ZWÖLFTES KAPITEL
Das ganze Dorf pilgerte mit uns, die Kinder machten den Eindruck, als ginge es zu einer Kirmes mit Feuerwerk. Ein leichter Wind stand aus Südwest und wisperte in den Büschen und Bäumen. Als wir die letzten Häuser erreicht hatten und einen freien Blick auf Christian Dauns Anwesen bekamen, wirkte seine Scheune wie ein riesiges rotgeflecktes Tier, das sich zum Sterben niedergelegt hat und gegen den Tod kämpft.
Das Geräusch war sehr laut, und es war jetzt deutlich auszumachen, daß es zwei Geräusche waren. Männer schrien, die Motoren schwerer Maschinen mahlten, die Klingeln der Feuerwehren waren schrill und aufdringlich. Darüber lag wie ein Stöhnen der Laut, den die brennende Scheune von sich gab. Es war, als atmete sie krampfhaft und kämpfte um Luft.
»Das Feuer ist da, wo Witwe Bolte den Altar hatte«, sagte Elsa.
Christian Dauns Scheune lag ziemlich genau in Nord-Süd-Richtung. Am südlichen Ende, dort wo die Witwe Bolte die Jungfrau Maria und den Erzengel Michael getroffen hatte, war das Gebäude vom Erdboden bis hin zu dem flachen Dach grellrot. Dunkelrot nach Norden hin, wo in einer Entfernung von zwanzig Metern das alte Wohnhaus der Dauns stand. Wenn man genau hinschaute, schienen die Konturen der Gebäude zu verschwimmen. Die Hitze flimmerte.
Ein Mann schrie im höchsten Diskant: »Zwei C-Rohre auf das Wohnhaus. Sonst geht dort alles hoch.«
»Wieso hochgehen?« fragte Unger.
»Er meint die Hitze. Es ist alles pulvertrocken«, erklärte Rodenstock.
Sie hatten eine Batterie greller Scheinwerfer südlich des brennenden Kolosses in ungefähr dreißig Metern Entfernung aufgestellt, und je näher wir an die reichlich dürftige Absperrung aus Autos und dazwischen gespannten Plastikstreifen kamen, umso klarer war zu erkennen, daß die Scheune im Innern längst eine Feuerhölle war.
»Das ist aussichtslos«, rief Unger und hielt Bettina um die Schultern fest.
Elsa lehnte sich gegen mich. »Wie viele Feuerwehren sind das denn?«
»Sicherlich alle, die nahe genug stationiert sind. Mindestens sechs. Berufsfeuerwehr und Freiwillige Feuerwehren. Die Jungens sind gut und schnell. Aber sie haben bei dieser Hitze keine Chance. Sie haben großes Glück, wenn sie das Wohnhaus retten können.«
»Woher kriegen sie denn das Wasser?«
»Sie haben eine schwere Leitung westlich liegen. Und sie pumpen aus dem Greisenbach ab. Ich mache einen Vorschlag: Wir trennen uns und passen auf.«
»So soll es sein«, stimmte Rodenstock zu. Er wirkte vollkommen entspannt. »Ich gehe zu der Gruppe Männer, die rechts vorne steht. Einsatzleitung«, sagte er.
»Unger, geh mit Bettina bitte dorthin, wo es am hellsten brennt. Da hatte die Witwe Bolte ihren Hausaltar. Wir gehen rüber zum Wohnhaus.«
Dann dachte ich an die viele Arbeit des Christian Daun und daran, daß hier mit seiner Heuernte auch sämtliche großen und kleinen Maschinen verbrannten. »So eine Scheiße«, fluchte ich.
Es wirkte sehr chaotisch, aber wenn man eine Weile hinschaute, so erkannte man Strukturen. Alles, was die sicherlich mehr als hundert Feuerwehrleute taten, machte Sinn. Die Gruppen arbeiteten schnell und präzise, und als wir das Wohnhaus erreichten, verschwand es unter einem Wasservorhang.
Der immer fröhliche Franz von der Truppe, die den Golfplatz in Schuß hielt, kam in voller Montur und einem lederbewehrten Helm vorbeigerannt und keuchte: »Wo ist denn Christian?«
»Könnt ihr das Wohnhaus retten?« fragte ich.
»Ach, Siggi, ich weiß nicht«, japste er. »Die Temperatur am Dachstuhl fühlt sich an wie meine Heizung bei dreißig Grad Kälte. Ich glaube, wir müssen räumen.«
Im gleichen Augenblick schrie eine dumpfe Männerstimme: »Wir räumen das Wohnhaus. Der Trupp Walter zwo zu mir. Der Trupp Walter zwo.« Ein anderer Mann rief: »Wir brauchen Leute zum Tragen.«
»Komm«, sagte Elsa, »wir können helfen.«
Explosionsartig sprang in Christian Dauns Wohnzimmer eine große Fensterscheibe. Jemand fluchte laut und ausgiebig.
Gesprochen wurde jetzt wenig bis auf die schrillen Schreie der Männer, die eine Leitungsfunktion hatten. Wir bildeten mit ungefähr dreißig Frauen und Männern eine weitgezogene Kette, und sehr bald reichten wir wortlos und schwitzend alles Mögliche, was ein Haus enthalten kann, weiter. Erst den Inhalt von Schränken und Schubladen, dann die Schränke und Schubladen selbst. Ganz vorne in dieser Kette, zwei Männer von mir entfernt, arbeitete Christian Daun und wollte immerzu in sein Haus rennen.
»Laß das, da drin stirbst du!« schnauzte Franz.
»Aber die Papiere!«
»Wo sind die?«
»Im Schlafzimmer in der Anrichte, oben rechts.«
»Ich hole sie«, sagte Franz mit rotem, schwitzendem Gesicht und verschwand.
»C-Rohr eins, mehr rechts halten. Oh Scheiße, der Dachstuhl. In die Mitte, ihr Knallköppe, in die Mitte!«
»Sind da noch Tiere?« fragte jemand.
»Keine Tiere«, keuchte Christian Daun. Dann ließ er mit einer endgültigen Bewegung beide Arme sinken und scherte aus der Reihe derer, die seine Habseligkeiten in Sicherheit trugen. Er weinte auf eine lautlose, wütende Art.
»Kommen Sie«, sagte Elsa, nahm ihn in den Arm und führte ihn ein paar Schritte abseits in das Dunkel neben dem seitlichen Hauseingang.
»Alles im Arsch«, klagte er, »alles kaputt.«
»Das baust du wieder auf«, versuchte ich ihn zu trösten.
»He, Chris«, sagte eine vorsichtige Stimme. Eine Frau schob sich an mir vorbei. Sie war unglaublich verdreckt, trug einen dünnen Anorak und hohe gelbe Gummistiefel. Es war Gitta.
»Du hättest eher kommen können«, flüsterte er und hörte augenblicklich auf zu weinen.
»Ich hab deine Scheißmöbel gestapelt«, sagte sie wütend. »Du hattest außerdem keinen Blick für mich. Wie immer.«
»Ja, ja«, murmelte er. »Ist ja schon gut.«
»Weg hier!« schrie Franz. »Es geht los.«
»Aber wieso?« stammelte Elsa mit aufgerissenen Augen. »Da ist doch Wasser, das ganze Wasser.«
Franz stockte im Schritt, erstarrte, wandte sich zu ihr und sagte so ruhig wie beim Frühschoppen: »Also wir spritzen das Wasser auf Dach und Wände. Wenn es runterkommt, kocht es. So ist das, Madame.«
»Aha, so ist das«, erwiderte Elsa hilflos.
Das Dach färbte sich an einer Stelle blutrot. Die Dachziegel blieben liegen, trotzdem waren da Flammen.
»Das schöne Haus«, rief Elsa.
»Das schaffen wir noch«, sagte Franz.
Gitta nahm Christian fest am Arm und schob ihn hinter das Haus. »Du kommst erst einmal zu Atem!«
»Schleppen wir weiter«, meinte Elsa.
Aus dem Schleppen wurde nichts, die Feuerwehrleute stürmten gleich zu einem halben Dutzend ins Haus. Sie schrien wild durcheinander, und ich begriff nicht, was sie vorhatten. Wenig später krachten Äxte. Da verstand ich: Sie legten den Brandherd auf dem Dachboden frei, um Wasser hinaufpumpen zu können.
»Das schaffen wir«, wiederholte Franz. Es klang wie ein Gebet.
Rodenstock kam heran. »Ist Christian Daun hier?«
»Zehn Schritte hinter uns im Schatten mit Gitta«, entgegnete Elsa.
»Vater Daun ist bei der Einsatzleitung. Blankenheim auch. Sie haben entschieden, mit Bulldozern zu arbeiten. Wenn sie die Scheune nicht plattkriegen, brennt nicht nur das Wohnhaus. Wir kriegen mehr Wind. Oben die Häuser um die alte Schule sind gefährdet.«
»Eine gute Entscheidung«, fand ich.
»Eine sehr gute.« Wort für Wort tropfte aus seinem Mund, und er wirkte arrogant.
»Was soll das?« fragte Elsa irritiert.
»Sie müssen ins Feuer sehen«, meinte Rodenstock väterlich.
»Wie? Ach? Ach du lieber Gott!«
»Ob der dabei ist, weiß ich nicht so genau«, sagte ich.
Die Feuerwehrleute verscheuchten uns und wiesen uns einen anderen Platz zu. Aber da konnten wir nichts sehen. Also marschierten wir an der Absperrung entlang auf die Seite der tosend brennenden Scheune, an der die Witwe Bolte gebetet hatte.
Da war sie, klein und unbezwingbar wie ein granitener Berg. Neben ihr stand Kättchen und sagte dauernd: »Nun reg dich nicht auf, Klärchen. Das wird alles wieder aufgebaut.«
»Das ist ein Zeichen der Jungfrau«, weinte Klärchen.
Am Wegrand standen Peter Blankenheim und Nikolaus Daun und rauchten schweigend.
»Was ist mit all den Maschinen?« fragte ich.
»Schrott«, antwortete Blankenheim. »Wir haben versucht, sie wegzuziehen, aber sie waren glühendheiß, und der Lack warf Blasen.« Er hatte die rechte Hand dick verbunden.
»War es nun Klärchen?« erkundigte sich Elsa.
»Na sicher war es das Klärchen.« Blankenheim lächelte matt.
»Warten wir den Sachverständigen ab«, murmelte der alte Daun. Seine Frau kam heran und rief ganz weiß im Gesicht: »Wo ist der Junge, wo ist der Junge?«
»Hinterm Wohnhaus«, sagte ich.
»Brennt das auch ab?« fragte sie.
»Wahrscheinlich können sie es retten«, meinte ich. »Wie alt ist es?«
»Von meinem Ururgroßvater«, sagte Daun. »Das muß so um 1850 gebaut worden sein.«
Hinter uns begannen Wagen in die Wiesen zu fahren, die Rammen kamen, zwei Maschinen auf Ketten mit je sechshundert PS.
»Endlich«, sagte Blankenheim. »Haben die sichere Kabinen?«
»Mit Gitternetz«, nickte Daun. »Absolut sicher. Sie müssen Vollgas geben, wenn das Dach runterkommt. Dann gibt's einen Funkenflug wie bei einem Tornado.«
Die beiden Fahrer auf den Rammen trugen eine silber glänzende Kleidung, hatten schwere Helme auf dem Kopf und ein gläsern wirkendes Visier vor dem Gesicht. Sie schwenkten gleichzeitig von Süden her nach Norden ein, bremsten dann ab. Der rechte Fahrer hob die Hand, und als er sie senkte, fuhren sie an. Es machte einen Höllenlärm, und eine Weile war sogar das Feuer nicht zu hören.
Zwei Feuerwehrleute folgten mit kleinen einachsigen Wagen den Ungetümen und berieselten sie mit einem mächtigen Schwall Wasser.
»Hoffentlich geht das gut«, murmelte Elsa und steckte wie ein kleines Mädchen den rechten Zeigefinger in den Mund.
Die beiden Rammen erreichten die Scheune und drückten die lodernde Wand ein. Das Dach schwenkte widersinnig erst nach oben, als hebe jemand den Hut, dann kam die Hälfte der Fläche mit einem wüsten Krachen herunter. Das Wasser schuf einen perfekten Vorhang aus Schwaden und Dampf, wir konnten eine Weile nichts mehr sehen.
Wir erkannten nur, wie ein Teil der Längswand nach innen fiel, und die Umrisse der schweren Maschinen verschwanden vollkommen. Aber ihre Motoren brüllten.
»Wie lange können die das?«
»Bis zu fünf Minuten, wenn sie genug Wasser kriegen«, erklärte einer der Männer hinter uns.
»Wie viele Tonnen Heu waren das eigentlich?« fragte ich.
»Mehr als dreihundert«, sagte Vater Daun. »Ein Haufen Arbeit. Aber der Junge braucht sich nicht zu sorgen. Wir haben Platz genug und auch alles andere genug.«
Hinter uns schob sich ein Caravan heran. Dorita, Petra, Martina und Beate riefen einigermaßen fröhlich: »Genug Wasser habt ihr ja, wir bringen was zu trinken!«
Sie luden Kisten mit allen möglichen Getränken ab. Dorita sah mich an und meinte: »Kaffee haben wir auch!«
Die Feuerwehrleute kamen vollkommen verdreckt und verschwitzt heran und ließen sich etwas eingießen. Sie tranken keuchend und wortlos, während die Rammen die nördliche Querwand der Scheune von außen faßten und nach innen umbogen. Sämtliche Rohre waren jetzt auf das Inferno im Innern gerichtet, die Rammen blieben mit laufenden Motoren stehen. Es war ein unbeschreiblicher Lärm.
Dann war Tilman Peuster bei uns, der Arzt aus Jünkerath. Er fragte sachlich und kühl: »Hier soll einer sein mit Brandwunden im Gesicht.«
»Schorsch dahinten«, antwortete ein Feuerwehrmann. »Der hat irre Schmerzen.«
»Leute, trinkt noch kein Bier«, warnte jemand. »Wir haben noch Arbeit.«
Peuster verschwand, um seine Kunst zu üben. Blankenheim betrachtete den Feuerherd mit schmalen Augen, und Daun sagte erregt: »Sie haben nur eine Chance. Sie müssen die Querwände fassen und in die Wiese ziehen. Dann unter Wasser durchfahren, immer durchfahren.«
»So könnte es gehen.« Franz neben mir atmete pustend aus: »Und Schaum, was ist mit Schaum?«
»Noch nicht«, schrie jemand. »Noch keinen Schaum. Erst die Querwände weg und die Teile der Längswände. Nicht zu weit weg, nicht den Herd vergrößern. Dann Wasser, dann die Rammen, dann mit Schaum ersticken. Also, ihr faulen Säcke!«
Ein paar Leute lachten.
Die Rammen glitten rückwärts gegen das Wohnhaus aus dem Brandherd, die beiden Fahrer stiegen ab und bewegten sich schwerfällig nach vorn. Sie schleppten jeder eine Kette, bückten sich irgendwo, klinkten die Ketten ein, bewegten sich zurück auf ihre Fahrzeuge und zogen nach Handzeichen vorsichtig an. Die Querwand wurde weggezogen, und das Feuer kam grell und gewaltig wie eine Explosion hoch.
Es war eine geisterhafte Szene, weil niemand etwas sagte, niemand mehr schrie und alles davon abhing, wie gut die Fahrer der Rammen waren. Das Wohnhaus, das wurde deutlich, stand jetzt abseits wie ein dunkel drohender Klotz und schien nicht mehr zu brennen. Die Rammen bewegten sich gleichmäßig nebeneinander, die Fahrer wiederholten das gefährliche Spiel mit den Ketten und zogen die Längswand vom Feuer. Das Heu loderte, so daß wir die Hitze brennend auf der Haut spürten. Die Rammen arbeiteten unermüdlich weiter.
Teil zwei der Operation bestand darin, das große Viereck des Feuers aus stark streuenden Düsen unter Wasser zu setzen. Dann Teil drei: Die Rammen mahlten unermüdlich hin- und herfahrend alles zu Schlamm und funkenstiebenden Resten. Das dauerte mehr als eine Stunde. Erst danach belegten die Wehren die Fläche mit Schaum.
Rodenstock stand plötzlich hinter mir. »Kommen Sie einmal mit.« Er wartete nicht, sondern ging langsam auf das Wohnhaus zu.
»Wo geht der denn hin?« fragte Elsa ungeduldig hinter mir.
»Nur die Ruhe«, sagte ich.
Der Haupteingang des alten Wohnhauses lag auf der vom Feuer abgewandten Seite. An einem Beet mit zwei Rosensträuchern hockten Gitta und Christian auf einer Bank und schwiegen vor sich hin.
»Es ist gutgegangen mit Ihrem Haus«, erklärte Rodenstock freundlich. Dann ging er langsam weiter in den Vorgarten hinein. Da befand sich ein eiserner Doppelbogen, etwa zwei Meter hoch, an den Christian Daun Pflanzen in Töpfen gehängt hatte.
Rodenstock drehte sich zu uns herum und bat leise: »Elsa, Sie stehen neben einem großen Topf mit Geranien. Nehmen Sie bitte den Topf ab und marschieren Sie um den alten Stall herum, dann die Wiese hinauf, dann nach Hause. Und nicht fragen, einfach los.«
Sie nahm den Topf in die Hand, er hängte ihn aus, und sie ging los und atmete augenblicklich schneller. Der Topf war schwer.
»Es ist ein besonderer Topf«, erklärte Rodenstock. »Es ist der aufgeschnittene Tank eines Motorrades.«
»Sieh an, sieh an«, sagte ich heiter. »Noch irgend etwas?«
Er schüttelte den Kopf. »Aber wir hätten eine Chance, wenn wir die Gelegenheit benutzen würden – alle Häuser im Dorf stehen leer.«
»Ich verstehe«, meinte ich. »Gehen Sie oder gehe ich?«
»Ich gehe«, sagte er. »Wenn ich fehle, fällt das nicht so auf.«
Ich ließ ihn verschwinden und setzte mich dann zu Gitta und Christian.
»Hast du die Witwe Bolte gesehen? Ich meine, bevor es zu brennen begann?«
»Ja, ja, sie war da. Aber das war um Mitternacht. Sie hatte die Kerzen brennen lassen. Ich blies sie aus. Sie muß wiedergekommen sein, das ist schon öfter passiert.«
»Ich weiß«, sagte ich. »Das ist ein Riesenverlust.«
»Das Wohnhaus steht noch.« Er war verwirrt und fuhr sich mit der Hand über die Augen. »Ich wollte nie auf dem Hof meiner Eltern leben. Das alte Haus ... es riecht anders, verstehst du? Es riecht ... ich weiß nicht, ich bin hier zu Hause.«
»Kann ich gut kapieren. Wo wirst du schlafen, du mußt dich irgendwie ausruhen.«
»Er kann mit zu mir nach Hause«, sagte Gitta sanft und sah ihn dabei an.
»Das ist gut. Aber achte darauf, daß er wirklich ein paar Stunden pennt. Hier kann er im Moment sowieso nichts machen.«
Um auszuschließen, daß irgendwo im Geviert der niedergebrannten Scheune noch Brandherde verborgen waren, fuhren die Kettenfahrzeuge weiter hin und her und machten den Schlamm zu Brei. Niemand löschte mehr, niemand schrie Befehle, niemand rannte. Alle hockten total erschöpft in der Wiese und ließen sich bedienen. Sie hatten es sich verdient. Ein paar waren so geschafft, daß sie sich einfach auf die Seite gelegt hatten und schliefen.
»Gehen wir heim«, sagte ich laut, obwohl es garantiert keinen Menschen interessierte.
Da stand auf einmal Marker vor mir und fragte erregt: »Was ist passiert?«
»Es gibt zwei Möglichkeiten. Entweder hat sich das Heu selbst entzündet, was unwahrscheinlich ist, weil Daun eine Temperatursonde und Ventilatoren eingebaut hatte, oder die Witwe Bolte hat Kerzen brennen lassen. Das Ding ist jedenfalls futsch.«
Marker schwieg und ging an mir vorbei, blieb stehen, starrte auf das Chaos aus weißgrauem Schaum und schwarz verkohlten Balken. »Wie lang hat das gebrannt?«
»Ich weiß es nicht. Stundenlang. Und es war bei dieser Affenhitze verdammt gefährlich für das ganze Dorf. Als es begann, war es dunkel, jetzt ist es Tag.«
»Was machen diese Kettenfahrzeuge da?«
»Mit denen haben sie das Ding plattgewalzt, damit es nicht noch schlimmer wird. Funkenfluggefahr.«
»War irgend etwas Besonderes? Den Fall betreffend?«
»Kann man sagen. Jemand hat einen Motorradtank aufgeschnitten und als Blumenkübel für Geranien verwendet. Sah eigentlich ganz hübsch aus.«
»Wahrscheinlich auch verbrannt«, sagte er ohne Hoffnung.
»Nicht die Spur. Von Elsa sichergestellt und nach Hause geschafft.«
»Das ist gut. Also Christian Daun.«
»Vorsicht, Vorsicht«, warnte ich. »Rodenstock ist unterwegs und sucht weiter.«
»Ach, was soll's!« fluchte er. »Mir hört ja doch keiner zu.«
»Im Augenblick vielleicht nicht. Später schon. Oder?«
»Vielleicht«, nickte er. »Werden Sie eigentlich darüber schreiben?«
»Und wie! Kommen Sie, gehen wir heim.«
»Was sucht denn Rodenstock?«
»Ach eigentlich etwas, was man dauernd sucht. Eine Vorderachse, eine Hinterachse, einen Motor, Panzerglas aus dem Fahrerhaus und derartige Kleinigkeiten.«
Er schwieg wieder eine Weile. Dann sagte er: »Nicht schlecht, Herr Specht.«
»Ich bin überhaupt gut«, erwiderte ich artig.
Wir schlenderten heim, es wurde schon wieder warm, irgendein neckischer Junge im Radio hatte gesagt: »Das Ozonloch komme über euch!«
»Machen wir uns einen Kaffee?« fragte er.
»Na sicher«, sagte ich.
Aber Elsa hatte schon Kaffee gekocht. Sie stand mit dem Motorradtank, der einstmals Geranien enthalten hatte, am Spülbecken und kratzte ganz vorsichtig an dem roten Überlack herum. »Das ist schwierig«, meinte sie. »Aber es steht fest, daß es eine Suzuki war, den Schriftzug habe ich schon.«
»Was mache ich jetzt?« fragte Marker mehr sich selbst als einen von uns. »Kriege ich ein Geständnis?«
»Niemals«, sagte Elsa sanft, ohne sich umzudrehen.
»Mein Oberstaatsanwalt hat mir durch einen Kurier eine Vorausgabe der Frankfurter Allgemeinen von heute geschickt. Sie haben die Sache festgeklopft, sie machen eine ganze Seite über Kurden, die in der Eifel Bares klauen, um in Frankfurt Waffen zu kaufen. Sie nennen sogar Namen.« Marker schüttelte den Kopf. »Die Gruppe hat sich abgesetzt, heißt es. Es wird ein wüster Vorwurf an die strafverfolgenden Behörden formuliert. Die Zeitung sagt, wir hätten noch immer nicht gelernt, schnell und energisch die zu verfolgen, die wirklich erkennbar den Staat unterhöhlen.«
Elsa drehte sich herum. »Und? Stimmt das?«
»Es stimmt nicht«, antwortete er einfach. »Man läßt uns doch nicht.« Dann drehte er sich um und hockte sich in der Stube auf das Sofa, um dumpf vor sich hin zu brüten.
Unger und Bettina kamen zurück. Sie hatten jeder ein großes Einmachglas mit einer ekelhaft schwarz-grauen Masse im Arm.
»Ist das unser Frühstück?« fragte ich.
»Das ist Löschschlamm«, erklärte Unger sichtlich erschöpft.
»Hast du irgend etwas gehört?«
Er schüttelte den Kopf. »Nichts Besonderes jedenfalls.«
»Was ist denn das wirklich für ein ekelhaftes Zeug?« zeigte sich nun Marker wieder interessiert und deutete auf die Einmachgläser.
»Für Sie«, gab Unger zurück. Er war ruhig, nichts verriet mehr den Strahlemann. »Es ist der Rest von rund sechzehn Millionen.«
Marker hob eines der Gläser gegen das Fenster und machte mit breitem Mund: »Igittigitt.«
»Es ist aber wichtig«, sagte Unger müde. »Die Chemiker werden mit Sicherheit Notenbankpapier nachweisen können. Ich dachte, wir helfen Ihnen damit.«
»Das ist die Frage«, murmelte Marker dumpf.
»Das ist keine Frage«, widersprach Elsa vom Spülbecken her.
»Ich denke, da ist irgend etwas gelaufen, irgendein Einspruch aus Bonn, irgendein hoher Beamter, der gesagt hat: Hört mit euren Scheißermittlungen auf, da wird die ganze politische Garde blamiert.« Unger war wütend.
»Na und?« fragte Marker.
»Der Oberstaatsanwalt, Ihr Oberstaatsanwalt, hat sich gebeugt. Und eines Tages wird jemand sagen: Der hat damals den Fall versaut. Irgendein anderer wird fragen: Ja und? Wo sind die Beweise?« Er grinste. »Dann können Sie in Ihren Keller gehen und zwischen den selbstgemachten Marmeladen Ihrer Frau die beiden Gläser herauspulen und sagen: Hier ist der Beweis!« Er hatte begriffen, wahrscheinlich war er in schmerzhaften Minuten um ein Jahrzehnt gealtert.
»Ach so«, seufzte Marker. »Danke. Ich verstehe nur nicht, warum meine Leute in dieser Scheune nichts fanden.«
»Wir werden das klären«, sagte ich. »Wahrscheinlich ist die Antwort wie immer sehr einfach. Ich muß etwas essen.«
»Aber das mit dem Tank hier war sagenhaft leichtsinnig«, meinte Elsa.
»Da bin ich mir nicht sicher«, erwiderte ich. »Zum ersten Mal begreife ich wirklich das Wort >cool<.«
»Wahrscheinlich kommen sie nicht vor den Kadi«, überlegte Marker. »Sie würden grinsend Geschichten aus der Vulkaneifel erzählen, und alle Welt würde ihnen zuhören und sich kaputtlachen.«
Bettina stieß aufgeregt zu uns. »Krümel hat für Momo eine Maus gefangen, und Momo kapiert nicht, was eine Maus ist.«
»Auch Pflegemütter bei Katzen halten ihren Nachwuchs für genial«, sagte Marker feinsinnig. »Laßt uns die Realitäten der Welt betrachten.«
Wir marschierten also ins Arbeitszimmer und beobachteten Momo, die etwa zehn Zentimeter vor einer kleinen Spitzmaus hockte, die ihrerseits scheinbar furchtlos auf einem Flickenteppich Platz genommen hatte, um als Unterrichtsmaterial zu dienen. Krümel hockte gut sechs Schritte entfernt auf meinem Schreibtisch und schien zu sagen: Laßt ihr Zeit, sie ist ja noch so klein!
Momo streckte ganz vorsichtig eine Pfote weit heraus. Als sie leicht zuschlagen wollte, um der Maus zu zeigen, was Sache ist, geriet sie ins Straucheln und kippte seitwärts.
»Das ist doch süß«, rief Bettina.
»Nicht sehr«, entgegnete Elsa. »Am Ende wird sie gefressen.«
Momo streckte erneut die Pfote aus, die Maus machte drei schnelle Schritte und kauerte sich zusammen. Momo wußte nicht genau, was das bedeutete. Sicherheitshalber leckte sie sich ausgiebig die Pfote. Dann miaute sie kläglich, weil das Spielzeug gefälligst ruhig zu sein hatte. Die Maus entschloß sich zu einem Ausbruchsversuch. Sie rannte stracks auf einen der Sessel zu und verschwand darunter.
»Das ist unfair«, sagte Unger.
»Nicht die Spur«, widersprach ich. »Momo muß jetzt lernen, darauf zu warten, daß die Maus wieder erscheint.«
»Warum muß die Maus wieder erscheinen? Sie kann doch hockenbleiben«, fragte Marker.
»Das ist die Dämlichkeit der Mäuse, die die Katzen ernähren.« Elsa wirkte sehr weise.
Momo legte sich flach auf die Seite und streckte die Pfote unter den Sessel. Die Maus rannte auf der anderen Seite fort und erreichte sicher die drei alten Buchenkloben, die neben dem Kamin lagen, und verschwand erneut.
Krümel beschloß eine Hilfsaktion, sprang vom Schreibtisch und räumte ganz vorsichtig das äußerste Buchenscheit beiseite. Da hockte die Maus, und Krümel schien zu drohen: Bald biste dran!
Momo kam, offensichtlich nicht sonderlich interessiert, herangeschlendert und betrachtete ihr Geschenk. Dann sprang sie zu und sprang daneben, und es gab ein Scheppern, als ein zweites Scheit herunterfiel und Momo den Schürhaken aus dem Kamingehänge stieß. Sie entschied sich, sehr erschreckt zu sein, und leckte sich die Pfoten. Die Maus war irgendwo, nicht sichtbar, wahrscheinlich entkommen. Dann sahen wir sie über die unterste Buchreihe im Regal laufen und hinter Oswald Spengler verschwinden. Momo war verwirrt, begriff nichts, und Krümel zog sich erneut auf meinen Schreibtisch zurück.
»Wie lange geht das jetzt?« fragte Unger.
»Mit Halbzeitpause ein paar Stunden«, gab ich Auskunft.
Jemand war im Flur und rief: »Ist keiner da?« – Es war Rodenstock.
Wir zogen also zurück in die Stube, und er betrachtete gedankenverloren den Benzintank im Spülstein. Er berichtete: »Ich habe Achsen gefunden. Vorderachse, Hinterachse. Nicht mal sonderlich gut versteckt. Bei Blankenheim über dem Hühnerstall.«
»Und den Motor?« fragte Marker.
»Auch den Motor«, nickte er. »Der steht, komplett und sehr sauber ausgebaut, beim alten Daun über dem Stall hinter einem großen Haufen alter Kornsäcke.«
Das Telefon schrillte, Elsa holte es und gab es mir. Es war die nichtssagende, sonore Stimme des Oberstaatsanwaltes, der sich erkundigte, ob Marker da sei. Ich gab Marker den Hörer, wir gingen raus, um nicht aufdringlich zu erscheinen.
Nach einer Weile kam er zu uns, hängte den Hörer ein und verkündete: »Ich muß zurück in die Filiale nach Meckenheim. Es stehen eine Reihe wichtiger Konferenzen an.« Er wirkte, als lebe er in einem Traum.
Rodenstock sagte leichthin: »Dann fahren Sie konferieren. Wenn Sie zurückkommen, trinken wir ein Bier zusammen und feiern ein bißchen die Bauernschläue.«
»Eine gute Idee«, nickte Marker. Aber er meinte es nicht so, er war ganz weit weg, hob nur die Hand, ging auf den Hof, setzte sich in den Wagen und fuhr ab.
Nach einer Weile fing Rodenstock merkwürdig an zu kichern, schlug sich auf die Knie vor Vergnügen und lachte sehr schnell laut und hemmungslos, was uns alle ansteckte.
»Du lieber Himmel, ist das ein schönes Verbrechen!« keuchte Unger ganz begeistert.