NEUNTES KAPITEL
Wassi trudelte ein, kam verlegen aus der Nacht, stand vor der Haustür, wußte nicht, wohin mit den Händen und atmete tief durch, als ich hinter Elsa auftauchte. Er sagte: »Da bin ich!«
»Gut«, sagte ich und leitete ihn in die Stube. Dort saßen Marker und Rodenstock. Zum Ärger Ungers hatten wir beschlossen, daß nur die beiden mit ihm sprechen durften. »Zu viele werden ihn unsicher machen, sie werden ihn schweigen lassen. Nur Marker und Rodenstock. Bitte langsam und wie Kumpel. Niemals von oben herab. Er haßt die, die von Geburt an nach was Besserem stinken!«
»Ich rieche nach nichts«, sagte Rodenstock obenhin.
»Ihr fangt an, mich dauernd auszuschließen«, moserte Unger.
Beim Hinausgehen riet ich dem Rußlanddeutschen: »Wassi, sag ihnen, was du gesehen hast, erzähl ihnen das, was du mir gesagt hast. Sie werden nichts auf Tonband nehmen, und die Leute in deinem Haus werden nichts erfahren, und ich verspreche dir ...«
Er sah mich ganz ruhig an, er wußte genau, wohin die Reise gehen würde. Er sagte: »Bleib hier, Baumeister. Ohne dich rede ich nicht.«
Ich setzte mich also dazu. Wenn Rodenstock oder Marker ihn etwas fragten, tat er so, als habe ich ihn gefragt. Seine Erzählung war punktgenau die gleiche wie im Wald, er wich an keiner Stelle ab, obwohl ich darauf wartete, daß er an diesem oder jenem Punkt Unsicherheiten zeigte. Er zeigte keine. Als er zu dem Punkt der Geschichte kam, an dem er mit mir den Wald verlassen hatte und wir zum Heim zurückgekehrt waren, gab es keine Fortsetzung. Die Garage mit dem Dorf für seine Frau sollte sein Geheimnis bleiben. Er war dankbar für mein Schweigen und versuchte, mir zuzublinzeln, was ihm elend mißlang.
Er schloß: »Bitte, entschuldigen Sie, aber ich habe nur flüchtig gesehen, ich habe zuerst, na ja, ich habe zuerst nicht verstanden, was da war. Deshalb ich kann nicht sagen, waren es drei Männer oder vier oder fünf oder ...«
»Schließen Sie die Augen«, bat Rodenstock eindringlich. »Schließen Sie die Augen, und hören Sie zu. Sie sind im Wald. Es ist gegen Mittag, es ist heiß, die Sonne steht hoch. Stehen Sie dort, wo dieses Bärenmoos ist, im Schatten oder in der Sonne?«
Wassi hielt die Augen geschlossen und lächelte leicht. »Halb. Halb Schatten, halb Sonne. Sehr grell.«
»Gut. Also Halbschatten. Dann sehen Sie auf die Straße, wo sich dieser Überfall abspielt. Achten Sie jetzt bitte – halten die Augen geschlossen! – nicht auf das Licht, nicht auf das Bild. Achten Sie auf Geräusche. Was hören Sie? Langsam, langsam. Was hören Sie?«
Wassi ließ sich darauf ein, er fühlte sich sicher. »Entfernung ist, na ja, zweihundert, zweihundertfünfzig Meter. Stimmt so, Baumeister?«
»Haut hin. Weiter.«
»Ich höre ein Auto, nein, ich höre zwei Autos. Moment. Überfall ist passiert, oder?«
»Nein, noch nicht«, widersprach Rodenstock ganz ruhig und gelassen. »Ist noch nicht passiert. Was hören Sie?«
»Da ist ein Kreisch. Sagt man so? Kreischen, ja Kreischen. Sie ziehen das Motorrad über die Straße und legen es hin. Mitten auf Straße. Dann das Auto, das mit dem Geld. Es kommt. Die Männer, nein, halt. Es kommt, und die Bremsen quietschen leicht. Nicht schlimm, nicht wie im Film. Dann höre ich, wie sie die Türen aufmachen. Nein, sie machen sie nicht auf, sie schieben sie auf. Sind Schiebetüren. Geht wie ein Rollen, nicht laut. Dann ... dann höre ich nichts, nein, gar nichts. Die beiden Wachmänner gehen zu den Männern auf der Straße. Und dann ist kein Geräusch. Ich ... ich habe bis dahin überhaupt nicht an Überfall gedacht, verstehst du?«
»Na sicher. Warum denn auch? Helle Sonne, grüner Wald, warm ...«
Er lächelte. »Du verstehst. Gut. Komisch. Jetzt kein Geräusch mehr, überhaupt kein Geräusch, verstehst du? Ich sehe ... ich höre nichts. Die Wachmänner kriegen was um die Köpfe, also diese Ohrenschützer, wie wir sie beim Fällen und Sägen tragen müssen. Dann etwas über den Mund, dann diese Säcke. Geht alles schnell, geht so schnell, wie ... na ja, sie haben das geübt, denke ich. Dann die Wachmänner an die Bäume. Kein Geräusch, versteht ihr, kein Geräusch, nichts. Und ich höre gut.«
»Wann kommt jetzt ein Geräusch?« fragte Rodenstock.
»Sind zwei Geräusche. Kommen laut und schnell. Zwei Autos. Auto mit Geld und der Intercooler, der rückwärts rankommt. Sehr schnell.«
»Was dann?«
»Dann wieder schrill. So ein Kreischen. Sie ziehen zwei Schienen hinten raus. Der Geldwagen fährt hoch. Alles sehr schnell. Dann wieder nur ein Auto, weil der Geldtransporter abgestellt. Schluß damit. Volvo gibt Gas und ist schnell weg.«
»Moment, Moment«, rief Marker hastig. »Da fehlt doch was!«
»Fehlt nichts«, sagte Wassi bestimmt.
»Doch«, beharrte Marker. »Da fehlt etwas. Sie fahren den Geldtransporter auf den Tieflader. Okay? Gut. Dann muß der, der im Geldtransporter sitzt, doch aussteigen, oder?«
»Verdammt gut«, meinte ich. »Stieg er aus, Wassi?«
»Nein. Er stieg nicht aus. Weiß ich sicher. Keine Autotür.«
»Kann nicht sein«, überlegte Marker. »Wassi, bitte denken Sie nach: Bis jetzt stimmt alles. Der, der den Volvo fährt, sitzt im Volvo. Der, der den Geldtransporter auf den Tieflader gefahren hat, bleibt drin sitzen. Auch okay. Aber der dritte Mann? Der muß doch in den Volvo, oder? Oder wenn er nicht in den Volvo steigt, steigt er dann in den Geldtransporter? Irgendwo muß er bleiben, verdammt noch mal.«
»Kapiere ich«, sagte Wassi. Er hielt die Augen noch immer geschlossen. »Kapiere ich verdammt gut, Chef. Aber da war nichts. Keine Autotür. Langsam noch mal. Halt, wir haben vergessen das Motorrad, die Plane. Haben sie vorher auf den Tieflader gehoben – zu dritt«, erklärte er sehr bestimmt.
»Gut, also noch mal«, sagte ich. »Einer geht den Tieflader holen. Der steht hinter einem Erdwall, rund hundertfünfzig Meter weg, und ist nicht sichtbar. Währenddessen setzt sich der zweite Mann in den Geldtransporter. Als der Tieflader herangebracht ist, fährt er auf die Ladefläche. Okay?«
»Okay«, bestätigte Wassi. »Dritter Mann. Muß einsteigen, muß eine Tür zu hören sein. Ist aber nicht. Ist still.«
»Also keine Tür klappt. Also bleibt der dritte Mann am Tatort. Ist das so richtig?« Rodenstock hatte die milde Stimme eines Mannes, der niemandem weh tun kann.
»Ist richtig«, nickte Wassi.
»Weiter«, sagte Marker. »Das Geräusch von dem Volvo wird immer leiser. Er fährt weg, er taucht in die Wälder. Da muß ein weiteres Geräusch sein. Irgendein Geräusch. Läuft der dritte Mann? Krachen Äste? Irgendein helleres Geräusch, weil er auf der Straße läuft?«
»Nein«, lächelte Wassi. »Gute Methode. Nein, er rennt nicht. Da ist wieder ein Motor. Aber Trecker.«
»Ganz sicher ein Trecker?« fragte Rodenstock.
»Ganz sicher«, sagte Wassi. »Leichter Trecker, nicht schwer. Ich denken, vierzig bis sechzig PS. Ziemlich ... wie sagt man? ... helles Geräusch. Leichter Trecker. Klingt wie International.«
»Phantastisch!« seufzte Marker. »Das ist wirklich phantastisch. Es hilft uns nicht die Spur weiter, hat aber das Flair einer spiritistischen Sitzung.«
»Verdammt noch mal, das ist nicht wahr«, widersprach ich. »Ich verlasse mich darauf, daß Wassi einen Trecker gehört hat. Und er hört einen leichten Trecker der Marke International. So was hört man hier. Vierzig PS ungefähr. Aber Sie übersehen die Tatsache, daß es ein Trecker ist, mein Bester. Wenn wir von einer international arbeitenden Gruppe ausgehen, dabei aber ein Trecker tuckert, dann stimmt etwas nicht, denn solche Gruppen benutzen niemals einen Trecker.«
»Das könnte sein«, sagte Marker. »Aber mehr auch nicht. Dann brauche ich diesen Trecker.«
»Ja, ja«, murmelte Rodenstock trübsinnig. »Sie waren gut, Wassiliew. Vielen Dank.«
»Und nichts im Heim?« fragte Wassi. »Wirklich nicht, Chef?«
»Ich verspreche es«, nickte Marker. »Nichts im Heim.« »Dann gehe ich.« Er stand auf, stand linkisch herum, wußte wieder nicht, wohin mit den Händen. Da tauchte Elsa hinter ihm aus dem Nichts auf und befahl: »Einen dreifachen Schnaps für die Arbeit.«
Wassi strahlte, nahm das Glas, trank es aus und warf es hinter sich auf die Fliesen. »Gutes Haus«, sagte er dann und ging Elsa flüsterte mir zu: »Er liebt dich.«
»Das kann schon sein«, meinte ich. »Er sieht im Wald dieselben Sachen wie ich, und er kann genauso gut die Schnauze halten wie ich. Aber er ist im Gegensatz zu mir knallhart.«
Dann kam mir eine Idee. Ich rannte hinter ihm her und schrie: »Heh, Wassi, komm noch mal zurück. Wir haben etwas vergessen.«
»Meine Frau ...«, widersetzte er sich matt.
»Es dauert nicht lange«, versicherte ich.
Rodenstock und Marker waren in ein Gespräch vertieft. Sie waren erstaunt, aber sie griffen nicht ein. Wassi setzte sich wieder.
»Hör zu, Wassi. Mir ist noch etwas eingefallen. Wenn du im Wald bist: Kannst du, ohne die Erde zu fühlen, sagen, ob es dort feucht ist oder trocken?«
»Na sicher«, lächelte er. »Du weißt doch. Es sind Gräser dort und Pflanzen. Und bestimmte Gräser wachsen nur, wo feucht ist oder wo trocken ist, und deshalb weiß ich das.«
»Gut. Du hast die Augen zugemacht und in dir nachgehört, was dort für Geräusche gewesen sind. Wir wissen jetzt mehr. Aber du hast auch gute Augen, nicht wahr?«
»Sehr gute Augen«, nickte er. »In Kasachstan sagten die Leute, ich könnte besser sehen als ein Luchs.«
»Wenn du Tiere im Wald siehst, kannst du unterscheiden, wie alt sie sind? Kannst du ihr Alter erkennen?«
»Sicher«, bestätigte er sofort. »Weißt du, es ist wie bei Menschen: Junge Tiere bewegen sich anders als alte Tiere. Junge Tiere haben sehr viel Kraft und machen viel unnütze Schritte. Es ist so, als hätten sie zuviel Kraft. Junge Tiere tollen, alte nicht. Wenn du siehst eine Fuchsfamilie, dann geht die Mutter immer vorn. Und die Kleinen hinter ihr her im Gänsemarsch. Aber die Kleinen gehen nicht genau im Gänsemarsch. Sie machen mal hier einen Schritt mehr, mal dort. Und sie spielen mit dem Schwanz vom Fuchs, der vor ihnen geht. Sie sind eben Kinder.«
Er hockte da und war verliebt in seinen Wald. Rodenstock und Marker starrten ihn ergriffen an.
»Das ist sehr gut. Du sagst, es waren wahrscheinlich drei Männer. Mach noch einmal die Augen zu. Okay. Und jetzt erinnere dich an ihre Bewegungen. Du konntest sie nicht erkennen, weil sie diese Motorradhauben trugen. Aber du hast sie gesehen. Wie bewegten sie sich? Schnell, geschmeidig, schwerfällig, wie dicke Menschen, wie dünne Menschen?«
»Ach so«, hauchte Marker.
»Einer war jung«, sagte Wassi. »Ja, einer war jung.«
»Was machte der?«
»Der fuhr nicht den Tieflader. Auch nicht den Geldtransporter. Das war der, der blieb.«
»Der mit dem Trecker?«
»Ja, ja, ich denke.«
»Und die anderen beiden?«
»Bewegten sich anders. Irgendwie schwerer.«
»Älter?«
»Älter«, kam es bestimmt zurück.
»Danke, Wassi«, sagte ich. »Sag mal, bist du eigentlich katholisch?«
»Ja«, nickte er etwas verwundert.
Ich ging hinüber in mein Arbeitszimmer und nahm die alte hölzerne Madonna von ihrer Unterlage, die irgendwer aus meiner Familie vor Urzeiten in den Wirren des Krieges irgendwo gegen eine Stange Zigaretten eingetauscht hatte. Das Gesicht dieser Maria war mädchenhaft, irgendwie gänzlich unglaublich. Ich reichte sie ihm und sagte: »Vielleicht ist das auch etwas für deine Frau.«
»Ja, ja«, bedankte er sich. Er nahm sie wie ein Baby in die Armbeuge und verschwand in der Nacht. Sein Gesicht war verwirrt.
»Was sagt uns das?« fragte Marker hinter mir.
»Ich weiß es nicht genau.«
»Es waren also drei Männer mit einem Tieflader und einem leichteren Trecker«, murmelte er.
»Es kann auch eine Frau dabeigewesen sein«, rief Rodenstock irgendwo hinter uns im Dunkel des Flurs. »Lieber Himmel, ich brauche einen Kaffee.«
»Wir haben noch zehn Minuten bis zum Bürgermeister«, stellte ich fest.
Wir hatten diese zehn Minuten nicht, denn die Frau meines Bürgermeisters rief an und sagte empört: »Also, Klärchen ist doch wieder losgerannt und steht splitterfasernackt vor der Madonna an Christians Scheune. Kann man dem denn nicht verbieten, nachts zu schweißen?«
»Ich sause hin«, beruhigte ich sie, dann informierte ich meine Besucher. »Ich bin sofort wieder da.«
»Ist es die unsägliche Witwe Bolte?« fragte Unger.
»Sie ist nicht unsäglich«, wies ich ihn zurecht.
»Beeilen Sie sich«, mahnte Marker.
Elsa kam hinter mir her und setzte sich in den Jeep. »Ich will sehen, wie sie ausflippt.«
»Sie flippt gar nicht aus, sie ist einfach nur auf eine angenehme, nicht aufdringliche Weise verrückt. Früher durften diese Typen im Dorf bleiben, bekamen ihr Essen und wurden gepflegt. Heute pflegt sie der Staat und macht sie arm.«
»Unsere Gesellschaft hat sich eben verändert.«
»Vermutlich willst du sagen, zum Besseren.«
Sie antwortete nicht mehr, sie murmelte: »Das gibt es doch gar nicht!«
Inzwischen waren wir am Ziel, und an der Ecke der großen Scheune, an der auf einem Haufen aus Bruchsteinen die Gipsmadonna stand, brannten sicherlich mehr als dreißig Teelichter in der stillen, heißen Nacht. Davor erhob sich wie ein kleiner Hügel die Gestalt der knienden Witwe Bolte. Sie hatte sich eine alte Pferdedecke übergehängt, es wirkte gespenstisch.
Christian Daun, sein Vater und Peter Blankenheim standen einige Meter abseits zusammen, waren sehr ruhig und gelassen und rauchten.
»Heh, Klärchen«, rief ich munter. »Du gehörst ins Bett!«
»Die ist völlig weg«, meinte Christian Daun.
»Die hört dich gar nicht«, sagte Peter Blankenheim.
»Das muß doch mal ein Ende haben«, knurrte Nikolaus Daun.
Die Witwe Bolte betete, ihre Lippen bewegten sich schnell, ihre Züge waren vollkommen glatt und verklärt, und die Augen hielt sie geschlossen. Sie drehte sich um, und dabei rutschte die alte Decke von ihr herunter. Sie war auf eine unnahbare Weise nackt, sie war vollkommen unberührbar. »Wollt ihr nicht lieber mitbeten?« fragte sie im Mama-Ton.
»Du erkältest dich, Klärchen«, sagte Elsa freundlich und legte ihr die Decke über.
»Danke, mein Kind«, flüsterte Klärchen.
»Warum gehst du nicht zum Schweißen auf den Hof deines Vaters?« fragte ich Christian Daun.
Er zuckte die Achseln. »Hör mal, Siggi, wir haben alle Maschinen von mir, von meinem Vater und vom Blankenheim-Hof hierhergefahren. Wir arbeiten wie die Sklaven, ich muß die Dinger nachts reparieren. Mir ist eine Wellenhalterung im Mähdrescher gebrochen. Verdammt, ich kann doch nicht das ganze Gerät auf meinen Elternhof schaffen. Jedesmal, wenn ich hier schweiße, kommt sie an und betet. Wieso kriegt der Bürgermeister keinen Heimplatz für sie?«
Es war augenblicklich still, Klärchens Lied erstarb, sie stand auf, die Decke rutschte herunter, sie stand da und sagte: »Wenn mir einer das hier nimmt, lege ich mich zum Sterben hin.«
»Scheiße!« fluchte Christian Daun. »Das wollte ich nicht.«
»Das will doch kein Mensch«, sagte sein Vater.
»Beruhige dich«, meinte Blankenheim. »Ich sage Erna, sie soll dich heute nachmittag mit Kaffee und Kuchen besuchen. Vielleicht kannst du ja mal zu uns hochkommen? So alt bist du doch nicht, daß du das nicht schaffst.«
»Das wäre schön«, flüsterte Klärchen gläsern. »Jetzt gehe ich schlafen.« Sie griff nach der Decke, hängte sie sich über und ging langsam die zweihundert Meter zu ihrem Haus.
»Sie ist wirklich wunderbar«, sagte Elsa versonnen.
»Sie war immer ein guter Typ«, murmelte Peter Blankenheim.
Der alte Daun setzte hinzu: »Wunderlich, immer etwas wunderlich, aber sie hat uns Kinder sehr gemocht, nie angebrüllt.«
»Wir müssen das durchstehen«, stellte ich fest und blies die Teelichter aus.
»Geht klar«, sagte Christian einfach und zündete sich eine Zigarette an. »Wollt ihr ein Bier?«
»Keine Zeit«, lehnte Elsa ab.
»Habt ihr die Geldräuber?« Peter Blankenheim fragte das augenzwinkernd.
»Nicht die Spur«, gab ich Auskunft. »Mich würde es nicht wundern, wenn jemand für den Zaster längst Waffen oder Heroin gekauft hat.«
Auf der kurzen Rückfahrt redeten wir nicht. Mein Bürgermeister hockte in der Stube in einem Sessel und war unsicher, denn Marker, Rodenstock, Unger und Bettina hockten um ihn herum wie ein Tribunal.
»Ich mache erst mal einen Kaffee«, sagte Elsa und nickte ihm zu.
»Grüß dich, Obrigkeit«, sagte ich. »Was spricht der Volksmund, wer hat den Zaster?«
»Das weiß ich nicht.« Er lachte und lockerte sich etwas.
»Das ist ein informatives Gespräch«, erklärte Marker vorsichtig. »Es hat keinen offiziellen Charakter. Es ist ein Plausch, würde ich sagen.«
»Also plauschen wir«, meinte Unger munter.
Sehr wahrscheinlich glaubte mein Bürgermeister, es gehe bei mir nicht wesentlich anders zu als bei einer Ausschußsitzung unter Ausschluß der Öffentlichkeit: Man tastet sich ab. Er begann: »Ja, es wäre schön, wenn Sie mich einmal informieren, wie weit die Nachforschungen gediehen sind.«
»Sehr gut gemacht«, lächelte Rodenstock, und mein Bürgermeister grinste.
»Hör zu«, sagte ich, »es geht nicht darum, jetzt herauszufinden, wer es war. Wir wollen wissen, wie die Stimmung ist und was so alles erzählt wird. Wir erfahren das nicht, aber du.«
»Du kennst ja die Eifler«, gab er zu bedenken. »Geredet wird viel, aber was davon stimmt, muß jeder selbst herausfinden.«
»Wir sind dabei«, sagte Marker freundlich.
»Fangen wir gleich mal an«, meinte ich. »Was sagt man zum Mord an dem Banker, dem Schuhmacher?«
Er bewegte sich vor, trank einen Schluck Bier, zündete sich eine Zigarette an. »Also, wenn's die Frau war, dann ist das natürlich furchtbar. Aber die meisten, vor allem die Frauen, sagen: Die war das niemals! Ich weiß ja nicht, aber angeblich ist die Frau sehr sanft.« Er wedelte mit den Händen. »So ein Pflanzstock ist schwer und aus Stahl und rund zwanzig Zentimeter lang. Stell dir vor, so ein Ding rammst du einem Menschen in den Mund ... näh, näh, das ist ja unheimlich brutal. Die meisten glauben eben, daß er irgendwie in der Geldsache drinsteckte und umgebracht wurde. Oder vielleicht hat er ja durch Zufall irgendwas mitbekommen, durch Zufall erfahren, wer es war. Da mußte er sterben.«
»Ist es denn nicht vorstellbar, daß die Frau ausflippte?« fragte Rodenstock sanft.
»Na sicher«, nickte er. »Aber das ist etwas, das ... na ja, wenn einer durchdreht, macht das den Menschen angst. Da ist man lieber handfest und sagt sich: Das waren Gangster.«
»Richtig«, bestätigte Marker. »Und wahrscheinlich wollen Sie von uns wissen, ob wir irgend etwas Endgültiges wissen. Momentan sieht es tatsächlich sehr danach aus, daß die Frau es war. Der Mann hat sie halt ziemlich schweinisch behandelt.«
»Oh Mann!« hauchte Willi. Dann gab er sich einen Ruck: »Also ich erinnere mich an einen Professor, der mal gesagt hat: Ein Mensch kann Läuse und Flöhe haben. Kann es nicht sein, daß sie ihn umbrachte, und er trotzdem etwas mit dem Ding zu tun hatte?«
»Kann sein«, nickte Marker, »das kann durchaus sein. Was sagen die Leute: Wieviel Täter waren es?«
»Ja, das ist merkwürdig! Niemand vermutet, das war eine Gruppe oder ein Haufen oder so. Sie sagen alle, es waren drei Männer.«
»Nicht zwei Männer und eine Frau?« fragte ich.
»Es waren drei Männer«, wiederholte er. »Und sie haben einen Tieflader in Oberehe geklaut und das Ding benutzt, den Transporter wegzuschaffen.«
»Woher kommt das mit dem Tieflader?« erkundigte sich Rodenstock.
Wenn mein Bürgermeister grinste, sah er augenblicklich zehn Jahre jünger aus. »Das ist ganz einfach. Die Belgier hatten diesen alten Mann in Oberehe gebeten, auf die Tieflader aufzupassen. Der hat wie wild in der Gegend rumtelefoniert, daß mit einem der Tieflader das Ding gedreht wurde. Stimmt das?«
»Das stimmt«, nickte Marker. »Nun habe ich, Herr Bürgermeister, noch eine Frage. Es wird ja viel geredet, und eigentlich weiß niemand etwas Genaues. Aber es wird im Zusammenhang mit solchen Fällen immer über Gruppen geredet, denen es beschissen geht, wirtschaftlich beschissen. Denen traut man doch zu, so ein Ding zu drehen, oder? Also, meine Frage: Wird so eine Gruppe erwähnt?«
»Da rede ich nicht gern drüber«, erwiderte er schnell. »Wissen Sie, das ist ja so: Als Bürgermeister hört man viel, und das meiste davon ist reiner Blödsinn. Da rede ich nicht gern drüber. Läuft hier eigentlich ein Tonband?«
»Wir machen keine linken Dinger!« verneinte Marker scharf. »Herr Bürgermeister, das hier ist vertraulich, niemand wird erzählen, daß Sie überhaupt hier waren.«
Mein Bürgermeister wurde wiederum zehn Jahre jünger. »Ach wissen Sie, Herr Hauptkommissar, das braucht auch niemand erzählen. Das Dorf weiß sowieso, daß ich hier bin. Jeder hat heute Telefon.«
»Willi, paß auf«, sagte ich. »Du hast wahrscheinlich von dem Wassiliew im Kerpener Heim gehört?«
»Na sicher. Der soll mitgemacht haben.«
»Hat er einwandfrei nicht«, widersprach Rodenstock.
»Wassi hat nichts damit zu tun«, erklärte ich. »Und seine Kumpane auch nicht. Von welchen Gruppen hast du gehört?«
Es war ihm unangenehm, er wollte nichts sagen. Er wiegte den Kopf hin und her.
»Niemand zitiert Sie«, mahnte Rodenstock.
»Na ja, es ist nicht meine Gemeinde«, murmelte er. »Das geht meinen Kollegen an. Also, es ist so, daß wir in Daun eine Witwe haben, hoch in die Siebzig. Die hat drei Kinder. Alle drei irgendwie schief, also sozusagen mißraten. Die Tochter geht angeblich in Frankfurt anschaffen, ist aber am Wochenende dauernd hier. Die beiden Söhne leben bei der Mutter, und wir nennen sie hinter der Hand die Heroin-Boys. Also, ich will sagen, die sind süchtig. An dem Samstag, an dem der Geldraub passierte, da haben die beiden in Hillesheim in der kleinen Kneipe nebenan eine Currywurst gegessen. Dann waren sie plötzlich weg. So ungefähr eine Stunde, bevor der Geldtransporter Hillesheim verließ. Seitdem sind sie weg, spurlos verschwunden.«
»Sind die beiden vorbestraft?« fragte Marker.
»Ja«, nickte mein Bürgermeister. »Sie hatten versucht, in Insul unten an der Ahr eine Bank zu überfallen. Also, raffiniert sind sie allemal.«
»Was sagt der Wirt, hatten sie einen Wagen dabei?«
»Nein, das nicht. Aber einen kleinen Trecker. Der ist ihnen wohl von ihrem Vater geblieben.«
»Sieh an, sieh an«, grollte Marker.
»Hat irgendjemand sie gesehen?« fragte Rodenstock. »Ich meine, auf dem Weg von Hillesheim nach Wiesbaum und dann auch rüber nach Flesten.«
»Ein Bauer hat sie auf dem Weg von Hillesheim nach Wiesbaum gesehen, also in der Richtung, in der es passierte.«
Marker schlug wütend mit der flachen Hand auf die Tischplatte. »Verdammt noch mal, warum erfahre ich das erst jetzt?«
»Ich weiß das auch erst seit gestern. Die Witwe in Daun hat Lärm geschlagen. Sie sagt, die beiden Söhne haben ihr das letzte Geld geklaut an dem Samstag morgen. Ich denke mal, die haben sich irgend etwas gekauft und genommen oder gespritzt. Vielleicht sind sie ja auf die Wahnsinnsidee gekommen, den Geldtransporter zu klauen und ...«
»Niemals«, widersprach Elsa scharf. »Woher haben sie das Motorrad, woher die Plane, woher die Säcke? Und dann den Tieflader klauen? Leute, die herionsüchtig sind!«
»Weiß der Kuckuck«, seufzte Marker. »Es kann trotzdem sein, wenn sie irgendwelche Helfershelfer hatten.«
»Sämtliche Umstände kamen ihnen entgegen«, sinnierte Rodenstock.
»Was sagt der Volksmund«, fragte ich weiter, »wohin können sie verschwunden sein?«
»Frankfurt oder Köln«, antwortete mein Bürgermeister. »Sie haben in beiden Städten ihre Drogen gekauft, sie haben dort Bekannte.«
»Ich lasse sie suchen«, sagte Marker. Er verschwand, wahrscheinlich um die Rauschgiftdezernate um dringliche Fahndung zu bitten.
»Jetzt kommt erst mal Kaffee«, sagte Elsa mütterlich.
Wir tranken also dankbar Kaffee und schwätzten über Alltägliches, bis Marker zurückkehrte, sich auf seinen Stuhl setzte und die Befragung fortsetzte: »Ist außer diesen Heroin-Brüdern noch eine andere Gruppe im Gespräch?«
»Ich weiß wirklich nichts weiter«, wiederholte mein Bürgermeister.
»Erörtert denn die Bevölkerung nicht noch ganz andere Möglichkeiten?« fragte Marker.
Es war klar, er wollte meinen Bürgermeister aufs Glatteis locken und gleichzeitig nichts preisgeben. Ich sah, wie Rodenstocks Gesicht sich unter einem schnellen Lächeln verzog und wie Elsa hastig die Hand zum Mund nahm.
»Na ja«, antwortete Willi gedehnt. »Es werden vor allem viel Witze gemacht.« Er lachte. »Vor allem der: Was kaufst du denn als erstes: Weltreise, Haus oder Auto?«
»Auf wen kommst du denn selbst, was fällt dir denn dazu ein?« bohrte ich weiter.
Er ist ein gewiefter Politiker, mein Bürgermeister. Er sagte im Brustton der Überzeugung: »Na ja, erst mal das organisierte Verbrechen. Das Ding ist doch so perfekt gelaufen, das müssen doch sozusagen erstklassige Profis gewesen sein, oder?«
»Das könnte sein«, bestätigte Marker mit sehr breitem Mund. »Aber wir wollen auch hören, falls in der Bevölkerung andere Gruppen genannt werden.«
»O ja, die gibt es natürlich«, erwiderte er schlicht. »Die verrückteste, die ich bisher gehört habe, ist diese: Es war die Polizei.« Er hatte vor Belustigung ganz schmale Augen.
Eine Weile herrschte eisiges Schweigen, dann sagte Rodenstock sichtlich konsterniert: »Das ist aber doch Unsinn!«
»Also, so ein großer Unsinn ist das durchaus nicht.« Willi breitete beschwichtigend die Hände aus. »Da steckt durchaus Köpfchen dahinter. Wenn jemand das Ding ganz sicher drehen wollte, dann ... dann ...«
»Das ist aber doch irre«, rief Unger.
»Laß ihn doch mal«, sagte Rodenstock ruhig. »Wieso also Polizisten? Ein paar Minuten nach dem Kladderadatsch war doch ein Streifenwagen da.«
Nun machte meinem Bürgermeister die ganze Sache Spaß. »Also, ich muß betonen, daß ich diese Theorie nicht vertrete, aber trotzdem ist was dran.« Er grinste wieder. »Sehen Sie mal, man sagt immer, daß der Eifler zwar erst mit sechs Monaten die Augen aufmacht, daß er aber dann wirklich alles sieht. Klar war da sofort ein Streifenwagen. Was ist denn, wenn der gar nicht zufällig daherkam?«
»Lieber Himmel«, sagte Rodenstock verblüfft, »das ist wirklich faszinierend. Diese ersten Beamten am Tatort können die Nachforschungen exakt so lange durch emsige Tätigkeit behindern, bis der Tieflader irgendwo ist, wo ein anderer Lkw auf ihn wartet. Meinen Sie das?«
»Das meine ich«, grinste Willi.
»Das kann nicht ganz sein«, wandte ich ein. »Ich war dort. Die Beamten hatten natürlich die ersten zwei, drei Minuten vor lauter Überraschung so etwas wie einen Schock, aber dann haben sie verdammt gut die Ringfahndung aufgestellt. Das glaube ich nicht, das glaube ich einfach nicht.«
»Ist ja nur ein Gedankenspiel«, beruhigte mich Willi. »Man kann daran erkennen, auf was die Leute alles kommen.«
»Jedenfalls zeigt es, daß man meinen uniformierten Kollegen hier alles Mögliche zutraut«, seufzte Marker. »Sagen Sie«, begann er aufs neue, »gibt es denn keine Theorie, die halbwegs realistisch ist?«
Willi verstand die Frage sofort, aber sicherheitshalber blickte er hilflos in die Runde. Dann räusperte er sich und murmelte: »Ja, ich dachte, Sie würden mich jetzt darüber informieren, was Sie wissen.«
»Wir sind uns nicht schlüssig«, entgegnete Marker und schien in tiefes Nachdenken versunken.
Rodenstock schüttelte mißbilligend den Kopf, sagte aber nichts. Elsa lächelte auf den Fußboden.
»Verdammt, nun führen Sie ihn doch nicht vor«, fluchte Unger.
»Heh!« rief Marker scharf.
»Unger hat recht«, entschied ich. »Das ist kein gutes Spiel. Paß auf, Willi. Jemand hat seit dem Wochenende unendlich viel Geld. Er verschenkt es nämlich.«
Er sah mich mit sehr ruhigen Augen an, blickte dann zwischen seinen Beinen zu Boden und stöhnte: »Ach du Scheiße!«
»Bitte, Willi«, bat ich. »Du mußt irgend etwas gehört haben. Du solltest das jetzt sagen. Ob es stimmt oder nicht, ist zunächst wurscht.«
Er atmete in einem heftigen Stoß aus. »Landratsamt! Es ist so, daß das Geld in Zeitungspapier gewickelt war, daß es beim Hausmeister nachts vor die Tür gelegt wurde. Dabei war ein Zettel. Ziemlich schlimm.«
»Was ist schlimm?« fragte ich.
»Auf den Zettel hatten sie Buchstaben geklebt. Ausgeschnitten. Die Behörden sollen das Geld für vier Häuser im Kreis verwenden, in denen Asylbewerber untergebracht sind. Damit nicht noch einmal so eine Schweinerei passiert wie damals mit dem Gymnasium.«
»Was war damals?« hakte ich nach.
»Vor ein paar Jahren kamen aus dem Osten die Deutschstämmigen. Da hat ein Gymnasium einen Wirbel gemacht und geschrien: Her damit! Sie haben die Turnhalle ausräumen wollen und als Lager angeboten. Aber nach vierundzwanzig Stunden war das vorbei. Angeblich haben Eltern den Schuldirektor angerufen und gesagt, sie wollen nicht, daß ihre Tochter in eine Schule geht, in der Russen in der Turnhalle sind. Plötzlich hat keiner mehr von der Turnhalle geredet. Die Landesregierung konnte die Flüchtlinge nicht schicken. Wir bekamen später natürlich trotzdem welche. Ich als Bürgermeister kann nur sagen: Wir wissen nicht mehr, wie wir das finanzieren sollen. Die Eifel war immer arm und wurde immer ausgenutzt. Wir verarmen wieder, wir kriegen keine Gelder. Wir haben diese Leute, die wir zugewiesen kriegten, in vier großen Häusern untergebracht. Weil in den Häusern alles Mögliche defekt ist, hat irgendwer der Kreisverwaltung vierhunderttausend geschenkt, damit diese Häuser hergerichtet werden. Außerdem stand wörtlich auf dem Zettel: ,Ich verzichte auf eine Quittung, werde aber darauf beharren, daß das Geld seiner Bestimmung gemäß verwendet wird.' Natürlich sagte der Landrat: Mund halten, eisern den Mund halten!«
»Wann kam das Geld?« fragte Marker. Er war blaß.
»Gestern«, erwiderte mein Bürgermeister.
»Ich muß telefonieren«, sagte Marker. »Ich muß diesen Landrat aus dem Bett holen. Nein, nein, ich erwähne Sie nicht.«
»Darum muß ich auch bitten«, murmelte mein Bürgermeister. »Vielleicht will er Ihnen morgen freiwillig Bescheid geben.«
»Vierundzwanzig Stunden zu spät«, sagte Marker scharf. »Kann ich Ihren Wagen haben?« fragte er mich.
»Schlüssel steckt«, gab ich zurück.
»Heiliger Bimbam«, Unger schien sehr zufrieden.
»Es naht eine Gewitterfront«, stellte Elsa fest. »Noch jemand Kaffee?«
Niemand wollte. Wir starrten vor uns hin, wir hörten, wie Marker den Jeep startete und vom Hof fuhr.
»Also gut«, meinte Elsa. »Jemand hat den Geldtransporter geklaut und verschenkt jetzt das Bare. Wer kann das sein?«
»Ich weiß das wirklich nicht«, sagte Willi.
»Apropos Bargeld. Du mußt gelegentlich das Haus der Witwe Bolte umpflügen. Sie treibt immer irgendwo Geld auf«, berichtete ich ihm.
»Das ist schrecklich«, nickte er. »Viele alte Leute horten Geld. Weil sie gehört haben, daß sie im Altenheim nur Taschengeld kriegen. Also sammeln sie so viel wie möglich. Ja, ja, ich pflüge das Haus um. Wie ging es ihr heute?«
»Ganz gut«, lächelte Elsa.
»Sag mal«, fragte mein Bürgermeister, »wer hat denn noch was von dem Segen abgekriegt?«
Damit gab er uns eine Nuß zu knacken, und wir wußten nicht, ob wir ihm antworten sollten.
»Sie müssen es absolut vertraulich behandeln«, antwortete schließlich Rodenstock. »Kein Wort, nicht mal zur örtlichen Kripo.«
»Kein Wort«, versprach er.
»Okay«, sagte ich und erzählte es ihm. Ich schloß mit den Worten: »Mit deinen vierhunderttausend für die Kreisverwaltung haben wir erst läppische sechshundertfünfzigtausend.«
»Das ist doch schon was«, rief er empört.
»Die haben fast neunzehn Millionen!« mahnte Elsa.
Mein Bürgermeister beschloß, sich das Lachen nicht mehr zu verkneifen. »Da gibt es noch jede Menge Geschenke«, freute er sich. Er sah auf die Uhr und erklärte: »Ich muß morgen früh raus.«
»Ich begleite dich«, sagte ich. »Ich brauche frische Luft.«
Wir gingen nebeneinander die stille Dorfstraße hinunter, und unsere Schritte waren sehr laut.
»Ich kenne dich einige Jahre«, fing ich das Gespräch wieder an. »Du machst den Eindruck, daß du noch mehr weißt.«
»Da ist was dran«, muffelte er. »Das ist aber auch zu verrückt.«
»Was ist zu verrückt? Sag es ruhig, wir finden es doch irgendwann heraus.«
»Halten diese Leute vom Bundeskriminalamt mich wirklich raus?«
»Garantiert. Also, was ist noch?«
»Wir haben zwei Bundestagsabgeordnete hier«, erklärte er, blieb stehen und strich mit der Schuhsohle über den Asphalt. »Einen SPD, einen CDU. Die haben heute beide sechzehntausend Mark in bar gekriegt. In Zeitungspapier.« Er ging weiter. »Das ist durchgesickert, und sie haben dann die Bürgermeister angerufen und uns gebeten, die Schnauze zu halten.«
»Wozu sechzehntausend Mark?« fragte ich.
»Bei dem Geldpaket lag ein Zettel. Wieder so einer mit zusammengeklebten Buchstaben. Sinngemäß stand darauf, daß die Bundestagsabgeordneten bisher nichts, aber auch gar nichts für die Landwirte und ihr Auskommen getan haben. Na ja, das Geld ist dafür gedacht, daß sie auf einer staatlichen Landwirtschaftsschule lernen, wie Bauern leben und wie man ihnen wirklich helfen kann.«
»Hm«, machte ich. »Jemand führt die Vulkaneifel vor. Behalte es für dich, behalte es um Gottes willen für dich. Ich sage es dem Bundeskriminalamt.«
»Aber du hast es nicht von mir«, bestand er.
»Keine Spur«, erwiderte ich. »Sonst noch etwas?«
»Wie?«
»Sonst noch etwas?«
»Ich wüßte nicht.«
»Willi!«
»Wirklich nicht.«
Er stand da und sah hinter mir her. Wahrscheinlich überlegte er, ob es nicht günstiger gewesen wäre, alles zu sagen.
Zu Hause berichtete ich kurz. Ich schickte Elsa in mein Bett und blieb selbst auf dem Sofa im Arbeitszimmer. Ich starrte in den heißen Nachthimmel und fand keinen Schlaf. In heller Verzweiflung schaltete ich um sechs Uhr in der Früh das Morgenmagazin ein und erlebte eine Truppe in bunte Strampelhöschen gesteckter junger Frauen. Das, was sie hopsend darboten, nannten sie nicht Aerobic, sondern Joyrobic – zweifellos ein zivilisatorischer Fortschritt. Sie grinsten beim Hopsen schrecklich uniform.
Vermutlich hatten sie alle denselben Zahnarzt, denselben Liebhaber und fuhren alle einen VW-Golf.