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Ob wir sie nun sehen oder nicht – überall gibt es Netze, die unser individuelles und kollektives Leben umschließen. Manchmal ist es nötig, sie zu ignorieren, damit wir nicht dem Wahnsinn verfallen.
Duncan Idaho, Eintrag ins Schiffslogbuch
Gestaltwandler an Bord!
Mit der kleinen Alia und dem zwölfjährigen Leto kam sich Jessica in ihrem Quartier fast wieder wie eine Mutter vor – und das nach so vielen Jahrhunderten! Die drei hatten eine gemeinsame Vergangenheit und Abstammung, aber sie teilten keine Erinnerungen und Erfahrungen. Noch nicht. Für Jessica war es, als würden sie wie Schauspieler ihren Text auswendig lernen und Rollen spielen, um die Personen zu werden, die sie angeblich sein sollten. Ihr Körper war erst siebzehn, aber sie fühlte sich schon wesentlich älter, als sie sich um die zwei jüngeren Kinder kümmerte.
»Was ist ein Gestaltwandler?«, fragte die dreijährige Alia und spielte mit einem scharfen Messer, das sie ständig bei sich trug. Seit das Mädchen laufen konnte, hatte es eine große Faszination für Waffen an den Tag gelegt, und Alia fragte häufig um Erlaubnis, damit üben zu dürfen, statt sich mit angemessenerem Spielzeug zu beschäftigen. »Kommen sie, um uns zu holen?«
»Sie sind schon im Schiff«, sagte Leto, der immer noch unter Schock stand. Er konnte nicht fassen, dass sein Freund Thufir ein Gestaltwandler gewesen war und er selbst nichts geahnt hatte. »Deswegen wurden wir alle überprüft.«
»Bislang sind keine weiteren gefunden worden«, sagte Jessica. Thufir war im selben Jahr wie sie dekantiert worden. Im Kinderhort war sie zusammen mit dem Ghola des Kriegermentaten aufgewachsen, und sie hatte nie eine Veränderung seiner Persönlichkeit bemerkt. Es schien unmöglich zu sein, dass Thufir von Anfang an ein Gestaltwandler gewesen war.
Der echte Hawat, Meister der Assassinen und früherer Waffenmeister des Hauses Atreides, war ein Veteran zahlreicher erfolgreicher Feldzüge gewesen, genauso wie Bashar Miles Teg, der drei Generationen des Hauses Atreides gedient hatte. Kein Wunder, dass Sheeana und die Bene Gesserit ihn als unverzichtbaren Verbündeten betrachtet hatten. Deshalb hatten sie ihn zurückholen wollen, und nun war klar, warum ihre Versuche, sein Gedächtnis zu aktivieren, keinen Erfolg gezeigt hatten. Thufir war gar nicht Thufir – er war es vielleicht nie gewesen.
Sofern keine sauberen Zellen gefunden wurden, aus denen ein neuer Ghola herangezüchtet werden konnte, würden die Menschen an Bord der Ithaka niemals Zugang zu den Fähigkeiten Thufirs als Mentat und als Taktiker erhalten. Jessica erkannte, dass das Ghola-Projekt nach der langen Zeit sehr wenig hervorgebracht hatte, das ihnen tatsächlich hilfreich war. Nur Yueh, Stilgar und Liet-Kynes waren erweckt worden, aber zwei von ihnen waren nicht mehr an Bord. Und Yueh, der zwar ein fähiger Suk-Arzt war, stellte nicht unbedingt einen großen Gewinn für sie dar.
Er hat meinen Herzog Leto getötet – schon wieder.
Angesichts der Bedrohung durch die Gestaltwandler, der vermissten Sprengsätze und der verschiedenen Sabotagefälle war der Bedarf an den Fähigkeiten der Gholas immer dringlicher geworden. Die noch übrigen unerweckten Ghola-Kinder mussten ganz besondere Eigenschaften haben. Jessica wusste, dass sie alle aus gutem Grund zurückgeholt worden waren. Jeder Einzelne. Paul, Chani und sie hatten das richtige Alter erreicht, und selbst Leto II. musste alt genug sein. Vorsichtige Maßnahmen konnten nicht genügen. Nicht mehr.
Sie seufzte. Wenn überhaupt, dann waren ihre historischen Fähigkeiten jetzt von größtem Nutzen. Ich muss mein Gedächtnis aktivieren!
Jessica konnte so viel Nützliches für das Nicht-Schiff tun, wenn sie nur die Gelegenheit dazu erhalten würde. Ohne ihr Originalleben kam sie sich lediglich wie der Schatten einer Persönlichkeit vor. In ihrem Quartier stand sie so plötzlich auf, dass Alia und Leto erschraken. »Ihr beiden müsst in eure Zimmer zurückkehren.« Ihre schroffe Stimme duldete keinen Widerspruch. »Ich habe etwas Wichtiges zu tun. Diese Bene Gesserit sind Feiglinge, obwohl es ihnen überhaupt nicht bewusst ist. Das muss ein Ende haben.«
In mancher Hinsicht war Jessica sehr ungestüm, während sie auch eine übermäßige Vorsicht an den Tag legen konnte. Aber Jessica kannte jemanden, der nicht davor zurückschrecken würde, ihr Schmerzen zuzufügen.
»Zu wem willst du gehen?«, fragte Leto.
»Zu Garimi.«
* * *
Die streng konservative Ehrwürdige Mutter musterte sie eine Weile mit versteinerter Miene, bis sie leicht lächelte. »Warum sollte ich das tun? Bist du dem Wahnsinn verfallen?«
»Es ist nur Pragmatismus.«
»Hast du eine ungefähre Vorstellung, wie schmerzhaft das sein wird?«
»Ich bin darauf vorbereitet.« Sie betrachtete Garimis dunkles, gelocktes Haar und ihre flachen, unattraktiven Züge. Jessica dagegen war das Ideal klassischer Schönheit. Die Bene Gesserit hatten sie entworfen, damit sie die Rolle der Verführerin spielen konnte, einer Zuchtmutter, deren Erscheinungsbild nach ihrem Tod jahrhundertelang immer wieder kopiert worden war. »Und ich weiß, Proctor Superior, dass Sie am besten geeignet sind, diese Art von Schmerzen zuzufügen.«
Garimi schien zwischen Belustigung und Unbehagen zu schwanken. »Ich habe mir immer neue Methoden vorgestellt, wie ich dich mit einer Messerklinge quälen könnte, Jessica. Ich habe oft darüber nachgedacht, wie viel Schaden deine Taten der alten Schwesternschaft zugefügt haben. Du hast unser ganzes Kwisatz-Haderach-Programm aus der Bahn geworfen und ein Monstrum geschaffen, das wir nicht mehr kontrollieren konnten. Als direkte Folge deiner Trotzhandlung mussten wir jahrtausendelang unter dem Tyrannen leiden. Welchen vernünftigen Grund sollte ich haben, dich wiedererwecken zu wollen? Du hast uns verraten.«
»Das sagen Sie.« Garimis Worte trafen sie wie geworfene Steine. Die Frau hatte Jessica jahrelang gequält, genauso wie den armen Leto II. Jessica kannte all die Vorwürfe und wusste, welche Meinung die konservative Fraktion der Bene Gesserit von ihr hatte. Aber sie hatte noch nie so tiefen Hass und Zorn erlebt, wie die Frau ihr nun entgegenbrachte. »Ihre Worte offenbaren sehr viel, Garimi. Die alte Schwesternschaft. Wo sind Sie mit Ihren Gedanken? Wir leben bereits in der Zukunft.«
»Damit kannst du nicht die schrecklichen Schmerzen abstreiten, die du zu verantworten hast.«
»Sie betonen immer wieder, dass ich diese Schuld tragen sollte. Aber wie soll ich das tun, wenn ich mich gar nicht an meine Taten erinnere? Reicht es Ihnen, wenn ich die Rolle des Sündenbocks übernehme, des Prügelknaben, der für alle eingebildeten Fehler der Vergangenheit büßen muss? Sheeana will, dass ich meine Erinnerungen zurückerhalte, damit ich uns helfen kann. Aber Sie, Garimi, sollten genauso sehr daran interessiert sein, mich zu erwecken. Geben Sie es zu – können Sie sich eine bessere Bene-Gesserit-Strafe vorstellen, als mich in den unverzeihlichen Dingen zu ertränken, die ich nach Ihren Worten der Schwesternschaft angetan habe? Erwecken Sie mich! Sorgen Sie dafür, dass auch ich selbst es sehe.«
Unvermittelt griff Garimi nach ihrem Handgelenk. Instinktiv versuchte sich Jessica loszureißen, doch es gelang ihr nicht. Der Gesichtsausdruck Garimis wurde hart. »Ich werde mit dir teilen. Ich gebe dir all meine Gedanken und Erinnerungen, damit du alles weißt.« Sie beugte sich näher heran. »Ich werde die hundert Generationen, die nach deinem Verbrechen lebten, in dein Gehirn laden, damit du das Ausmaß und die Konsequenzen deiner Taten erkennst.« Sie zog Jessica an sich heran.
»Das ist nicht möglich. Nur Ehrwürdige Mütter können teilen.« Jessica versuchte zurückzuweichen.
Garimis Augen waren wie Stahl. »Aber du bist eine Ehrwürdige Mutter – das heißt, du warst eine. Deshalb lebt eine in dir.« Sie legte eine Hand hinter Jessicas Kopf, packte ihr bronzefarbenes Haar und zog sie noch näher an sich heran. Sie senkte den Kopf und drückte ihre Stirn gegen Jessicas. »Ich kann es bewirken. Ich bin stark genug. Kannst du dir vorstellen, warum ich es tue? Vielleicht ist der Kummer groß genug, um dich zu lähmen.«
Jessica wehrte sich. »Oder es ... macht ... mich ... stärker.«
Sie hatte immer ihre Erinnerungen wiederhaben wollen, aber sie hatte nie darum gebeten, Garimis Erfahrungen zu übernehmen – oder die Leben jener zahlreichen Vorfahren, die während der Verfolgungen durch den Gottkaiser des Wüstenplaneten, der ihr Enkel gewesen war, gelebt hatten. All jene, die die Hungerjahre überstanden hatten, die ihre Abhängigkeit von der Melange überwunden hatten, die nicht mehr verfügbar gewesen war. Die Schrecken dieser Generationen hatten tiefe Narben in der Seele der Menschheit hinterlassen.
Das alles wollte Jessica nicht. Garimi lässt sich nicht davon abbringen, dass ich es ausgelöst habe.
Sie spürte etwas in ihrem Kopf und leistete Widerstand, aber Garimi war stärker und zwang sie, die entfesselten Erinnerungen anzunehmen. Es fühlte sich an, als würden Hämmer von innen gegen Jessicas Schädel schlagen, so stark, dass sie befürchtete, sie könnten den Knochen aufbrechen. In der Schwärze hörte sie ein Knacken und fragte sich, ob Garimi gewonnen hatte ...
* * *
Erschüttert blickte sich Jessica um – die echte Jessica, Konkubine des Herzogs Leto Atreides und Ehrwürdige Mutter der Bene Gesserit. Sie empfand ein Erstaunen, das sie nie für möglich gehalten hätte. Obwohl sie nur die Wände des Nicht-Schiffes sah, erinnerte sie sich daran, wie gut ihr Leben mit dem Herzog und ihrem Sohn Paul gewesen war. Sie erinnerte sich an den tiefblauen Himmel von Caladan, an die atemberaubenden Sonnenaufgänge auf Arrakis.
Am Ende hatte sie Garimi besiegt. Nun verließ sie das Quartier der Frau, schwankend und mit Wissen gesättigt. Die Flut der Erinnerungen war zugleich ein Segen und eine neue Belastung, denn sie musste nun ohne ihren geliebten Herzog Leto auskommen.
Die plötzliche Leere fühlte sich für sie an, als würde sie in einen endlosen Abgrund stürzen. Leto, mein Leto! Warum haben die Schwestern dich nicht zusammen mit mir zurückgeholt, wie sie es mit Paul und Chani getan haben? Und ich verfluche dich, Yueh, weil du ihn mir zum zweiten Mal genommen hast!
Sie verspürte eine tiefe Einsamkeit. Ihr Herz war ausgelaugt, und ihrem Geist blieben nur noch Erinnerungen und Wissen. Jessica war entschlossen, eine Möglichkeit zu finden, wie sie den Schwestern wieder von Nutzen sein konnte.
Sie kehrte in ihr Quartier zurück, wo Alia bereits auf sie wartete. Mit einer Intelligenz, die die einer normalen Dreijährigen weit überstieg, schaute das Mädchen sie mit ruhigem Ausdruck an und sagte: »Mutter, ich habe Dr. Yueh gesagt, dass du deine Erinnerungen wecken willst. Jetzt hat er noch mehr Angst vor dir. Du könntest ihn mit einem Blick töten. Ich habe ihn gejagt und ihm stellvertretend einen Tritt verpasst.«
Jessica drängte ihren tief verwurzelten Hass auf Yueh zurück. Auf den alten Yueh. »Das sollst du nicht tun. Vor allem nicht jetzt.« Der Verräter fürchtete sich zu Recht vor der Rückkehr ihrer Erinnerungen, obwohl sie von seinen Verbrechen gewusst und sie ihm verziehen hatte. Aber das habe ich nur mit dem Kopf und nicht mit dem Herzen getan. Während sie im Zimmer stand, trieben Jessicas wiedergewonnene Erinnerungen und Emotionen den Dolch immer tiefer hinein.
Sie erlebte eine Gefühlsaufwallung, die sie nicht zurückdrängen konnte, und drückte Alia impulsiv an sich. Dann blickte sie ihrer Tochter zum allerersten Mal in die Augen. »Ich bin jetzt wieder deine Mutter.«