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it eiligem Getrappel rannten sie durch die

Schlucht, lachend, drängelnd, ganz Ellbogen und Knie, ganz Schnaufen und Schwitzen, draufgängerisch – und stießen zusammen, als sie anhielten, weil Tom Skelitt anhielt und den Weg hinaufzeigte.

»Da«, flüsterte er. »Das ist das einzige Haus in der

Stadt, wo sich Halloween wirklich lohnt! Das da!« »Ja!« riefen alle.
Denn es stimmte. Das Haus war ein besonderes

und schönes und hohes und dunkles Haus. Es hatte bestimmt tausend Fenster, und alle funkelten im kalten Sternenlicht. Es sah aus, als wäre es nicht aus Holz gebaut, sondern aus schwarzem Marmor gemeißelt. Und drinnen? Man konnte nicht einmal ahnen, wie viele Zimmer, Korridore, Laufgänge und Mansarden es dort gab. Kleinere und größere Mansarden, manche höher als andere, manche mehr überzogen von Staub und Spinnweben und angefüllt mit dürren Blättern oder Gold, das nicht in der Erde vergraben, sondern im Himmel verwahrt war – so hoch, daß auch die längste Leiter der Stadt zu kurz gewesen wäre.

Das Haus winkte ihnen mit seinen Türmchen, es lud sie ein mit seinen fest verschlossenen Türen. Piratenschiffe sind etwas Großartiges. Alte Forts sind ein Geschenk des Himmels. Aber ein Haus, ein Spukhaus, an Halloween? Acht Herzen klopften stürmisch vor Entzücken und Begeisterung.

»Los, hin!«

Aber sie drängten sich ja schon den Weg hinauf. Bis sie schließlich vor einer verfallenen Mauer standen und hinaufsahen, und weiter und weiter hinauf, zu den großen Friedhofsgiebeln des alten Hauses. Denn so wirkte es: wie ein Friedhof. Das steile, gipfelartige Dach war übersät mit etwas, das wie schwarze Knochen oder Eisenstangen aussah, und mit genug Schornsteinen, um Rauchsignale von den drei Dutzend Feuern auszustoßen, die versteckt, auf rußigen Feuerstellen tief unten in den düsteren Eingeweiden dieses Ungeheuers brannten. Mit diesen vielen Kaminen sah das Dach wie ein riesiger Friedhof aus, und jeder Kamin stand auf dem Grab eines alten Gottes des Feuers oder einer Hexe, die über Dampf, Rauch und Glühwürmchen gebot. Gerade als sie hinaufsahen, stieg ein schwacher Rußdunst aus etwa vier Dutzend Schornsteinen, der den Himmel noch dunkler färbte und ein paar Sterne auslöschte.

»Mann«, sagte Tom Skelitt, »Pipkin hat tolle

Ideen.«
»Mann«, stimmten ihm alle zu.
Sie schlichen über einen unkrautüberwucherten

Weg zur Veranda am Eingang.

Tom Skelitt schob seinen mageren Fuß vorsichtig auf die erste Stufe. Angesichts von soviel Kühnheit hielten die anderen den Atem an. Aber dann war es schließlich die ganze Gruppe, eine kompakte Masse von schwitzenden Jungen, die sich, heftig erschauernd und unter den schrillen Schreien der Stufenbretter, die Treppe hinaufschob. Jeder von ihnen wollte zurück, wollte umkehren und davonrennen, fand sich aber eingezwängt von den Jungen hinter und vor und rechts und links von ihm. Und so machte dieses amöbenhafte Gebilde, das hier und da ein Pseudopodium aufzuweisen hatte, dieses schwitzende Knäuel aus Jungen schließlich einen Satz und rannte los und kam vor der Haustür zum Stehen, die so hoch wie ein Sarg und doppelt so schmal war.

Einen langen Augenblick standen sie da. Verschiedene Hände wurden ausgestreckt wie die Beine einer riesigen Spinne, als wollten sie den kalten Knopf drehen oder nach dem Türklopfer greifen. Inzwischen gaben die alten Dielen unter ihren Füßen leicht nach und drohten bei jeder Gewichtsverlagerung zu brechen und sie in einen von Kakerlaken wimmelnden Abgrund stürzen zu lassen. Die Dielen waren auf A oder F oder C gestimmt und gaben eine unheimliche Musik von sich, als die schweren Schuhe über sie schlurften. Ja, wenn sie Zeit gehabt hätten und es Mittag gewesen wäre, hätten sie vielleicht eine Leichenpolka oder einen Gerippewalzer getanzt, denn wer kann schon einer alten Veranda widerstehen, die wie ein riesiges Xylophon ist und nur darauf wartet, daß man auf ihr herumspringt und Musik macht?
Aber daran dachten sie nicht.
In seiner Verkleidung als schwarze Hexe schrie

Henry-Hank Smith (denn er war es): »Da!«
Und alle sahen auf den Klopfer an der Tür. Tom
streckte zitternd die Hand danach aus.
»Ein Marley-Klopfer.«
»Ein was?«
»Du weißt schon: Scrooge und Marley, aus Ein
Weihnachtslied!«
flüsterte Tom.
Und tatsächlich: Der Türklopfer war in Form eines
Gesichtes gestaltet, des Gesichtes eines Mannes mit
schrecklichen Zahnschmerzen. Seine Wange war
verbunden, sein Haar war wirr, seine Zähne standen
vor, und sein Blick war wild. Es war der mausetote
Marley, Scrooges Freund, der Besitzer von Liegenschaften jenseits des Grabes, der verdammt war,
heimatlos durch die Welt zu ziehen, bis …
»Klopf doch mal«, sagte Henry-Hank.
Tom Skelitt nahm des alten Marleys kaltes, stoppeliges Kinn, hob es an und ließ es los.
Der dumpfe Knall ließ alle zusammenzucken. Das ganze Haus erbebte. Seine Knochen knirschten. Springrollos rollten sich blitzschnell auf, so daß
die Fenster sie mit weitaufgerissenen, gespenstischen
Augen anstarrten.
Tom Skelitt sprang behende wie eine Katze zurück
zum Geländer der Veranda und sah hinauf.
Auf dem Dach drehten sich seltsame Wetterfahnen. Zweiköpfige Hähne wirbelten im plötzlichen
Wind. Ein Wasserspeier an der Westseite des Hauses stieß aus den Nasenlöchern zwei Wölkchen Regenrinnenstaub aus. Und als der Wind sich gelegt und die Wetterhähne aufgehört hatten sich zu drehen, fielen einzelne Herbstblätter und Spinnwebfetzen durch die langen, schlangengleich gewundenen Regenrin
nen und wurden in das dunkle Gras gespuckt. Tom fuhr herum und sah zu den leicht bebenden
Fenstern. Mondlichtspiegelungen erzitterten im Glas
wie Schwärme aufgeschreckter Elritzen. Dann ruckte
die Haustür, der Knopf wurde gedreht, Marleys Gesicht auf dem Türklopfer verzog sich zur Grimasse,
und die Tür wurde weit aufgerissen.
Der Luftzug der so plötzlich geöffneten Tür hätte
die Jungen fast von der Veranda geweht. Sie packten
einander am Ellbogen und schrien.
Die Dunkelheit im Haus atmete ein. Wind fuhr
durch die sperrangelweite Tür. Er zerrte an den Jungen, zerrte sie über die Veranda. Sie mußten sich
weit zurücklehnen, um nicht in die lange, dunkle
Halle geweht zu werden. Sie kämpften dagegen an,
sie schrien und klammerten sich an das Geländer.
Doch dann ließ der Wind nach.
In der Finsternis bewegte sich Finsternis. Drinnen im Haus, noch weit entfernt, ging jemand
zur Tür. Wer immer es war – er mußte ganz schwarz
gekleidet sein, denn man sah nichts außer einem
bleichen Gesicht, das in der Luft zu schweben
schien.
Ein böses Lächeln kam näher und hing über ihnen
in der Türöffnung.
Hinter dem Lächeln verbarg sich ein großer Mann
im Schatten. Sie konnten jetzt seine Augen sehen, die
sie anstarrten – kleine Punkte aus grünem Feuer, das
in kleinen schwarzen Höhlen glomm.
»Tja«, sagte Tom, »äh … Was Schönes her, sonst
hexen wir.«
»Was Schönes?« sagte das Lächeln im Dunkeln.
»Sonst hexen wir?«
»Ja.«
Irgendwo spielte der Wind in einem Schornstein
Flöte; es war ein altes Lied über Zeit und Finsternis
und weit entfernte Länder. Der große Mann klappte
sein Lächeln zusammen wie ein blitzendes Taschenmesser.
»Hier gibt es nichts«, sagte er. »Hier wird nur gehext!«
Die Tür fiel krachend zu.
Im Haus donnerte es, und Staubschauer fielen herab.
Staub schoß aus den Regenrinnen, in Flocken, wie
flaumig behaarte Kätzchen.
Staub stob aus offenen Fenstern. Staub wirbelte
aus den Ritzen zwischen den Dielen zu ihren Füßen
empor.
Die Jungen starrten auf die fest verschlossene Tür.
Der Marley-Türklopfer verzog nicht mehr schmerzlich das Gesicht, sondern lächelte böse.
»Was hat er damit gemeint?« fragte Tom. »›Hier
gibt es nichts, hier wird nur gehext.‹«
Als sie um das Haus herumgingen, staunten sie, was für Geräusche es machte. Es war ein Durcheinander aus Flüstern, Quietschen, Knarren, Heulen und Murmeln, und der Nacht wind sorgte dafür, daß die Jungen alles gut hören konnten. Bei jedem Schritt
beugte sich das Haus leise stöhnend über sie. Sie bogen um die zweite Ecke des Hauses und
blieben stehen.
Denn dort stand ein Baum.
Ein Baum, wie sie ihn noch nie in ihrem Leben
gesehen hatten.
Er stand mitten in dem riesigen Garten hinter dem
schrecklich seltsamen Haus. Er ragte über dreißig
Meter hoch auf, höher als die hohen Giebel, und er
war voll und rund und hatte starke Äste und trug eine
bunte Mischung aus roten, braunen und gelben
Herbstblättern.
»Aber seht doch mal«, flüsterte Tom. »Was hängt
bloß da im Baum?«
Denn im Baum hingen Kürbisse jeder Form und
Größe, in Farben zwischen einem rauchigen Gelb
und einem leuchtenden Orange.
»Ein Kürbisbaum«, sagte einer.
»Nein«, sagte Tom.
Der Wind fuhr durch die oberen Zweige und wiegte sanft die leuchtenden Kugeln.
»Ein Halloweenbaum«, sagte Tom.
Und er hatte recht.

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