5 SPRACHE

5.1 Ich verstehe Deutsch nicht


Es ist keine neue Beobachtung, dass verschiedene Personen mit ein und demselben Wort ganz verschiedene Dinge meinen können. Wie groß die daraus entstehende Problematik allerdings ist, wird wenigen Menschen ernsthaft bewusst.

Am ehesten ist uns die Vielschichtigkeit der Bedeutung bei so großen (und abgegriffenen) Worten wie »Liebe« oder »Gott« klar. Dürrenmatt meint etwa sinngemäß: »… der Begriff Gott ergibt keinen Sinn, weil hundert verschiedene Menschen darunter hundert verschiedene Dinge meinen: eine Person den allmächtigen, allgegenwärtigen christlichen Gott, eine andere eine nicht näher erklärte Kraft, die All, Erde und den Menschen geschaffen hat (aber vielleicht schon lange aufgehört hat zu existieren?), eine dritte einen kosmischen Gesetzgeber, der dafür sorgt, dass die Natur in so wundersamer Weise zusammenspielt, eine vierte vielleicht nur ganz vage die Gesamtheit aller Naturgesetze usw.« Und beim Begriff »Liebe« ist es kaum anders: Wie verschieden er doch interpretiert wird! Und ich meine damit gar nicht die »Haarspalterei« eines Hans Weigel in »Die unvollendete Symphonie«, in der er einen großen Unterschied zwischen den beiden Aussagen »Ich lieb dich« und »Ich liebe dich« ortet (das Erste leicht hingesagt und unbedeutend, das Zweite eine tiefe, verbindliche Aussage, fast ein Versprechen mit vielen Auswirkungen).

Dass auch ganz normales Textmaterial viele Interpretationen zulässt, liegt nicht so sehr an der Mehrdeutigkeit der deutschen Sprache, sondern vielmehr an der Abhängigkeit der Bedeutung von Worten, Sätzen, Aussagen und Ideen von der Zeit, der Kultur, der Menschengruppe. Nicht umsonst gibt es eine ganze Wissenschaft, die Hermeneutik, die sich nur mit der »richtigen« Interpretation von Textstücken beschäftigt!

M. Feldenkrais sagt in seinem Buch »Abenteuer im Dschungel des Gehirns« etwa: »Obwohl Wörter das einzige allgemeine Kommunikationsmittel sind, haben sie keine genaue Bedeutung, weil sie ihrer zu viele haben und weil sie unendlich verschieden gebraucht werden.« L. Wittgenstein, der in seinem »Tractatus Logico Philosophico« für kristallklare Formulierungen bekannt ist und für solche eintritt (»Alles, was man sagen kann, kann man klar sagen; und worüber man nicht reden kann, davon soll man schweigen«), schreibt trotzdem in seinen »Philosophical Investigations« des Jahres 1953: »Die Bedeutung von Text ist polysemantisch« (d. h., erlaubt verschiedene inhaltliche Interpretationen). Der berühmte Computerfachmann und Philosoph aus unserem Nachbarland Ungarn, T. Vamos, meint in seinem Buch »Computer Epistemology«, dass die Bedeutung eines Wortes von der »Gruppe« abhängt, die es spricht bzw. hört, d. h., nur dort richtig verstanden wird, wo dieselben Erfahrungen vorliegen.

In dieselbe Kerbe schlägt D. Tannen mit ihrem Buch »Du verstehst mich einfach nicht«, wo sie anhand Hunderter Beispiele überzeugend belegt, dass Weltbild, emotionales Verhalten und Anschauungen der Frauen so verschieden sind von denen der Männer, dass dadurch immer wieder böse Missverständnisse auftreten: Die Frau, die sagt: »Mir ist nicht gut, ich bin ein bisschen krank«, ist enttäuscht, wenn der Mann darauf antwortet: »Soll ich dich zum Arzt bringen?« Ihre Aussage erfordert keine Tat (aber bei Männern steht das Tun, die Aktion stark im Vordergrund), ihre Aussage will nur Anteilnahme, ein Gespräch bewirken!

All dies sind Beispiele und Tatsachen, die jeder kennt, der sich mit dem Verstehen (der Semantik) einer (beliebigen) Sprache beschäftigt. Ich behaupte, dass nicht nur verschiedene Menschen Worte verschieden verstehen, sondern dass wir alle andauernd Worte verwenden, die wir selbst nicht verstehen!

Ich denke etwa an das klassische Beispiel Gorbatschow, der auf die Frage eines Journalisten, er solle Kommunismus definieren, nicht recht wusste, was er sagen sollte. Aber, Hand aufs Herz, können Sie Kommunismus vernünftig definieren? Wissen Sie, ob Kommunismus Planwirtschaft bedeutet oder das nur zufällig in Russland so gewesen ist usw.? Wer hat nicht schon von den »Neonazi« in den USA gehört und weiß, was damit gemeint ist? (Nicht nur Sie wissen das nicht, seien Sie getrost, auch die Journalisten, die es verwenden, wissen es genauso wenig.) Wenn Sie von Rauschgift reden, was rechnen Sie dazu, was nicht? Tee, Kaffee, Nikotin, Alkohol, Haschisch? Was bedeutet Rasse, Nation, Volk (um einige Worte zu wählen, über die wütende Gespräche oder Klagen geführt werden, und keiner weiß, was die andere Person überhaupt damit gemeint hat). Wenn Sie von rohem Fleisch reden, meinen Sie ungekochtes oder nur unbehandeltes? Für manche Menschen sind Salzheringe, Speck, Bündnerfleisch usw. roh, da ungekocht; für mich nicht.

Damit es nicht zu langweilig wird, höre ich hier mit den Beispielen auf. Es gibt Abertausende, oft recht subtile. Darum bekenne ich öffentlich: Ich verstehe Deutsch nicht!

Nur, die Konsequenz dieser Aussage ist furchtbar. Wenn wir schon selbst nicht mehr verstehen, was wir selbst sagen, wie soll dann noch eine vernünftige Kommunikation mit anderen Menschen möglich sein?



5.2 Die Weib


Es ist verblüffend, wie eigentümlich die Bezeichnungen für die Vertreter der beiden Geschlechter in Deutsch sind, nämlich vor allem wie unsymmetrisch! Da sagt man doch: »Meine Damen und Herren«, d. h., man hat das Gefühl, dass »Dame« das Gegenstück zu »Herr« ist. Wieso sagt man dann »Herr Müller«, aber »Frau Meier« (müsste doch dann »Dame Meier« heißen!) – gehören also etwa »Herr« und »Frau« zusammen? Wohl kaum: Wir sprechen doch immer von »Frauen« und »Männern«, nicht von »Frauen« und »Herren«. Demnach sind »Mann« und »Frau« zueinander passend? Leider nicht wirklich. Wir sprechen von »männlichen« und »weiblichen« (nicht von »fraulichen«!) Eigenschaften. Hier also treffen plötzlich »Mann« und »Weib« zusammen … Und es ist besonders eigentümlich, dass Weib nicht weiblich, sondern sächlich ist: Das Weib, nicht die Weib, heißt es! Das halte ich übrigens für eine gewisse Abwertung des Wortes Weib und ich bin daher dafür, dass in Zukunft der weibliche Artikel die für Weib verwendet wird. Es scheint so, als gäbe es mehr Ausdrücke für weibliche Menschen als für männliche. Während wir einerseits nur »Mann« und »Herr« haben, gibt es ja neben »Frau«, »Dame« und »Weib« noch Varianten wie »Fräulein« (»Männlein« ist wohl kaum vergleichbar damit) oder wie »Jungfrau« u. Ä., ohne wirkliche männliche Äquivalente (»Jungmänner« gibt es als Wortneuprägung nur beim Bundesheer und »Jüngling« ist wohl auch nicht ganz das Äquivalent von »Jungfrau«!). Interessant ist, dass bei jungen Menschen einem Wort für die weibliche Variante »Mädchen« (und dieses ist eigentümlicherweise wieder sächlichen Geschlechts: das Mädchen! Wieso?) mehrere für junge Männer gegenüberstehen: »Bub«, »Bursch«, »Jüngling« und »Knabe«. Auch »Kavalier«, »Grandseigneur« oder »Hühne« haben keine weiblichen Entsprechungen! Umgekehrt, wo sind die Gegenstücke zu »Herrin«, »Frauchen« und »Weiblein«?

Dass unsere Sprache oder jedenfalls unser Sprachgebrauch nicht nur männlich orientiert, sondern manchmal ausgesprochen frauenfeindlich ist, steht außer Zweifel. Wir verwenden »man« statt »frau«, noch deutlicher »Jedermann« statt »jederfrau« oder »jedermensch«, »Weib« klingt leicht abwertend und »Weibsbild« erst recht, während »ein echtes Mannsbild« eher positiv bewertet ist. Am krassesten ist es natürlich beim »herrlichen« Wetter und der »dämlichen« Frage! Neben »weiblich« und »männlich« gibt es die Varianten »weibisch« (eher negativer Beigeschmack!) und »mannhaft« (als durchaus positives Attribut); die schon erwähnten Begriffe »Herrin«, »Frauchen« und »Weiblein« sind wohl auch kaum wertfrei, oder?

Ich finde es verblüffend, dass gerade Deutsch einerseits so »unsystematisch« bzw. »unsymmetrisch« und andererseits so »frauenfeindlich« ist. Im Englischen zum Beispiel scheint dieses Phänomen viel weniger aufzutreten. Dort entsprechen die Wortpaare »Lady – Gentleman«, »Sir – Dame«, »Mr. – Mrs.« und »Boy – Girl« einander recht gut, obwohl eine Ungleichbehandlung ansatzmäßig wohl auch bei »Miss«, »Ms.« oder bei »Dear Sirs« in einer Briefanrede festzustellen ist.



5.3 Deutsche Sprache – seltsame Sprache


Unsere Sprache, wie wohl jede andere, ist voll von Absonderlichkeiten, deren Wurzeln oft viel über die Entstehung der betreffenden Kultur aussagen.

Wenn man hungrig ist, dann isst man und fühlt sich anschließend satt. Wenn man durstig ist, dann trinkt man etwas und ist anschließend … nicht durstig. Es gibt kein eigenes passendes Wort für den jetzt erreichten Zustand! Das »Nichtdurstig« beschreibt den fast Widerwillen gegen weiteres Trinken genauso schlecht, wie »Nichthungrig« das Völlegefühl von »Ich bin satt« zum Ausdruck bringt! Wieso gibt es im Deutschen die Entsprechung »satt« für den Prozess »trinken« nicht? Vermutlich, weil Durst (trinken) in Europa (wo es überall, wo Menschen lebten, immer genug Wasser gab) im Vergleich mit Hunger nie ein wirkliches Problem gewesen ist!

Die Mehrzahlbildung hat viele Tücken. Die Mehrzahl von »Mann« ist »Männer«; aber von »Kaufmann« ist sie nicht »Kaufmänner«, sondern »Kaufleute«. Die Mehrzahl von »Eltern« gibt es nicht (da »Eltern« bereits selbst ein »Mehrzahlwort«, ein »Pluraletantum«, ist). Salz, Zucker, Mehl haben alle keine richtige Mehrzahl (»das Mehl« – »die Mehlsorten«; »die Mehle« gibt es nicht) und das wird auch in jeder Grammatik erläutert: »Amorphe, nicht abzählbare Substanzen haben keine Mehrzahl« (darum hat »Stein« eine Mehrzahl, »Fleisch« aber nicht!).

Interessant wird es bei menschlichen Organen: »das Herz – die Herzen«, »die Lunge – die Lungen«, aber: »der Darm – das Gedärm«! Eines unserer wichtigsten Organe hat keine Mehrzahl: die Leber! Obwohl es in Analogie zu »die Feder – die Federn« wohl »die Leber – die Lebern« heißen müsste, existiert »die Lebern« nicht. Warum eigentlich? Jeder Mensch hat eine Leber, sie sind also abzählbar (ja auch transplantierbar). Aber: Ursprünglich wurde Leber (beim Fleischhauer!) eher als amorphe Masse (wie Fleisch) angesehen, nicht als Einzelorgan. Darum fällt sie in die oben erwähnte Kategorie »amorphe Substanzen«. Chirurgen, die für weitere Transplantationen noch fünf »Leber(n)« brauchen, werden wohl allmählich eine Mehrzahl für dieses heute noch ohne Mehrzahl existierende Organ einführen … und der Duden-Verlag (Hüter der deutschen Sprache) wird, wie in ähnlichen Fällen, irgendwann das neue Faktum anerkennen!

Deutsche Sätze bestehen bekanntlich immer zumindest aus einem Satzgegenstand und einer Satzaussage. In »Ich schreibe«, »Der Baum blüht« usw. sind Satzgegenstand und Satzaussage immer »sinnvoll«. Wussten Sie, dass wir manchmal einen künstlichen Satzgegenstand konstruieren (der überhaupt keinen Sinn macht), nur damit alles grammatikalisch in Ordnung geht, ohne dass uns dieser eigentümliche Vorgang bewusst wird! Das klassische Beispiel dafür ist: »Es blitzt.« Wer oder was (die übliche Frage nach dem Satzgegenstand) blitzt? Offenbar »es«. Und was soll dieses »es« sein? Offenbar ein künstlich geschaffener »Füller«, weil eben »nicht sein kann, was nicht sein darf« (nach W. Busch): Es darf einen Satz ohne Satzgegenstand nicht geben, also muss ein künstliches »es« einspringen!


Kommentar von Peter Lechner:

Über das »Verlegenheits-»es« hat sich schon Karl Kraus unheimlich aufgeregt. Erreicht hat er damit nichts ... kaum war er bestattet, haben seine Freunde, bei einem sprachlichen Fauxpas ertappt, stereotyp geantwortet: »Es - ist mir wurscht – jetzt, wo der Kraus tot ist!«.Wirklich bedauernswert ist hingegen der Umstand, dass es von der Leber nur die Einzahl gibt. Aber weniger in sprachlicher Hinsicht. Mit zwei Lebern könnten wir mehr trinken.  »Es« würde schneller abgebaut.



5.4 Ist Diskussion ohne Hass möglich?


Ein »Diskussionsclub« in Oxford um 7 Uhr abends. Zwei Studenten, Hill und Brafford, stehen sich gegenüber. Das heutige Thema ist Atomenergie. Hill zieht eines von zwei Kuverts, die ihm der Diskussionsleiter anbietet, öffnet es. »Pro Kernenergie« steht auf dem Zettel im Kuvert. Die Entscheidung ist damit gefallen: Hill vertritt heute den Standpunkt pro, Brafford den Standpunkt kontra Kernenergie.

Die Diskussion verläuft spannend, gute Argumente werden von beiden Seiten hervorgebracht. Brafford diskutiert eloquenter, schärfer, geschliffener; er »gewinnt« die Diskussion. Wahrscheinlich hätte er auch gewonnen, hätte er die entgegengesetzte Ansicht, also pro Kernenergie, vertreten. Nach Beendigung der Diskussion ist mir unklar, ob Brafford nun eigentlich in Wirklichkeit für oder gegen Kernenergie ist. Ich frage ihn. Er zuckt die Schultern: »Die Wahrheit liegt meiner Meinung nach eher in der Mitte«, meint er, »klassische Kernreaktoren scheinen bei entsprechend strengen Sicherheitsvorschriften eher risikoärmer Strom zu erzeugen als konventionelle Kraftwerke. Bei schnellen Brütern ist es aber vermutlich umgekehrt. Aber darum geht es nicht. Wir wollen hier nur lernen, die Argumente beider Seiten möglichst gut zu verstehen und vorzubringen. Eine endgültige ‚objektive‘ Wahrheit gibt es oft nicht, sondern die letzte Entscheidung wird von persönlichen Einstellungen abhängen müssen.«

Schade, dass wir nicht auch in anderen Ländern systematisch lernen, emotionslos über wichtige Aspekte zu diskutieren, uns bemühen, alle Pro- und Kontra-Argumente zu verschiedensten Thesen kennen zu lernen! Tatsächlich ist das Diskutieren in z.B. Österreich aus zwei Gründen schwierig: Der erste ist, dass die Kunst, rational und klar zu diskutieren, wenig geübt wird. Oft werden gute Argumente durch »ich bin überzeugt, dass …« ersetzt, wobei diese Überzeugung nicht weiter hinterfragt werden darf. Der zweite Grund, warum das Diskutieren in Österreich schwierig, ja gefährlich ist, erscheint mir besonders besorgniserregend. Häufig wird jemand, der auch nur in einem Punkt eine andere Meinung vertritt, sofort als »Feind«, als jemand, »mit dem man nicht diskutieren kann«, eingestuft, abgestempelt!

Für ein vernünftiges, offenes Zusammenleben ist es notwendig, dass wir Personen, die in einigen Punkten eine andere Meinung vertreten, nicht als Feinde oder Sonderlinge behandeln, sondern dass wir in der Lage sind, sie trotz abweichender Ansichten als Freunde zu akzeptieren. Sind wir dazu nicht bereit (und ich fürchte, viele Österreicher sind es nicht, ja sind sich nicht einmal dieser Problematik bewusst), dann hören wir am besten auf zu diskutieren. Es gibt nämlich kaum zwei Menschen in der Welt, die in allen wichtigen Punkten übereinstimmen, wie ein einfaches Rechenexempel zeigt. Nehmen wir an, es gäbe nur sechzig wichtige Themen, für die man »pro« oder »kontra« sein kann, und nennen wir jede Kombination von 60 Pro’s und Kon’s ein »Gesamtweltbild«.

Dann gibt es 2 hoch 60, das sind zirka 10 hoch 20, das sind 100.000.000.000.000.000.000 verschiedene Gesamtweltbilder, um einen Faktor von zirka 20 Milliarden mehr »Gesamtweltbilder«, als es Menschen gibt!! Die Wahrscheinlichkeit, dass also zwei Personen gleiche Weltbilder haben, ist winzig klein!

Wir müssen daher akzeptieren, dass auch alle jene Leute, die uns lieb und sympathisch sind, in vielen Punkten unsere Meinung nicht teilen werden. Dass uns dies so selten bewusst wird, liegt daran, dass wir häufig vorsichtig sind, bereit sind eher zu schweigen als zu riskieren, dass wir uns eine »Freundschaft« durch eine andere Meinung zu einem bestimmten Thema verscherzen!

Natürlich betreffen die angestellten Beobachtungen besonders auch mich, als Autor von vielen Beiträgen. Selbst wenn ich davon ausgehe, dass jeder meiner Ansichten mehr als die Hälfte der Leser zustimmt, gibt es natürlich keinen Leser, der in allen Punkten meine Ansichten teilt! Allerdings bin ich vorsichtig gewesen und werde es auch bleiben. Von Zeit zu Zeit vertrete ich eine These (ganz im Sinne eines Oxforder Diskussionsclubs) so gut ich kann, ohne dass ich notwendigerweise persönlich diese These für richtig halte …

Um es besonders verwirrend zu machen: Vielleicht gehört dieser Beitrag gerade zu jenen, an die ich selbst nicht glaube?



5.5 Sind Journalisten noch

Berichterstatter?


Blättert man in Zeitungen und Zeitschriften bis in die zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts, so macht man eine interessante Beobachtung: Beiträge weisen nie einen Verfasser auf und versuchen eine einigermaßen objektive Berichterstattung zu liefern. Oft ist sie vielleicht eingefärbt durch die »ideologische Ausrichtung« der Publikation: klerikal, national, kommunistisch oder was auch immer.

Zwischen den Weltkriegen beginnt sich die Situation allmählich zu ändern. Es tauchen erstmals regelmäßig »Leitartikel« auf, die nicht mehr anonym sind, sondern deren Autoren stolz ihre Namen darunter setzen.

Diese Tendenz hat sich ungebrochen weiterentwickelt. Nimmt man heute eine Zeitung oder gar ein Wochenmagazin wie »Spiegel«, »Profil« oder »Times« in die Hand, sind viele Beiträge als Aufsätze von klar erkennbaren Autoren ausgewiesen, wird auch immer weniger versucht, einen objektiven Überblick zu geben. Man findet sogar Ausdrücke wie »meiner Meinung nach«, »ich glaube« usw. Wir lesen nicht mehr Berichterstattungen, sondern Glaubensbekenntnisse der Journalisten: Diese versuchen gar nicht, objektiv zu berichten (das wäre zu langweilig), sondern geben eine kräftig persönlich eingefärbte Meinung von sich, die schon manchmal nur deshalb geschrieben wird, weil sie originell klingt, nicht weil die Autoren sie glauben!

Ich verstehe das alles ganz gut. Ich schreibe ja diese Beiträge auch so! Und alle, die meine Meinungen (oder meine Gedankenspielereien, das ist der bessere Ausdruck!) nicht interessieren, sollen sie nicht lesen!

Aber wenn ich ein »Nachrichtenmagazin« lese, dann interessiert mich nicht die Meinung der Autoren (egal, wie immer sie heißen mögen), ich möchte eine möglichst vielseitige und umfassende Berichterstattung.

Schade, dass diese Art des Journalismus verloren gegangen ist. Und vielleicht ist das der Grund, warum ich eine Zeitung wie die »Züricher« so gerne habe. Da wird (fast) alles so geschildert, wie es halt ist: grau in grau, Argumente in alle Richtungen, weder die Serben noch die Kroaten, noch die Bosnier sind immer die »Bösen«: Bei allem gibt es Plus und Minus.

Die »neue« Art des (wie ich es nenne) »Meinungsjournalismus« hat noch eine andere fatale Auswirkung: Niemand wagt es mehr, zu irgendeinem Thema eine »neutrale« (= lauwarme) Haltung einzunehmen: ganz dafür oder ganz dagegen … Alles andere ist langweilig!

Der MUPID (der von Posch und mir entwickelte Prä-WWW Netzwerkcomputer) wird von Journalsiten immer gesehen als entweder der größte Flop der Computerentwicklung in Österreich (weil er nicht wie Apple die Welt eroberte, sondern nach fünf Jahren ganz guten Erfolges friedlich oder nicht so friedlich entschlief) oder er wird gesehen als der größte Erfolg in der österreichischen Computergeschichte (weil nie vorher eine originelle österreichische Computerentwicklung in Stückzahlen von mehreren Zehntausend – davon immerhin fast 15.000 ins Ausland – verkauft wurde) und weil aus der ursprünglichen Firma mehr als ein Dutzend neue entstanden von denen heute einige grösser sind als MUPID Ges.m.b.H. es je war. Wie immer stimmen beide Extrempositionen nicht, sondern ist die Wahrheit eine laue, langweilige Mischung in der Mitte. Und weil so etwas niemand liest, hat sich die Berichterstattung gewandelt zu einer Sensationsberichterstattung, in der alles, von der Qualität der Politiker bis zum ökologischen Phänomen, von der wissenschaftlichen bis zur wirtschaftlichen Entwicklung, nur noch die Urteile »sehr gut« oder »nicht genügend« erhält.

Was können wir tun, dass eine »sokratische« Diskussion aller Vor- und Nachteile wieder üblicher wird, in der man wenigstens versucht, alle Standpunkte zu erwähnen?

5.6 Alles, was in den Zeitungen steht, ist falsch!


Wie jeder Mensch kenne ich mich nur in einigen Spezialgebieten gut aus: in Teilen der Mathematik, der Computerwissenschaften, gewisser Aspekte Nordamerikas usw.

Jedes Mal, wenn ich einen detaillierten Bericht in einer Zeitung oder Zeitschrift zu einem dieser Themen lese (auch wenn ich selbst interviewt wurde oder Material zur Verfügung stellte), stelle ich fest, dass der Bericht gravierende Fehler enthält; Fehler, die nur Fachleuten auffallen, Laien (auch gebildeten Laien) wohl kaum.

Ich muss daraus schließen, dass alle Berichterstattungen zu komplexeren Themen solche Fehler enthalten, mir nur die meisten nicht bewusst werden, weil ich vom entsprechenden Gegenstand zu wenig verstehe. In diesem Sinne bin ich überzeugt, dass wir in den Printmedien andauernd falsch informiert werden, wobei es bei anderen Medien (zum Beispiel Radio oder Fernsehen) sicher nicht viel besser ist.

Ich halte es für notwendig, dass wir darüber nachdenken, wie wir diese Situation verbessern können. Als Grundübel sehe ich an, dass Journalisten sich befugt fühlen (ich tue es ja in diesem Buch auch!), über komplexe Dinge zu schreiben, obwohl sie nur mäßig gründlich recherchiert haben bzw. obwohl diese Dinge so komplex sind, dass sich kein Nichtfachmann in vertretbarer Zeit tief genug einarbeiten kann. Vielleicht wäre es sinnvoll, in Zeitungen und Zeitschriften nur solche Artikel abzudrucken, die von zwei Fachleuten verifiziert wurden, und diese Tatsache auch beim Abdruck zu vermerken!

Ein Artikel in Biochemie müsste nach diesen Spielregeln also nicht nur einen Verfasser haben (einen Journalisten, der als Autor zitiert wird), sondern noch einen Zusatz der Art: Verifiziert von Soundso und Soundso, wobei die zitierten Fachleute mit ihrem Qualifikationsnachweis (etwa »Chef des Forschungslabors bei …«, »Institutsvorstand des …«) angeführt werden.

Wie oft habe ich in der Vergangenheit ein Interview gegeben und gebeten, mir doch den Beitrag vor dem Druck vorzulegen, um ihn notfalls korrigieren zu können! Die Bitte wurde eigentlich immer abgeschlagen und als unerhörter Versuch gesehen, die journalistische Freiheit einzuschränken. Die Problematik ergibt sich natürlich daraus, dass der Journalist mit Änderungsvorschlägen des Experten vielleicht nicht einverstanden ist, weil zum Beispiel die »falsche«, aber plakativ-wirksame Darstellung einer richtigen, aber langweiligen oder unverständlicheren Formulierung trotz ihrer Fehler vorgezogen wird. In Situationen, wo sich Journalist und Experten, die die Verifizierung durchführen, nicht einigen können, wäre ein Ausweg, die journalistische Version abzudrucken mit dem Zusatz: »Verifizierung vom Experten Soundso abgelehnt. Seine Stellungnahme lautet: …«

Welche Zeitung oder Zeitschrift hat den Mut, alle Berichte, die nicht brandaktuell sein müssen und die nicht echt objektivierbar sind (wie Wahlergebnisse oder die Lottozahlen), einem Verifizierungsprozess wie beschrieben zu unterziehen?

Ich denke, dass damit der Glaube an das Gelesene wieder wachsen würde. Die allgemeine Verunsicherung, die dazu führt, dass man fast nichts mehr glaubt, was ungewöhnlich klingt, könnte damit hoffentlich etwas reduziert werden. Einige Beispiele mögen belegen, was ich meine:

Unlängst las ich in einer Zeitung, dass ein Arzt behauptet, der Zusammenhang zwischen Cholesteringehalt im Blut und Herzinfarktrate sei reine Erfindung, kohlehydratreiche Nahrung, wie oft propagiert, sei ein Unsinn. Die Argumente klangen neu, interessant und originell. Wie gerne hätte ich eine Verifizierung bzw. Gegenstellungnahme eines anderen Arztes und eines Diätfachmannes gelesen!

Ähnlich geht es doch jedem von uns (der nicht einschlägiger Fachmann ist), wenn er von einer neuartigen Energiegewinnungsform liest, von den eigentümlichen Angewohnheiten der Menschen am Ort Soundso, von der neuesten Theorie über die Entwicklung des Menschen aus dem Affen usw. usw.

Wieder aus meiner Sicht: Wie oft habe ich einen Beitrag über eine »Computerneuheit« gelesen, die nur für den Journalisten eine Neuheit war, in Wahrheit aber eine schon lange auf dem Markt befindliche und jedem Fachmann bekannte Entwicklung!

Ich denke, dass diese und Hunderte ähnliche Situationen deutlich belegen, dass Berichterstattungen, wenn man sie nur den Journalisten überlässt, nicht vernünftig funktionieren und sich ein Verifizierungsprozess als Markenzeichen für Qualitätsberichtserstattung durchsetzen sollte.

5.7 In Airtsua


Auf meinen Reisen habe ich in der Vergangenheit schon viele exotische Essgewohnheiten kennen gelernt. Ein Aufenthalt im international wenig bekannten Airtsua stellte für mich aber doch einen so einmaligen Höhepunkt dar, dass ich ein bisschen darüber berichten will. Schon das Frühstück ist reichlich ungewöhnlich.

Als Hauptgetränk konsumiert man am Morgen eine schwarze, bittere rauschgiftartige Suppe, die auf sonderbare Weise zubereitet wird. Die Eeffak-Frucht wird fast bis zur Unkenntlichkeit verkohlt, zerstampft und dann gekocht; nun werden die Reste des Eeffak-Staubes abgesondert. Nur die schwarze Brühe wird weiter verwendet und als Getränk gereicht. Freilich trinken selbst die meisten Einheimischen aus Airtsua die Eeffak-Suppe nicht pur, sondern verdünnen sie häufig mit Hclim, einer eigenartigen weißen Flüssigkeit, die man durch das Quetschen gewisser Tiere gewinnen kann. Häufig wird eine Huk verwendet, aber auch Negeiz und Efahcs werden manchmal herangezogen. Übrigens würzt man die Eeffak-Suppe manchmal mit einem weißen Granulat, lokal Rekcuz genannt, das aus sonderbaren kegelförmigen Früchten, die im Boden wachsen, den Nebür, durch einen komplexen Prozess (»Rekcuz-Gnureiniffar«) gewonnen wird.

Nicht nur die Frühstückssuppe ist in Airtsua ungewöhnlich. Auch das Essen mutet fremd an. Durch einen Verfaulungsprozess wird aus Hclim eine seltsame gelbliche, eher übel riechende Masse, Esäk genannt, hergestellt, die zum Beispiel mit Trob-Fladen gegessen wird. Ähnliche Fladen bestreicht man häufig auch mit Ginoh, einem Sekret der Insektenart Eneib. Dies klingt (jedenfalls für Außenstehende) besonders gefährlich, da dieselben Insekten auch ein unangenehmes Gift absondern können.

Für mich aber am meisten abstoßend ist die in Airtsua gängige Sitte, die nur halb gekochten Embryos (Reie genannt) hauptsächlich der Renhüh zu essen, wobei man häufig einen gemahlenen Zlas-Stein (!!) zum Würzen verwendet.

… Und wer noch nicht mitgekriegt hat, worum es in dieser Geschichte geht, soll sie nochmals lesen, aber alle »fremdländischen« Wörter von hinten nach vorn. Die »Moral« von der Geschicht: Auch alltägliche Dinge klingen (und sind) sonderbar, wenn man sie nur von einem bestimmten Standpunkt aus betrachtet. Hüten wir uns also davor, ungewöhnliche Dinge vorschnell zu verurteilen, und hüten wir uns davor, Gewohnheiten, nur weil es sich um solche handelt, als »natürlich«, »gut« oder sonst irgendwie irrational-emotional belegt zu beschreiben! Niek Ratnemmok!



5.8 Der Kuss


In der Faschingszeit, wo man sich vielleicht ein bisschen schneller als sonst einen Kuss zuhaucht (oder nicht nur zuhaucht), muss einmal daran erinnert werden, dass der Ausdruck »Kuss« recht jung ist; er geht nämlich zurück auf die Dissertation von Wilhelm Küß (1832, Heidelberg), der für die vorher üblichen Ausdrücke (wie Busserl, Schmatzer u. a.) erstmals den Überbegriff Küß einführte. Aus diesem Wort entwickelte sich im Deutschen der Kuss:

Der Umlaut »ü« blieb nur im Zeitwort »küssen« und im Plural »Küsse« erhalten, während zum Beispiel im Englischen mit »kiss«, »kisses«, »kissing« der ursprüngliche Wortlaut bis heute besser überlebte.

Die Thesen in der Dissertation von Küß sind in vielen Punkten anzweifelbar; sie sind aber amüsant genug, dass ich hier kurz auszugsweise über sie berichte (wobei ich notgedrungen die altertümlichen Formulierungen etwas modernisiere):

Küß definiert einen Kuss so:

»Ein Kuss erfolgt, wenn die Lippen oder Teile des Mundes einer Person einen Teil des Körpers einer anderen Person berühren.«

Bevor ich auf das Hauptwerk von Küß, seine Klassifikation der Küsse, eingehe, darf ich die Subtilität, aber auch die Schwächen obiger Definition nicht verschweigen. Da in der Definition von zwei verschiedenen Personen die Rede ist, kann man sich zum Beispiel nicht selbst küssen (etwa sich selbst einen Handkuss geben); diesen Aspekt hat Küß also berücksichtigt, genau wie er Küsse zwischen gleichgeschlechtlichen Personen, Zungenküsse usw. sehr geschickt in seiner Definition subsumiert.

Freilich hat die Definition auch große Schwächen, wie die Hauptkritiker (zum Beispiel Weber 1833, Francisto 1834, Malkter 1836 u. a.) nicht müde wurden aufzuzeigen:

1. Beißt ein Mensch einen anderen, so gilt das (nach Definition) als Kuss, argumentiert zum Beispiel Weber; Küß verneint dies, »weil ein Biss den Tatbestand der Berührung deutlich übersteigt«.

2. Francisto wieder meint, dass man vielleicht »das Abschlecken eines Körperteils einer anderen Person mit Küß gerade noch als Kuss bezeichnen kann, das Aussaugen des Giftes bei einem Schlangenbiss aber den Tatbestand Küssen wohl wahrlich nicht mehr erfüllt«. Er schlägt daher vor, die Definition durch die Erwähnung von »Zuneigung oder vorgetäuschter Zuneigung« zu erweitern. (Küß hat übrigens dazu nie Stellung bezogen. Er verliebte sich 1833 unsterblich in eine Kollegin und interessierte sich ab da offenbar mehr für die Praxis als die Theorie des Küssens.)

3. Nach der obigen Definition von Kuss ist weder der Kuss eines Tieres oder eines Kleidungsstückes (das zum Beispiel als Handschuh den Körper eines anderen Menschen bedeckt) als Kuss anzusehen; dies wurde in Hunderten (!) Veröffentlichungen immer wieder als »Fehler« der Definition angeprangert. Ich persönlich finde das aber eigentlich ganz akzeptabel. Berühmt-berüchtigt wurde Küß durch seine Klassifikation der Küsse, die ich (aus Umfangs- und Jugendschutzgründen) nur sehr verkürzt erläutere:

Zunächst gibt es zwei große Fallunterscheidungen:

1. Küsse zwischen Personen gleichen Geschlechts;

2. Küsse zwischen verschiedengeschlechtlichen Personen. Ich beschränke mich hier auf die zweite Kategorie, obwohl es interessant ist, die Differenzen in den beiden Kategorien, die Küß aufzeigt, zu studieren, doch sprengt das den Rahmen dieses Beitrags. Aber dass Küß den »politischen Kuss« à la Breschnew (linke Wange – rechte Wange – linke Wange zwischen Parteigenossen) nur in die erste Kategorie gibt und dort den Handkuss ausschließt, sind zwei typische Beispiele für den Unterschied der beiden Arten.

Nun also zu Kategorie 2, zu den verschiedengeschlechtlichen Küssen. Hier unterscheidet Küß zwischen:

2.1 Eigentlicher Kuss (Mund berührt Mund) und

2.2 Uneigentlicher Kuss (Mund berührt anderen Körperteil)

Bei 2.1 (Eigentlicher Kuss) definiert Küß Dutzende Unterkategorien und Unter-Unterkategorien (Lippenküsse, Zungenküsse, feuchte und trockene Varianten, unidirektional – der eine Partner will nicht so recht – und bidirektional – beide sind angetan – usw. usw.), sodass man die Dissertation von Küß wohl zu Recht manchmal die hohe Schule des Küssens genannt hat, ja Lippwig (1889) sogar vom »deutschen Kamasutra« gesprochen hat.

Ich finde die Varianten unter 2.2 (Uneigentlicher Kuss, d. h., der Mund berührt einen anderen Körperteil) besonders amüsant. Die Grobklassifizierung nach Küß ist diese:

2.2.1: Busserl

2.2.2: Erotische Küsse

2.2.3: Saugen (leicht!)

2.2.4: Beißen (zart!)

2.2.5: Schlecken (nur mit Zunge, lokal begrenzt!), wobei es in jeder Kategorie viele weitere Unterteilungen gibt, die ich nur am Beispiel 2.2.1 (Busserl) näher erläutern will.

Nach Küß unterscheidet man bei 2.2.1 (Busserl) zum Beispiel zwischen:

2.2.1.1: Das Freundschaftsbusserl (mit geschlossenen Lippen). Und – man höre und staune! – auch hier gibt es unerhört viele verschiedene Fälle wie »einwangig«, »zweiwangig«, »drei- oder mehrwangig« (in Finnland wird zwischen dem 20.12. und 25.2. ein Freundschaftsbusserl dreimal auf jede Wangenseite platziert; zumindest galt das zu den Zeiten von Küß), »stirnig« usw.

2.2.1.2: Der Schmatz (charakterisiert durch Feuchtigkeit und Geräuscherregung) … Ich erspare Ihnen die Details.

2.2.1.3: Das erotisierende Busserl: In diese Kategorie reiht Küß zum Beispiel ein den Handkuss (von Gegnern Küß’ wird dieser eher dem Bereich »Höflichkeitsbusserl« zugeordnet), den Kuss auf die Schulter oder das »flüchtige Busserl« auf zum Beispiel Oberarm oder Kleidausschnitt!

Interessant ist, dass nach der Definition von Küß ein »gehauchtes Busserl« nicht existiert (ein oft erwähnter Angriffspunkt auf seine Thesen!), dass er aber relativ künstlich auch Begriffe wie »Nebenbei-Busserl«, »Begeisterungs-Busserl«, »Ekstase-Busserl« usw. einführt.

Die Kategorisierung von Küß wurde von Psychologen immer wieder auch aus anderen Gründen angegriffen:

1. Küß berücksichtigt nicht, dass die Kussart situationsabhängig ist: »Ein feuchter Kuss nach dem Schwimmen im Meer darf doch nicht gleichgestellt werden mit einem feuchten Kuss in der Wüste«, meint Vorwinkler (1913) sehr bildhaft; er setzt fort: »Auch der Bekleidungszustand des Kussadressaten muss berücksichtigt werden: Ein Kuss auf die Nasenspitze ist sicher weniger spezifisch als ‚Nasenbusserl‘ einzustufen, wenn dies die einzige, zurzeit unbedeckte Körperstelle des Partners ist.«

2. Vor allem wird Küß vorgeworfen, dass er »Fließübergänge« (wenn zum Beispiel ein Lippenkuss in einen Zungenkuss übergeht) überhaupt nicht berücksichtigt.

3. Schließlich wird angemerkt, dass Küß das Zeitelement nicht berücksichtigt; zum Beispiel versucht Abermacher (1922) abzuschätzen, ob ein »dreiminütiger Lippenkuss als intensiver einzuschätzen ist als ein flüchtiger Zungenkuss oder umgekehrt«, und schlägt vor, dass Küsse, die länger als zwölf Minuten dauern, nicht mehr als solche zu bezeichnen sind. (Woher die zwölf Minuten kommen, konnte ich nicht feststellen; man beachte aber, dass nach diesem Vorschlag die Weltrekordversuche im Dauerküssen – Guinness Book of Worldrecords – hinfällig werden!)

Küß hat mit seiner Dissertation die eigentümlichsten Diskussionen ausgelöst. So wurde zum Beispiel untersucht, ob zwischen Küssen und Polstern (ja, Sie lesen richtig!) ein Zusammenhang besteht. Schließlich klingt das englische Wort »kissing« (küssen) sehr ähnlich wie das deutsche Wort »Kissen« (= Polster) und umgekehrt klingt die englische Übersetzung von Kissen, nämlich »cushion«, ähnlich wie »Kuss« – eine eigentümliche Symmetrie, über die immerhin mindestens drei sprachwissenschaftliche Dissertationen geschrieben wurden!

Eines steht fest: Das Thema Kuss gibt offenbar theoretisch einiges her. Persönlich ziehe ich aber gegebenenfalls die anwendungsnähere Forschung vor.