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Der menschliche Körper ist ein Lagerhaus voller Relikte aus der Vergangenheit – vom Blinddarm über die Thymusdrüse bis zu den Kiemenanlagen des Embryos. Doch der unbewusste Geist ist in dieser Hinsicht viel interessanter. Er hat sich im Verlauf von Jahrmillionen entwickelt und repräsentiert ein historisches Muster synaptischer Verbindungen, von denen manche in der Gegenwart gar keinen Nutzen mehr zu besitzen scheinen. Es ist schwierig, all diese Spuren zu finden.
Aus den Berichten eines geheimen Bene-Gesserit-Symposiums über die Weitergehenden Erinnerungen
Am späten Abend, als die Polarlichter hell strahlten, betrat die schlaflose Anirul die schlichten, kühlen Räume, die Lobia, die Wahrsagerin des Imperators, bewohnt hatte. Fast zwei Monate waren seit dem Tod der alten Frau vergangen. In ihrer Wohnung war es leblos und still, wie in einer Grabkammer.
Obwohl Lobia in die Weitergehenden Erinnerungen eingegangen sein musste, hatte Anirul bislang keine Spur des Geistes der Wahrsagerin entdeckt. Sie fühlte sich von ihrer anstrengenden Suche erschöpft, aber irgendetwas trieb sie dazu, nicht aufzugeben.
Anirul brauchte eine vertraute Freundin, und sie wagte es nicht, mit einem anderen Menschen zu sprechen – auf gar keinen Fall mit Jessica, die nichts von ihrer Bestimmung wusste. Sie hatte noch ihre Töchter, und sie war stolz auf Irulans Intelligenz und Talente, doch sie wollte das Mädchen nicht mit diesem Wissen belasten. Irulan war noch nicht soweit. Nein, das Kwisatz-Haderach-Zuchtprogramm war viel zu geheim.
Lobia wäre genau die Richtige – wenn sie sie nur im Chor ihrer inneren Stimmen wiederfinden könnte.
Wo bist du, meine alte Freundin? Muss ich laut rufen und alle anderen in mir aufwecken? Sie fürchtete sich vor einem solchen Schritt, aber vielleicht wäre er das Risiko wert. Lobia, sprich mit mir!
Leere Kisten waren vor einer Wand des ungeheizten Zimmers gestapelt, doch Anirul hatte sich noch nicht dazu aufraffen können, die wenigen persönlichen Sachen der Wahrsagerin einzupacken und nach Wallach IX zurückzuschicken. Da Gaius Helen Mohiam eine andere Wohnung vorgezogen hatte, konnten diese Räume noch jahrelang leerstehen, bevor irgendjemand in dem weitläufigen Palast etwas davon bemerkte.
Anirul ging durch die düsteren Zimmer und atmete die kalte Luft ein, als würde sie hoffen, auf diese Weise Geister aufzuspüren. Dann setzte sie sich an einen kleinen Sekretär und aktivierte ihr sensorisch-holographisches Tagebuch im Soosteinring an ihrer Hand. Das Tagebuch schwebte in der Luft und war nur für sie sichtbar. Die kontemplative Atmosphäre dieses Ortes erschien ihr geeignet, Ordnung in ihre persönlichen Gedanken zu bringen.
Sie war überzeugt, dass Lobia es genauso sehen würde. »Nicht wahr, meine alte Freundin?« Sie erschrak über den Klang ihrer eigenen Stimme und verstummte sofort. Es erstaunte sie, dass sie neuerdings zu Selbstgesprächen neigte.
Das virtuelle Tagebuch lag aufgeschlagen vor ihr und wartete auf weitere Worte. Anirul beruhigte sich, öffnete ihren Geist und setzte Prana-Bindu-Techniken ein, um ihre Gedanken zu stimulieren. Sie stieß einen langsamen Atemzug aus, der in der kühlen Luft zu einem kaum sichtbaren Nebel kondensierte.
Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken. Sie erzitterte und beeinflusste ihren Metabolismus, bis sie die Kälte nicht mehr spürte. Vier schmucklose Leuchtgloben nahe der Decke wurden dunkler und wieder heller, als würde unsichtbare Energie durch den Raum fließen. Sie schloss die Augen.
Das Zimmer roch immer noch nach Lobia. Und ihre geistige Energie war ebenfalls noch vorhanden.
Anirul nahm eine unscheinbar aussehende Schreibfeder aus einem Tintenfass auf dem Tisch. Sie hielt sie fest zwischen beiden Händen und besann sich. Lobia hatte diese Feder häufig benutzt, wenn sie codierte Botschaften an die Mütterschule geschickt hatte, wo sie jahrelang als Ausbilderin tätig gewesen war. Darauf befanden sich die Fingerabdrücke der alten Frau sowie abgestorbene Hautzellen und Körperöle.
Die Schreibfeder war jedoch zu primitiv, um damit etwas im holographischen Tagebuch zu notieren. Stattdessen rief Anirul einen Sensorschreiber auf und hielt ihn über die immateriellen Seiten.
In der nächtlichen Stille, an diesem Ort, wo Lobia einen großen Teil ihres Lebens verbracht hatte, wollte Anirul über ihre Freundschaft zur bemerkenswerten Wahrsagerin schreiben und die Weisheit dokumentieren, die sie von ihr gelernt hatte. Mit schnellen Strichen notierte sie ein codiertes Datum auf der papierlosen Seite.
Dann hielt ihre Hand inne. Ihre aufgewühlten Gedanken trübten sich und blockierten den Fluss der Worte, die sie hatte schreiben wollen. Sie kam sich wie ein Kind in der Mütterschule vor, das eine schwierige Aufgabe bekommen hatte, aber sich nicht konzentrieren konnte, weil die Lehrerin sie anstarrte und jede ihrer Bewegungen prüfte.
Die Leuchtgloben wurden erneut schwächer, als ob Schatten vor ihnen vorbeizögen. Doch als Anirul sich abrupt umdrehte, sah sie nichts.
Sie sammelte ihren müden Geist, wandte sich wieder dem Tagebuch zu und begann mit der Arbeit, die sie sich vorgenommen hatte. Sie schaffte nur zwei Sätze, bevor ihre Gedanken erneut wie Glockendrachen im Wind abtrieben.
Ein beinahe lautloses geisterhaftes Flüstern erfüllte die Gemächer.
Anirul konnte sich vorstellen, wie Lobia neben ihr saß, sie an ihrer Weisheit teilhaben ließ, sie beriet. In einem ihrer vielen Gespräche hatte die alte Frau ihr erklärt, wie sie zur Wahrsagerin erwählt worden war, wie sie mit ihrer Fähigkeit über einhundert andere Schwestern übertroffen hatte. Doch im Grunde ihres Herzens hätte Lobia es vorgezogen, an der Mütterschule zu bleiben und sich um die Obstgärten zu kümmern. Für diese Aufgabe war nun die sehr begabte Ehrwürdige Mutter Thora verantwortlich. Ungeachtet ihrer persönlichen Wünsche erfüllte eine Bene Gesserit die Aufgaben, die ihr zugeteilt wurden. Wie zum Beispiel den Imperator zu heiraten.
Lobia hatte trotz ihrer Arbeit immer die Zeit gefunden, den im Palast stationierten Schwestern und sogar Anirul eindringliche Lektionen zu erteilen. Dabei hatte die mürrische Frau mahnend ihren dürren Zeigefinger erhoben und jeden wichtigen Punkt betont. Mit geschlossenen Augen erinnerte sich Anirul an Lobias Lachen, eine Mischung aus Kichern und Schnaufen, das sie in den seltsamsten Momenten von sich gegeben hatte.
Zu Beginn ihrer Beziehung waren die zwei Frauen sich nicht besonders nahe gewesen und hatten sogar leichte Meinungsverschiedenheiten ausgetragen, wie viel Zeit sie mit dem Imperator verbringen durften. Für Anirul war es jedes Mal beunruhigend und frustrierend gewesen, wenn sie ihren Gatten und Lobia im ausgiebigen Privatgespräch beobachtet hatte. Lobia hatte es gespürt und mit einem runzligen Lächeln zu ihr gesagt: »Shaddam liebt die Zügel seiner Macht viel mehr, als er jemals eine Frau lieben könnte. Er interessiert sich nicht für mich, sondern nur für das, was ich ihm zu sagen habe. Der Imperator sieht überall Feinde und will wissen, ob sie ihn anlügen, ob sie planen, ihn zu stürzen, ob sie ihm sein Vermögen oder gar sein Leben rauben wollen.«
Als Anirul ihm im Verlauf der Jahre keinen männlichen Erben gebar, hatte sich Shaddam noch mehr von ihr zurückgezogen. Wahrscheinlich würde er sich ihrer früher oder später entledigen, um sich eine andere Frau zu nehmen, die ihre Pflicht erfüllte und ihm einen Sohn schenkte. Sein Vater Elrood war häufig genug auf diese Weise verfahren.
Doch ohne dass Shaddam davon wusste, hatte Anirul ihrem Mann bereits ein nicht nachweisbares Enzym verabreicht – während einer ihrer seltenen sexuellen Begegnungen. Nach fünf Töchtern würde er nun kein weiteres Kind mehr zeugen können. Der Imperator war unfruchtbar geworden, nachdem er und Anirul die Aufgabe erfüllt hatten, die die Schwesternschaft mit ihnen verfolgte. Shaddam hatte mit genügend anderen Frauen verkehrt, um wissen zu müssen, was mit ihm los war, aber der Mann würde niemals auf den Gedanken kommen, dass es seine eigene Schuld war, solange er sie auf andere schieben konnte ...
Während ihr all diese Dinge durch den Geist gingen, öffnete Anirul die Augen und notierte sie hastig mit dem virtuellen Stift. Doch dann hielt sie erneut inne, als sie etwas zu hören glaubte. Jemand, der sich draußen im Korridor unterhielt? Verstohlene Schritte? Sie horchte angestrengt, konnte aber nichts mehr wahrnehmen.
Sie drehte den Sensorschreiber zwischen den Fingern ... und hörte wieder Geräusche. Diesmal waren sie lauter, als würden sich weitere Personen im Zimmer befinden. Das Geflüster steigerte sich zu unverständlichen Satzfragmenten und verhallte wieder. Nervös verließ Anirul den Schreibtisch und durchsuchte die leeren Schränke, die Truhen, jede Stelle, wo sich jemand verbergen konnte.
Wieder nichts.
Die Stimmen wurden lauter, und erschrocken bemerkte sie nun, dass gleichzeitig die Unruhe der Weitergehenden Erinnerungen zunahm. Sie hatte noch nie zuvor einen solchen Tumult erlebt und fragte sich, was ihn ausgelöst haben mochte. Ihre Suche? Die Unruhe ihrer besorgten Gedanken? Diesmal schienen die Stimmen gleichzeitig in ihr zu sein und sie von allen Seiten zu umgeben.
Der hallende Lärm verstärkte sich, als würde sie sich in einem Raum voller heftig diskutierender Schwestern befinden. Aber sie konnte niemanden sehen und nichts vom Gewirr der Gesprächsfetzen verstehen. Jede Stimme hatte etwas zu sagen, aber die Worte waren verwirrend und widersprüchlich.
Anirul überlegte, ob sie Lobias leere Wohnung verlassen sollte, entschied sich aber dagegen. Falls die Stimmen versuchten, Kontakt mit ihr aufzunehmen, ihr etwas Wichtiges mitzuteilen, musste sie erfahren, was es war. »Lobia? Bist du hier?«
Der Sturm aus Worten schien darauf zu reagieren und verschob sich wie eine geisterhafte Wolke. Die Stimmen veränderten ständig ihre Lautstärke, wie ein schlechter Komempfang, der durch statische Entladungen gestört wurde. Eine der vor langer Zeit gestorbenen Frauen schrie, um die anderen zu übertönen, aber Anirul verstand immer noch nichts. Sie schienen in unterschiedlichsten Sprachen den Namen des Kwisatz Haderach zu rufen.
Plötzlich verstummte der Lärm in ihrem Geist. In der unbehaglichen Stille schmerzte ihr der Kopf, und ihr Magen verkrampfte sich.
Sie starrte auf das sensorisch-holographische Tagebuch, das immer noch über dem Schreibtisch schwebte. Auch als sie das letzte Mal darin geschrieben hatte, war es zum Aufruhr in ihren Weitergehenden Erinnerungen gekommen. Damals war sie tief in das mentale Reich vorgedrungen, bis ein wirbelnder Nebel sie aufgehalten hatte.
Die zwei Erfahrungen waren sehr unterschiedlich gewesen, aber sie hatte aus jeder die gleiche Botschaft gewonnen. Mit dem chaotischen Chor ihrer weiblichen Vorfahren stimmte etwas nicht. Diesmal waren die unverständlichen Stimmen noch verwirrender gewesen.
Falls es ihr nicht gelang, den Grund für diese Unruhe herauszufinden, war ihr Leben – oder sogar das Kwisatz-Haderach-Programm, das der Sinn ihrer Existenz war – möglicherweise in großer Gefahr.