhr dreißig. Das waren sieben Stunden, das war schier unmöglich. Trotzdem mußte genau diese Möglichkeit bestehen. Wer hatte das gedreht, wer hatte das geplant, wer hatte so viel Grips im Kopf?

Samstagmorgen, bestes Wetter, Hochsommer. Wie lange fuhr um kurz nach elf niemand auf dieser Straße? Ein Unding, anzunehmen, daß alle Wochenendtouristen ausgerechnet diese Straße meiden würden.

Wie lange würde der Geldtransporter brauchen, um entweder in Wiesbaum oder in Flesten die nächste, schnelle, durchgehende Straße zu erreichen? Zehn Minuten? Zehn Minuten, wenn er langsam fuhr. Also fünf Minuten. Unnütze Überlegung, denn auf diesen vielbefahrenen Straßen konnte der Geldtransporter nicht verschwinden: Zu viele würden ihn sehen, er würde irgend jemandem mit Sicherheit auffallen, denn ein Geldtransporter am Wochenende fällt auf.

Daraus konnte man schließen, daß die Täter ein Versteck für den Wagen in unmittelbarer Nähe gefunden haben mußten. Aber, was bedeutete unmittelbare Nähe? Vier Kilometer? Acht Kilometer? Sie hatten durchaus Zeit, zwanzig Kilometer zu fahren. Sie konnten, wenn sie über Meßtischblätter der Gegend verfügten, die in jedem Papierladen zu kaufen waren, mühelos alle belebten Straßen vermeiden. Von meinem Standpunkt bis etwa in Höhe des Nürburgrings gab es auf einer Strecke von rund dreißig Kilometern endlose Wälder, in die man bei guter Vorbereitung eintauchen konnte wie ein Frosch in ein Schlammloch: unauffindbar.

Sie konnten, natürlich, durch Anhängen einfacher Blenden in Wagengröße aus dem Geldtransporter mühelos einen Lkw mit Tiefkühlkost machen, sie konnten plötzlich ein Wäschereifahrzeug fahren, ein Postauto sogar, wenn auch eines mit absonderlichen Formen. Aber das würde niemandem auffallen.

Ich hockte mich in den Jeep und fuhr heim. Dort legte ich ein Klavierstück von Brahms auf, fand es aber fade, wechselte zu Miles Davis, ließ mich beruhigen und beschloß, ins Bett zu gehen, nachdem Krümel eine zusätzliche Portion Herz abgestaubt hatte.

Es war gegen drei Uhr, als ich sie hörte.

Unger sagte dauernd »Pst, pst« und zischte dabei so laut wie ein Feldwebel. Bettina gluckste vor Lachen, und schließlich fragte Unger drängend: »Also, verdammt noch mal, wo ist denn dieser Scheißschlafsack?«

Dann war es eine Weile still, bis es zaghaft klopfte, und noch ehe ich mich geräuspert hatte, stand Unger schwankend vor meinem Bett und verkündete nuschelnd: »Wir melln uns zurück, Chef.«

»Ist ja gut«, nörgelte ich.

»Da is aber noch was«, sagte er drohend.

Ich öffnete die Augen, stützte mich hoch, sah ihn an und hatte allen Whisky der Welt um die Nase.

»Es ist nämlich so, daß die Bettina einen echten, tiefen Kummer hat!« trompetete er.

»Aha.«

»Jawoll!« betonte er. »Also, sie ist eigentlich hergekommen, weil sie hoffte ... weil sie hoffte, daß Sie ihr irgendwie helfen würden. Weil: Sie hat einen tiefen Kummer.«

»Lieber Mann«, erklärte ich, »Sie sind hier, um einen äußerst delikaten Geldraub zu beschreiben, und nicht, um die Kümmernisse der Bettina zu untersuchen.«

»Hah!« rief er triumphierend. »Hah! Sind nicht gerade wir Journalisten gefragt, wenn Menschen in Not sind?«

»Richtig«, bestätigte ich. »Zerschossene Kinder aus dem ehemaligen Jugoslawien, Kinder aus Somalia auch, Unterhosen für die Kurden von mir aus auch noch. Aber die Tränen von Bettina?« Langsam wurde ich wütend.

»Hah!« begann er erneut. »Müssen nicht gerade wir hinhören, wenn Tränen fließen? Gerade wir, die wir dazu in der Lage sind, auch mehrgleisig zu denken, zwei oder drei Probleme gleich... gleichzeit...«

»Gleichzeitig«, half ich.

»Also gleichzeitig zu behandeln. Müssen wir das nicht?«

»Hock dich mal aufs Bett«, sagte ich. Man soll Betrunkene nicht unnötig am Elend der Welt verzweifeln lassen. »Was hat sie denn, die Bettina?«

Er atmete mit dicken Backen aus wie ein Pferd. »Ihr Mann schlägt sie.«

»Ist das sicher? Das ist schlimm.«

»Sage ich doch«, sagte er. »Und was tun wir? Wir hören weg!«

»Wir hören nicht weg. Sie sollten aber jetzt schlafen«, beruhigte ich ihn.

»Aber wir müssen auch Bettina helfen, klar?«

»Klar.« Hinter mir stand Krümel auf der Fensterbank und fauchte ihn an.

»Schon gut«, nuschelte Unger würdevoll. »Ich wünsche eine angenehme Nacht.«

Ich hatte keine angenehme Nacht, ich konnte nicht mehr einschlafen. Ich nahm nach Sonnenaufgang um sechs Uhr eine Decke und trollte mich in den Garten unter die Birke. Irgendwie bin ich in meinem Haus nicht mehr zu Hause, wenn sich in jedem Zimmer ein anderer Mensch räkelt. Gastfreundschaft ist gut, aber zuviel davon macht mir angst.

Punkt zehn Uhr schlurfte jemand um die Ecke, und ehe ich ihn identifiziert hatte, sagte dieser Jemand: »So schön kann es nur in der Eifel sein.«

Ich hatte natürlich vergessen, daß er sich angesagt hatte, und erwiderte: »Ach, der Herr Rodenstock. Herzlich willkommen!« Es klang verdächtig matt.

»Ich bin etwas früher«, deutete er eine Entschuldigung an. »Ich muß eben noch das Taxi bezahlen.« Damit ging er wieder.

Höflich wie ich bin, folgte ich ihm. Es war ein Taxi aus Cochem.

»Ich habe die Fahrpläne studiert«, erklärte er. »Die Verbindungen hierher sind gleich Null. Da habe ich einen Sondertarif für Rentner ausgehandelt.« Während er das schnell sagte, sah er mich nicht an, ließ sich zwei kleine Koffer anreichen und bezahlte fahrig.

Er war nicht mehr der alte, sehnige, auf Mord spezialisierte Kriminalist, er wirkte müde, abgemagert und hatte Falten im Gesicht, die grau und schlaff hingen.

»Sie wollen sich sicher die Hände waschen?«

»Das wäre gut. Wie geht es der Dame von damals, dieser Elsa?«

»Ich weiß es nicht. Wir telefonierten vor einem Jahr, da ging es ihr nicht gut. Sie hatte irgend etwas hinter sich, eine miese Erfahrung oder so ...«

Ich nahm schnell seine beiden Koffer, ging vor ihm her ins Haus und stellte sie ihm in das Gästezimmer. »Da ist das Bad«, informierte ich ihn. »Ich habe zwei junge Leute zu Gast, einen Kollegen und ein weinendes Herz. Nette Leute. Ich mache uns jetzt einen Kaffee.«

Rodenstock nickte, er bewegte sich sehr langsam.

Ich kochte Kaffee und suchte nach einem Rest Cognac, der sich in irgendeiner Flasche verbergen mußte. Dann trug ich alles um das Haus herum in den Garten und wartete. Fritz, mein Frosch, hockte blinzelnd neben dem kleinen Wasserbassin und feierte den Sonntag.

Schließlich kam er. Er hatte die widerlich melancholische dunkelbraune Krawatte abgelegt und ein lichtblaues Hemd mit kurzen Armen angezogen. »Wie geht es Ihnen?« fragte er.

»Ganz gut. Die Zeit vergeht, und ich sehe ihr dabei zu. Und Ihnen?«

»Man schlägt sich so durch.« Er setzte sich wie jemand, der Rheuma hat.

»Wieso leben Sie in Cochem? Ihre Stadt war doch Trier.«

»Das ist richtig, aber ich hatte keine Lust mehr, dort zu wohnen. – Erzählen Sie mir, was geschehen ist?«

Ich sah ihm zu, wie er die Schokolade zerbrach, sich Kaffee einschenkte, einen kleinen Schluck Cognac eingoß, dann die Brasil anschnitt und sie bedachtsam anzündete. Ich berichtete ihm, was geschehen war, das Wenige, das bekannt war.

»Da verschwinden also mehr als achtzehn Millionen, und niemand weiß und ahnt etwas?«

»So ist es.«

»Das glaube ich nicht«, meinte er nach einer Weile.

»Ich auch nicht. Aber das hilft uns nicht weiter.«

»Wohnen hier in der Gegend Menschen, denen so etwas zuzutrauen wäre?«

»Mit Sicherheit nicht. Für mich riecht der Geldraub nach Profis mit langer Vorbereitung. Was sagt der Spezialist?«

»Ein Moment macht mich nachdenklich. Da legen drei Männer – nehmen wir einmal an, daß es drei waren – eine Plane auf die Straße, darauf ein zerdeppertes Motorrad. Dann legen sie sich daneben. Der Wagen kommt, die beiden Fahrer steigen aus, um zu helfen. Und jetzt kommen die Sekunden, die merkwürdig sind: Die Täter schlagen nicht zu, bedrohen offensichtlich nicht einmal. Sie haben nach Aussage der Wachleute auch nicht die Spur einer Waffe. Nicht einmal einen Knüppel, so lächerlich diese Vorstellung auch ist. Weiter: Die Täter sagen nach Aussage der Wachleute kein Wort. Gewiß, sie haben Motorradmasken an. Aber wieso, um Gottes willen, versuchen die Wachleute nicht wenigstens Gegenwehr?«

»Ich glaube, die Fahrer sind nicht von der Sorte der harten Cowboys. Man hat ihnen bei der Schulung beigebracht, jede Gewalt zu vermeiden. Man hat ihnen gesagt: Seid unter allen Umständen passiv, geht auf die Täter in jeder Weise ein! Vielleicht liegt die Professionalität der Täter genau in diesem Punkt: vollkommen wortlos und vollkommen ohne Gewalt. Vermuten Sie denn unter den Tätern irgendwelche Bekannte der Wachleute?«

»Nicht unbedingt. Aber vielleicht ist doch einer darunter?«

»Glaube ich nicht.«

Unger kam um die Ecke und trug meinen Bademantel. Er räkelte sich und sagte unternehmungslustig: »Guten Morgen! Sie haben Besuch?«

Ich stellte sie einander vor: »Herr Rodenstock ist Mordspezialist.«

»War, war«, verbesserte Rodenstock schnell.

»Machen Sie sich alleine einen Kaffee«, bestimmte ich. »Wir müssen überlegen.«

»Was ist mit diesem Wassi?« fragte Unger.

Rodenstock spürte einem Stück Bitterschokolade und einem Schluck Cognac nach. Er sagte langgezogen: »Hhhmmm! Wassi ist nach meiner Einschätzung ein Schlitzohr. Wie er mir geschildert wurde, ist er jemand, der durchaus dabeigewesen sein könnte – aber: Er verfügt über null Logistik, er kann es nicht durchziehen.«

»Bettina geht es immer noch schlecht«, wechselte Unger das Thema.

»Lieber Gott«, explodierte ich, »dann kümmern Sie sich um sie! Wir haben einen der größten Geldraubfälle der letzten Jahrzehnte auf dem Hals, und Sie streicheln ihr Seelchen.«

Rodenstock grinste verstohlen.

»Schon gut, schon gut«, muffelte Unger.

»Und ziehen Sie einen anderen Bademantel an«, ergänzte ich bissig.

Der Kollege aus Hamburg antwortete nicht, marschierte wütend davon und trat mitten in ein Büschel blühendes Seifenkraut.

»Schonen Sie die Blumen und Gräser«, murmelte Rodenstock seidenweich. Dann sah er mich an, kniff die Lippen zusammen und setzte hinzu: »Wir sind zwei alte miese Knacker, nicht wahr?«

»Was ist mit Ihnen passiert?« fragte ich.

Er beugte sich mit einem Ruck nach vorn, wollte nach der Kaffeetasse greifen, aber er begann zu zittern.

»Meine Frau ist tot«, erklärte er.

»Scheiße.«

»Ich tauge nichts mehr, ich bin eben alt.«

»Sie sind nicht hierhergekommen, um gequirlten Blödsinn zu erzählen. Wir haben einen Fall zu klären!«

»Aber niemand ist an unserer Meinung interessiert«, wandte er ein.

»Da pfeif ich drauf«, sagte ich. »Wir brauchen einen Ansatz. Haben wir einen Ansatz? Wir haben keinen. Also machen wir beide einen Ausflug.«

»Wohin?«

»Nach Dernau ins Ahrtal.«

»Hocken dort die Gauner und zählen ihr Geld?« Er lächelte.

Wir machten uns auf den Weg. Unger stand vor dem Haus und fragte mißtrauisch: »Recherchieren Sie etwas Wichtiges?«

»Wir recherchieren nicht, wir fahren ein wenig spazieren«, entgegnete ich abweisend.

Langsam fuhren wir durch die Gegend.

Rodenstock drückte sich in die Ecke des Beifahrersitzes und lutschte an seiner erloschenen Zigarre herum. »Es war so, daß sie gar nicht krank war. Wenn ich genau überlege, war sie nie im Leben krank. Sie war immer gut gelaunt. Ich wurde pensioniert und dachte: Du hast eine gute Lebensarbeit geleistet, du kannst stolz sein. Die Kinder sind aus dem Gröbsten heraus, sie haben studiert, sie sind was. Dann kam das Landeskriminalamt und bat mich um eine Studie über Schwerverbrechen in Rheinland-Pfalz. Aha, dachte ich, du bist noch wer, man braucht dich noch! Ich war ... ich war richtig glücklich. Dann liegt sie morgens neben mir und ist tot. Einfach so.«

»Was sagen Ihre Kinder?«

»Der Junge trauerte nur, sagte nichts, war schweigsam. Er war immer schon schweigsam. Meine Tochter machte mir Vorwürfe, ich hätte wie ein Parasit gelebt. Auf Kosten meiner Frau. Ich hätte ihr Leben gestohlen. Es war furchtbar ... Sie ist verheiratet, hat zwei kleine Kinder, einen guten Mann. Ich habe sie angestarrt und nichts sagen können. Was soll man da sagen?« Er begann zu weinen, kramte umständlich ein Taschentuch heraus und preßte es sich ins Gesicht.

Ich fuhr durch Ahütte hindurch die kleinen Serpentinen hinauf auf die Straße zwischen Nohn und Adenau. Zwei Bussarde hingen in der Luft und schwankten leicht im Wind wie betrunkene Wächter.

»Deshalb sind Sie also nach Cochem gezogen?«

»Ja, ich habe Trier plötzlich gehaßt. Es ist eine schöne Stadt, aber ich hatte nichts mehr mit ihr zu tun. Ich pendelte zwischen meiner Wohnung und ihrem Grab. Ich stand da und redete mit ihr und wußte, das ist irgendwie abartig. Aber ich redete trotzdem mit ihr, denn ich hatte ihr so verdammt viel zu sagen und ...«

»Es ist nicht abartig, das ist normal. Sie müssen aufhören, sich zu bestrafen.«

»Ich wollte mich dann wirklich bestrafen, ich ... ich habe es versucht.«

»Wie lange ist das jetzt her?«

»Ein Jahr.«

»Und ... wie wollten Sie sich umbringen?«

»Zuerst wollte ich mich erschießen.«

»Hatten Sie denn Ihre Dienstwaffe noch?«

»Nein. Ich hatte von irgendeinem zwanzig Jahre zurückliegenden Fall eine Waffe im Haus. Ich bin nie ein Waffennarr gewesen, habe in meiner ganzen Dienstzeit meine Waffe nur einmal gebraucht, da habe ich in die Luft geschossen. Ich konnte das nicht.«

»Was geschah dann?« Ich mußte ihn treiben, er mußte es auf sich nehmen zu reden.

»Dann habe ich mich quer durch die Hausapotheke gefressen. Schmerzmittel, Schlafmittel, Herzmittel, Magenmittel. Ich weiß es nicht, hundert bis dreihundert Tabletten. Vor ihrem Grab bin ich umgefallen.«

»Und dann in die psychiatrische Klinik?«

»Nein, sie pumpten mich leer und überwiesen mich in die ambulante Behandlung. Der Psychiater war ein Arschloch, er redete ununterbrochen über sich selbst und merkte es nicht. Auf diese Weise hat er mich gründlich geheilt.«

»Dann nach Cochem. Warum Cochem?«

»Cochem ist eine sehr schöne Stadt. Ich habe da einen Winzer, bei dem ich mein Leben lang Wein kaufte.«

»Sonst niemanden?«

»Nur noch einen alten Pfarrer, einen witzigen Mann. Sonst niemanden.«

»Denken Sie noch an Selbstmord?«

»Manchmal, aber nicht allzu intensiv.«

»Und der Geldraub? Dieser Fall hier?«

»Interessiert mich eigentlich nicht. Ich wollte wohl reden, sonst nichts. Wahrscheinlich steckt gar kein Genie dahinter, wahrscheinlich ist es irgendeine dubiose Geschichte zwischen den Wachleuten und irgendwelchen geldgeilen Leuten ...«

»... aber mehr als achtzehn Millionen?«

»Was ist, wenn die Täter keinen Schimmer hatten, wieviel da in dem Wagen war?«

»Das ist gut«, sagte ich, »das ist sehr gut.«

In Adenau bog ich nach links in die Talstraße ein. Es waren viele Leute unterwegs, wir schlichen dahin.

»Wie würde ich das Ding schaukeln?« überlegte Rodenstock laut.

»Ja, wie denn?«

»An welche Informationen kann ich kommen? Ich meine in Kneipen, bei Handwerkern und bei Bauern?«

»An alle, die Sie brauchen. Das ist so gottverdammt verlogen in diesen konservativen Regionen. Eigentlich weiß man offiziell nichts, aber trotzdem weiß jeder alles. Dafür gibt es ein witziges Beispiel: Hier in den kleinen Dörfern gibt es die sogenannten Junggesellenvereine. In einem dieser Dörfer beschloß der Verein, einen Puff zu besuchen. Machten sie auch und zahlten mit Schecks. Natürlich ausgestellt auf den Namen der Puffmutter. Diese Schecks wurden ordnungsgemäß eingelöst, und plötzlich wußte die ganze Vulkaneifel, wer wieviel im Puff gelassen hatte.

Also kennen Sie zuerst einmal die genauen Zeiten, in denen der Geldtransporter irgendwo durchkommt. Ferner kennen Sie die Strecke genau, weil die sich nie verändert. Sie wissen wahrscheinlich, wer die Fahrer sind, wie sie reagieren werden, denn es ist überhaupt kein Kunststück, die Wohnungen der Fahrer ausfindig zu machen. Man muß ihnen nur vorsichtig genug folgen. Sie können leicht erfahren, daß das Fahrzeug ein Zeitschloß hat, das jeweils samstags um 18 Uhr freigegeben wird.«

»Warum sind die Täter das Risiko eingegangen, den Wagen mitten auf der Straße abzufangen?« fragte Rodenstock weiter. »Sie müssen zugeben, das ist wirklich ein Risiko.«

»Ist es. Habe ich auch schon drüber nachgedacht. Es wäre einfacher gewesen, zur Bank zu fahren, dann abzuwarten, bis die beiden Transportbegleiter in dem Hintereingang der Bank verschwunden sind, ihnen nachzugehen, sie und diese junge Bankangestellte lahmzulegen, einzuschließen und mit dem Geldtransporter zu verschwinden. Die Frage ist also: Warum haben die Täter das nicht so durchgezogen?«

»Vielleicht haben sie gedacht, daß sie dabei nicht ohne Gewalt auskommen werden.«

»Wenn sie auf der Straße gewaltlos vorgehen konnten, warum nicht in der Bank?« entgegnete ich.

»Das stimmt, und ich weiß keine Antwort.« Er schwieg eine Weile. »Vielleicht sagt das etwas über die Psychologie der Sache, der Täter, des Umfeldes.«

»Verstehe ich nicht.«

»Nun ja, die Täter haben die für die Tat wesentlich sicherere Bank nicht benutzt, wohl aber die Straße durch den höchst unsicheren Wald. Das heißt: Aus irgendeinem Grund erschien ihnen dieser Tatort sicherer.«

»Das deutet auf Typen wie Wassi.«

»Richtig«, bestätigte er. »Haben Sie schon gefragt, ob dort irgendwelche Campingwagen gesehen worden sind?«

»Nein, habe ich nicht. Aber das ist aussichtslos. Ganze Heerscharen von deutschen, belgischen, niederländischen, französischen Campingbussen ziehen 24 Stunden lang bei diesem strahlenden Wetter durch die Eifel. Es ist zwar völlig sinnlos, aber wir können uns ja mal erkundigen.«

Ich hielt in Niederadenau an einer Telefonzelle und rief mich selbst an. Bettina meldete sich.

»Gib mir mal den Unger«, bat ich.

»Wann kommst du wieder? Ich will nämlich weg.«

»Nutz die Chance, bleib bei mir.«

»Aber ich gehe jedem auf den Wecker«, schluchzte sie.

»Dir geht es beschissen. Ich kenne keine Landschaft, die bei beschissenen Gefühlen so gründlich heilt wie die Vulkaneifel. Gib mir den Unger.«

Er meldete sich: »Sie waren sauer, nicht wahr? Ich entschuldige mich.«

»Schon gut. Die Straße, auf der der Geldraub passiert ist, die zwischen Wiesbaum und Flesten, konnte im Zweifelsfall nicht nur von einem Laster abgesperrt werden, sondern auch von Campingbussen oder Gespannen. Fragen Sie die Leute tot. Und noch etwas: Fragen Sie bitte alle Leute, die Ihnen über den Weg laufen, wieviel Geld ihrer Schätzung nach jeweils am Samstagmorgen transportiert wurde.«

»Aber das ist doch eine idiotische Frage, das weiß doch ohnehin keiner ganz genau.«

»Fragen Sie, das ist ein Befehl. Und noch etwas: Lassen Sie nicht zu, daß Bettina verschwindet. Die braucht Hilfe, keine Vereinsamung.«

Es war eine Weile still. »Sie sind schon ein Typ«, meinte Unger dann, »danke.«

Wir fuhren weiter auf der B 257. In Ahrbrück tankte ich, am Restaurant »Zum Ahrbogen« fragte Rodenstock gepreßt: »Können Sie mal rechts ranfahren?«

Ich tat das, polterte auf den großen Parkplatz, und er machte die Tür auf und übergab sich. »Ich bin einfach im Eimer«, keuchte er.

»Die achtzehneinhalb Millionen werden Sie wieder aufrichten«, versuchte ich lahm, ihn zu trösten.

Es ging weiter. Altenahr, dann abbiegen auf die Talstraße. Aufgereiht wie auf einer Perlenschnur: Reimerzhoven, Laach, Mayschoß. Dann Rech, die Einfahrt nach Dernau, links die Weinberge hinauf nach Grafschaft und Esch.

»Was wollen wir hier eigentlich?« erkundigte sich Rodenstock.

»Nachdenken«, erklärte ich. »Wir besuchen Moses Bär.«

Ich hielt auf der linken Straßenseite vor dem alten Holztor vom Judenfriedhof und stieg aus. Eine Gruppe Wanderer kam die Straße hinabgetrottet und starrte uns neugierig an.

»Auf einem Friedhof?« fragte er. »Ausgerechnet auf einem Friedhof?«

»Es ist ein ganz besonderer Friedhof«, belehrte ich ihn.

»Friedhöfe sind alle gleich.«

»Dieser ist etwas gleicher«, sagte ich und drückte das Holztor auf. »Sie haben dieses winzige Fleckchen seit Jahrhunderten benutzt, alle Juden des Ahrtals. Moses und die Seinen sind die letzten gewesen. Moses kennt mich nicht, aber ich kenne ihn. Sehen Sie mal, zwanzig Grabsteine, meist hebräische Inschriften, nicht mehr leserlich, von Moos überwachsen, halb versunken.«

»Aber irgendeiner pflegt das doch?«

»Ja, ja, die Gemeinde Dernau hält das in Ordnung. Schlechtes Gewissen, würde ich mal sagen.«

Er holte das Taschentuch aus der Jacke und wischte sich den Schweiß vom Gesicht. Er starrte auf den dunklen Marmorstein. »Du lieber Himmel, was ist da passiert?«

»Ein Drama«, erzählte ich. »Kein Mensch wird jemals herausfinden, was im einzelnen passierte. Aber es war ein Drama. Immer, wenn ich ein wirkliches Problem habe, komme ich hierher und rede mit Moses. Vielleicht hört er zu.«

»Was ist passiert?« fragte er tonlos. »Fünf Namen auf einem Grabstein? Und alle 1942 gestorben.«

»Nicht gestorben. Krepiert, verhungert, erschossen. Die Geschichte ist dramatisch und unglaublich. Moses Bär war ein Metzger, ein koscherer. Minna war seine Frau, Emma seine Schwester. Sie wohnten mitten in Dernau und waren sehr beliebt. Die Geschichte fing mit den beiden unten eingemeißelten Söhnen Arthur und Siegfried an. Der Sohn Siegfried Israel Bär wurde 1941 von einem Dernauer angefallen und belästigt. Er schrieb daraufhin dem Landrat. Der Landrat schrieb wütend zurück, der Vorfall sei erstunken und erlogen, und Siegfried Bär solle ihn gefälligst in Ruhe lassen. Weil genau das der Siegfried Bär nicht tun wollte, ließ der Landrat das Problem auf die damalige, typische Art bereinigen: Beide Söhne wurden behördlich aufgefordert, Dernau zu verlassen und sich in ein Konzentrationslager zu begeben. Später bekam die Gemeinde die Nachricht, Arthur Bär sei auf dem Transport in das Lager verstorben, was schlicht heißt, er ist vergast oder erschossen worden, während sein Bruder Siegfried als >im Osten verschollen< gemeldet wurde. Zurück blieben Moses, seine Frau Minna und seine Schwester Emma. Im Februar 1942 starben sie alle drei innerhalb einer Woche in ihrem Haus. Auf allen drei Totenscheinen steht >Grippe<. Aber wahrscheinlich sind sie verhungert, denn dem ganzen Dorf war es verboten, sie zu besuchen, ihnen etwas zu bringen, mit ihnen zu sprechen.«

»Großer Gott«, murmelte Rodenstock betroffen.

»Ich habe die Totenscheine«, fuhr ich fort. »Seit fast zehn Jahren gehe ich hierhin, wenn ich glaube, einen Kummer oder ein Problem zu haben. Wenn ich diesen Friedhof verlasse, habe ich keinen Kummer mehr.«

Er blieb sehr ruhig vor dem Grab stehen, bückte sich dann und suchte im Gras und im alten Laub herum. Als er einen Stein gefunden hatte, trat er vor und legte ihn auf den Grabstein.

»Lassen Sie uns zurückfahren, und versohlen Sie Ihrer Tochter den nackten Arsch. Sie hat es verdient«, schloß ich.

Wir fuhren wieder, wir sprachen nicht miteinander, nur einmal sagte Rodenstock: »Im Sommer soll ich meine Enkel hüten. Ich denke, ich werde mit ihrer Mutter sprechen, ganz ernsthaft sprechen.«

Gegen vierzehn Uhr waren wir zu Hause, der Hof lag verlassen in der Hitze. Unger und Bettina hockten im letzten Winkel des Gartens an der Natursteinmauer. Er saß auf einem Stuhl, vor ihm kauerte Bettina, hatte den Kopf auf seinen Schoß gelegt.

»Du lieber Himmel«, seufzte Rodenstock. »So viel Glück!«

Ich gebe zu, ich wollte Unger anmachen. Ich wollte bissig sagen, er solle gefälligst davon ablassen, Turteltäubchen zu spielen. Aber dann dachte ich, das sei unfair. Also fragte ich nur danach, was er herausgefunden hatte.

Er hob den Kopf. »Zwei Dinge haben wir rausgefunden.« Er konzentrierte sich, und Bettina rührte sich nicht um einen Zentimeter. »Zum ersten: Ich habe rund dreißig Menschen in Wiesbaum, in Hillesheim, in Daun und Gerolstein auf der Straße befragt, ob sie von dem samstäglichen Geldtransport wußten. Sie hatten fast alle davon gehört. Und es war auch ziemlich genau bekannt, wieviel da transportiert wurde: etwa eine bis höchstens zwei Millionen.«

»Also wußte niemand, wieviel es wirklich war«, sagte Rodenstock zufrieden.

»Der zweite Punkt«, forderte ich.

»Der Wassi, den Sie als eine angenehme, listige Mannsfigur eingestuft haben, ist in Rußland vorbestraft. Er hat drei Jahre in einem russischen Lager gesessen und wurde nur freigelassen, weil er versicherte, er würde Rußland sofort verlassen. Er wurde bestraft wegen gemeinschaftlichen Raubes, wegen Widerstand gegen die Staatsgewalt und wegen räuberischer Erpressung. Im Übergangswohnheim in Kerpen ist er der einzige dieser Art. Aber in den Heimen in Siegburg und Bad Neuenahr gibt es fünf Kumpane von ihm. Sie hocken dauernd zusammen, treffen sich. Es paßt, es paßt so gut, daß es mich erschreckt. Wassi und Kumpane können das Ding gedreht haben. Denn Wassi hat zugegeben, daß er von den Transporten wußte. Und er war zum Zeitpunkt der Tat nicht im Heim. Alle seine Kollegen in Siegburg und Bad Neuenahr waren auch nicht zu Hause. Und keiner von ihnen hat bis jetzt den Hauch eines guten Alibis.«