62
Die Weitergehenden Erinnerungen sind ein großer, tiefer Ozean. Er ist den Mitgliedern unseres Ordens zugänglich, aber nur zu bestimmten Bedingungen. Eine Schwester würde Schwierigkeiten heraufbeschwören, wenn sie versucht, die inneren Stimmen für ihre Zwecke zu benutzen. Das wäre, als wollte man das Meer zu seinem privaten Swimmingpool machen – was eine Unmöglichkeit ist, sogar für einen kurzen Augenblick.
Die Maxime der Bene Gesserit
Nachdem er die Proben in zwei Heighlinern deponiert hatte, war Graf Hasimir Fenring endlich wieder in seiner Wohnung auf Kaitain. Er rollte sich aus dem Bett und betrachtete die opulenten Gemächer.
Er fragte sich, wann er von den ersten Ergebnissen erfahren würde. Auf gar keinen Fall konnte er die Gilde fragen, also musste er bei seinen Erkundigungen sehr behutsam vorgehen.
Durch verschlafene Augen sah er die goldenen Filigranarbeiten an den Wänden und der Decke, die Reproduktionen antiker Gemälde und exotischen Chindo-Schnitzereien. Dieser Ort war wesentlich stimulierender als der trockene Wüstenplanet Arrakis, die schmutzige Industriewelt Ix oder der eintönige Raumhafenplanet Junction. Die einzige Schönheit, die den Palast von Kaitain übertraf, war das reizende Gesicht der hübschen Margot. Aber sie war bereits aufgestanden und gegangen.
Während seiner Rundreise hatte er immer wieder den Heighliner gewechselt und war nach Mitternacht erschöpft eingetroffen. Trotz der späten Stunde hatte Margot ihn mit ihren Fähigkeiten als Verführerin verwöhnt und ihn gleichzeitig erregt und entspannt. Dann war er befriedigt in ihren Armen eingeschlafen ...
Der Graf hatte seit drei Wochen keine Neuigkeiten der imperialen Politik erfahren, und er fragte sich, welche neuen Schnitzer sich Shaddam geleistet haben mochte. Fenring würde ein Privatgespräch mit seinem Jugendfreund vereinbaren müssen, um die Lage zu diskutieren. Die Geschichte mit dem Mordversuch durch den Gestaltwandler wollte er jedoch vorerst geheim halten. Der Gewürzminister beabsichtigte, sich dafür auf ganz persönliche Weise an Ajidica zu rächen, und er wollte jeden Augenblick des Racheplans genießen. Erst anschließend wollte er Shaddam davon erzählen, dann würden sie sich gemeinsam köstlich amüsieren.
Zuerst musste er jedoch in Erfahrung bringen, ob die Arbeit des Forschungsmeisters erfolgreich gewesen war. Alles hing vom Amal ab. Wenn die Tests bewiesen, dass Ajidicas Behauptungen nicht stimmten, würde Fenring keine Gnade walten lassen. Wenn das Amal jedoch wie versprochen wirkte, musste er sich über jeden Aspekt sachkundig machen, bevor er mit der Folter begann.
Zwei seiner Suspensor-Koffer lagen immer noch auf einer großen Kommode. Die Taschen hatte er bereits geöffnet. Er seufzte, streckte sich und verließ das Bett. Gähnend tappte er ins geräumige Bad, wo ihn die verwelkte Hausdienerin Mapes mit einer kaum merklichen Verbeugung begrüßte. Die Fremen-Frau trug ein weißes Hauskleid, das ihre gebräunten und vernarbten Arme freiließ. Fenring interessierte sich nicht sonderlich für ihre Persönlichkeit. Sie arbeitete gut und zuverlässig, auch wenn sie recht humorlos war.
Er zog seine Unterwäsche aus und ließ sie auf den Boden fallen. Mapes hob sie mit gerunzelter Stirn auf und warf sie in einen Wäscheschredder an der Wand. Er setzte wie gewohnt seine Schutzbrille auf und aktivierte mit einem gesprochenen Befehl die warmen Wasserstrahlen, die ihn emporhoben und von allen Seiten massierten. Auf Arrakis war ein solcher Luxus undenkbar, nicht einmal für den imperialen Gewürzminister. Er schloss die Augen. Es war unglaublich angenehm ...
Abrupt wurde seine Aufmerksamkeit geweckt, als eine Randwahrnehmung plötzlich an Bedeutung gewann. Er hatte seine Suspensor-Koffer in der vergangenen Nacht auf dem Boden abgestellt und wollte sie am Morgen auspacken. Jetzt lagen die Koffer geöffnet auf der Kommode.
In einem der Koffer hatte er eine Probe Amal versteckt.
Splitternackt und tropfnass eilte er ins Schlafzimmer, wo die Fremen-Haushälterin Kleidung und Toilettenartikel aus den Taschen nahm, um sie einzusortieren. »Machen Sie das später. Hmmm-hm. Ich werde Sie rufen, wenn ich Sie brauche.«
»Wie Sie wünschen.« Sie hatte eine raue Stimme, als hätten Sandstürme ihre Stimmbänder wund gerieben. Sie blickte missbilligend auf die Pfützen, die sich um ihn herum auf dem Boden bildeten, aber sie störte sich eher an der Verschwendung als an der Sudelei.
Dann musste Fenring feststellen, dass das Geheimfach im Koffer leer war. »Wo ist der Beutel, der sich an dieser Stelle befunden hat?«
»Ich habe keinen Beutel gesehen, Herr.«
Fieberhaft durchsuchte er die Taschen und warf alle Sachen auf den Boden. Bis ihm der Schweiß ausbrach.
In diesem Moment trat Margot mit einem Frühstückstablett herein. Sie betrachtete seine nackte Gestalt mit erhobenen Augenbrauen und einem anerkennenden Lächeln. »Guten Morgen, Liebster. Oder sollte ich dir bereits einen Guten Tag wünschen?« Sie warf einen Blick auf das Chronometer an der Wand. »Nein, du hast noch ein paar Minuten.« Sie trug ein schimmerndes Kleid aus Paraseide mit blassgelben Eterna-Rosen. Die winzigen in den Stoff eingenähten Blüten blieben am Leben und gaben einen feinen süßen Duft ab.
»Hast du einen grünen Beutel aus meinem Koffer genommen?« Als ausgebildete Bene Gesserit hätte Margot das Geheimfach zweifellos bemerkt.
»Ich dachte, du hättest es für mich mitgebracht, Schatz.« Lächelnd stellte sie das Frühstück auf einem kleinen Tisch ab.
»Nun, hmmm, diesmal war es eine anstrengende Reise, und ich ...«
Margot zog einen Schmollmund. Sie hatte ein winziges Symbol auf dem Beutel bemerkt, das sie als den Buchstaben »A« des Tleilaxu-Alphabets erkannt hatte.
»Was hast du damit gemacht, hmmmm?« Trotz Ajidicas Versicherungen war Fenring keineswegs restlos überzeugt, dass die synthetische Melange harmlos oder ungiftig war. Er wollte lieber andere Menschen als Testperson benutzen und nicht sich selbst oder seine Frau.
»Deswegen brauchst du dir im Augenblick keine Sorgen zu machen, Liebster.« Margots graugrüne Augen tanzten verführerisch. Sie goss Gewürzkaffee in die Tassen. »Möchtest du frühstücken, bevor oder nachdem wir dort weitergemacht haben, wo wir gestern Nacht aufhörten?«
Sie tat völlig unbesorgt, obwohl Margot mühelos jedes Anzeichen der Unruhe an ihm erkennen musste. Fenring griff sich einen schwarzen Freizeitanzug aus einem Wandschrank. »Sag mir einfach, wohin du den Beutel gebracht hast, dann hole ich ihn selbst.«
Als er wieder aus dem Schrank kam, sah er, wie Margot eine Kaffeetasse an die Lippen setzte.
Gewürzkaffee ... der versteckte Beutel ... das Amal!
»Halt!« Er stürzte zu ihr und schlug ihr die Tasse aus der Hand. Heiße Flüssigkeit ergoss sich über den handgewebten Teppich und hinterließ große Flecken auf ihrem gelben Kleid. Die lebenden Eterna-Rosen zuckten zusammen.
»Jetzt hast du all das schöne Gewürz verschüttet!«, sagte sie verdutzt, hatte sich aber schnell wieder gefasst.
»Du hast doch bestimmt nicht alles in den Kaffee getan, hmmm? Wo ist der Rest des Gewürzes, das du gefunden hast?« Er versuchte sich zu beruhigen, aber er wusste, dass er bereits zu viel offenbart hatte.
»In unserer Küche.« Sie musterte ihn mit der Eindringlichkeit einer Bene Gesserit. »Warum benimmst du dich so seltsam, Liebster?«
Ohne eine Erklärung goss er den Rest des Gewürzkaffees in die Kanne zurück und eilte damit aus dem Zimmer.
* * *
Mit grimmiger Miene stand Shaddam am Eingang zu Aniruls Gemach, die Arme über der Brust verschränkt, in Begleitung eines Suk-Arztes mit Pferdeschwanz. Die Wahrsagerin Mohiam weigerte sich, ihnen den Zutritt zum Schlafzimmer zu gestatten. »Bestimmte Krankheiten lassen sich nur von Ärztinnen der Bene Gesserit behandeln, Herr.«
Der Suk mit den hängenden Schultern giftete Mohiam an: »Bilden Sie sich nicht ein, die Schwesternschaft wüsste mehr als ein Absolvent des Inneren Kreises der Suk-Schule!« Sein Gesicht war gerötet.
Shaddam runzelte verärgert die Stirn. »Das ergibt keinen Sinn. Nachdem sich meine Frau im Zoo so merkwürdig verhalten hat, benötigt sie eine spezielle Behandlung.« Er gab vor, sich Sorgen um sie zu machen, obwohl es ihn viel mehr interessierte, was der Oberbashar zu melden hatte, wenn er demnächst mit der Imperialen Flotte von Korona zurückkehrte. Es würde ein aufregender Bericht werden!
Mohiam ließ sich nicht beirren. »Nur eine qualifizierte Medizinschwester kann ihr helfen, Herr.« Ihre Stimme nahm einen sanfteren Unterton an. »Und die Schwesternschaft leistet derartige Dienste, ohne sie dem Haus Corrino in Rechnung zu stellen.«
Der Suk-Arzt wollte aufbrausen, aber der Imperator brachte ihn mit einem strengen Blick zum Schweigen. Die Dienste der Suks waren sehr kostspielig, und so viel wollte Shaddam eigentlich nicht für Anirul ausgeben. »Vielleicht ist es das Beste, wenn meine liebe Frau von ihresgleichen behandelt wird.«
Hinter den hohen Türen lag Lady Anirul im unruhigen Schlaf. Gelegentlich stieß sie einen Schwall von bedeutungslosen Worten und seltsamen Lauten aus. Obwohl er es niemandem eingestehen würde, empfand Shaddam eine heimliche Zufriedenheit, dass sie möglicherweise dem Wahnsinn verfiel.
* * *
Die Medizinschwester Aver Yohsa war eine kleine, rundliche Frau in schwarzem Gewand. Sie hatte nur eine kleine Schultertasche dabei, als sie ins Schlafzimmer stürzte, ohne jede Rücksicht auf die Sardaukar-Wachen und die Hofetikette.
Lady Margot Fenring verschloss die Türen des Zimmers, um Störungen zu vermeiden, und sah Mohiam an, die mit einem Nicken antwortete. Mit schnellen, sicheren Bewegungen gab Yohsa der Kwisatz-Mutter eine Injektion in den Halsansatz. »Sie wird von den inneren Stimmen bestürmt. Damit werden die Weitergehenden Erinnerungen gedämpft, sodass sie Ruhe findet.«
Yohsa stand neben dem Bett und schüttelte den Kopf. Sie zog ihre Schlussfolgerungen ohne die Spur eines Zweifels. »Anirul könnte zu tief in die vergangenen Leben eingedrungen sein, ohne sich von einer Schwester führen und unterstützen zu lassen. Ich habe solche Fälle schon ein paarmal erlebt, und sie können sehr dramatisch sein. Es ist eine Art von Besessenheit.«
»Wird sie sich erholen?«, fragte Mohiam. »Anirul ist eine Bene Gesserit von Verborgenem Rang, und zur Zeit hat sie wichtige Aufgaben zu erfüllen.«
Yohsa nahm kein Blatt vor den Mund. »Ich kann nichts zu Rängen oder Aufgaben sagen. In medizinischen Angelegenheiten, insbesondere bei Problemen mit komplexen geistigen Funktionen, gibt es keine einfachen Antworten. Sie hat einen Anfall erlitten, und wenn sie weiterhin unter dem Einfluss der Stimmen steht, hat das ... ernsthafte Auswirkungen auf ihren Zustand.«
»Seht, wie friedlich sie jetzt schläft«, sagte Margot mit sanfter Stimme. »Wir sollten sie allein lassen. Sie soll in Ruhe träumen.«
* * *
Die Schlafende träumte von der Wüste. Ein einzelner Sandwurm floh über die Dünen. Er versuchte einem gnadenlosen Verfolger zu entkommen, der so lautlos und unerbittlich wie der Tod war. Obwohl der Wurm riesig war, wirkte er im unermesslichen Ozean aus Sand winzig und sehr verletzlich gegenüber Mächten, die viel größer waren als er.
Im Traum spürte Anirul den glühend heißen Sand auf ihrer wunden Haut. Sie wälzte sich im Bett hin und her und warf die seidene Bettdecke ab. Sie sehnte sich nach der Kühle einer schattigen Oase.
Unvermittelt fand sie sich im Geist des fremdartigen Wesens wieder. Ihre Gedanken bewegten sich über nichtmenschliche Nervenbahnen und Synapsen. Sie war der Wurm. Sie spürte die Reibung der Silikate unter ihrem segmentierten Körper und ein heißes Feuer in ihrem Bauch, während sie ihren verzweifelten Fluchtversuch unternahm.
Der unbekannte Verfolger kam näher. Anirul wollte in die sicheren Tiefen des Sandes abtauchen, aber sie war nicht dazu in der Lage. In ihrem Albtraum war kein Laut zu hören, nicht einmal die Geräusche ihrer eigenen Bewegungen. Aus ihrer langen, mit Kristallzähnen besetzten Kehle drang ein stummer Schrei.
Warum fliehe ich? Wovor habe ich Angst?
Plötzlich setzte sie sich auf. In ihren geröteten Augen stand ein abgrundtiefer Schrecken. Sie war auf den kalten Fußboden gestürzt. Ihr Körper war aufgeschürft und in Schweiß gebadet. Die geheimnisvolle Katastrophe war immer noch da und näherte sich, aber sie hatte keine Ahnung, worum es sich handelte.