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Jede intelligente Lebensform braucht einen Ort der äußersten Ruhe, wo der Geist ungestört in Erinnerungen schwelgen kann. Auch der Körper sehnt sich nach der Rückkehr an diesen Ort.
Erasmus, Kontemplationen
»Nachdem du jetzt schon über ein Jahr bei uns bist, wird es Zeit, dass ich dir mein Lieblingsplätzchen zeige, Paolo.« Der unabhängige Roboter winkte mit einem Metallarm, während seine majestätischen Gewänder ihn umwehten. »Und natürlich auch dir, Baron Harkonnen.«
Der Baron zog eine finstere Miene, und seine Stimme troff vor Sarkasmus. »Dein Lieblingsplätzchen? Ich bin überzeugt, dass wir entzückt sein werden, wenn wir zu Gesicht bekommen, was ein Roboter als sein Lieblingsplätzchen betrachtet!«
Während der Monate, die er und Paolo in Synchronia verbracht hatten, war ihm jede Ehrfurcht und Angst vor den Denkmaschinen abhandengekommen. Sie wirkten schwerfällig und bombastisch, sie waren voller Redundanzen, und es mangelte ihnen an Spontaneität. Da Omnius glaubte, dass er Paolo brauchte und damit auch den Baron, der ihn auf dem richtigen Kurs hielt, schienen die beiden vorläufig in Sicherheit zu sein. Trotzdem empfand der Baron das Bedürfnis, etwas Rückgrat zu zeigen und die Umstände zu seinen Gunsten auszunutzen.
Die Wände, die den Innenraum der inzwischen vertrauten Kathedrale umgaben, wurden plötzlich farbig, als hätten unsichtbare Maler im Zeitraffer gearbeitet. Statt blanker Metall- und Steinoberflächen waren nun verwaschene Grün- und Braunschattierungen zu sehen, die sich in höchst realistische Darstellungen von Bäumen und Vögeln verwandelten. Die erdrückende Decke öffnete sich zu einem weiten Himmel, und eigenartige elektronische Musik wurde gespielt. Ein Kiespfad aus funkelnden Steinchen führte durch den üppig grünen Garten, in dem in regelmäßigen Abständen gemütliche Sitzbänke aufgestellt waren. An der Seite erschien ein Lilienteich.
»Mein Kontemplationsgarten.« Erasmus zeigte sein künstliches Lächeln. »Dieser Ort gefällt mir sehr. Er ist für mich etwas ganz Besonderes.«
»Wenigstens stinken die Blumen nicht.« Paolo riss eine der farbenfrohen Chrysanthemen heraus, beschnupperte sie und warf sie neben dem Pfad auf den Boden. Nach einem Jahr intensiver Ausbildung hatte der Baron die Persönlichkeit des Jungen endlich in etwas verwandelt, worauf er stolz sein konnte.
»Das ist alles sehr hübsch«, sagte der Baron trocken. »Und absolut nutzlos.«
Sei vorsichtig, was du sagst, Großvater, warnte Alias Stimme in ihm. Nicht dass du uns gemeinsam ins Grab bringst. Wieder eine ihrer nervtötenden Tiraden.
»Bereitet dir irgendetwas Sorge, Baron?«, fragte Erasmus. »Das hier sollte ein Ort des Friedens und der Kontemplation sein.«
Jetzt siehst du, was du angerichtet hast! Verschwinde aus meinem Kopf!
Aber ich bin hier drinnen mit dir gefangen. Du kannst mich nicht loswerden. Ich habe dich schon einmal mit dem Gom Jabbar getötet, und ich könnte es wieder tun. Dazu wären nur ein paar sorgfältige Vorbereitungen nötig.
»Ich sehe, dass du häufig von beunruhigenden Gedanken heimgesucht wirst.« Erasmus kam näher. »Möchtest du, dass ich deinen Schädel öffne und einen Blick in dein Gehirn werfe? Ich könnte das Problem reparieren.«
Sei vorsichtig mit mir, Abscheulichkeit! Ich bin versucht, das Angebot einfach anzunehmen!
Er zwang sich zu einem Lächeln, als er dem autonomen Roboter antwortete. »Ich bin nur etwas ungeduldig in meinen Bemühungen, zu lernen, wie wir Omnius unterstützen können. Ihr führt nun schon seit einiger Zeit Krieg gegen die Menschheit, und wir waren über ein Jahr lang eure Gäste. Wann können wir das tun, weswegen ihr uns hergeholt habt?«
Paolo trat eine tiefe Furche in den Kiespfad. »Ja, Erasmus. Wann haben wir endlich etwas Spaß?«
»Schon sehr bald.« Der Roboter ließ sein Gewand herumwirbeln und führte seine Begleiter durch den Garten.
Der Junge hatte inzwischen seinen elften Geburtstag hinter sich und entwickelte sich zu einem kräftigen jungen Mann mit ausgeprägten Muskeln und guter Kondition. Dank des ständigen Einflusses des Barons waren fast alle Spuren der ehemaligen Atreides-Persönlichkeit ausgelöscht. Erasmus hatte persönlich das harte Training mit Kampfrobotern überwacht, das ebenfalls dazu gedacht war, aus ihm den Kwisatz Haderach zu machen.
Aber der Baron konnte sich immer noch nicht vorstellen, warum. Warum lag den Maschinen so viel an irgendeiner obskuren religiösen Gestalt aus der antiken Menschheitsgeschichte?
Erasmus gab ihnen mit einem Wink zu verstehen, sich auf die nächste Bank zu setzen. Die elektronische Musik und das Vogelgezwitscher um sie herum wurden lauter und intensiver, bis sich die Melodien ineinander verwoben. Wieder änderte sich der Gesichtsausdruck des Roboters, als würde er sich einer verträumten Stimmung hingeben. »Ist es nicht wunderschön? Ich habe es selbst komponiert.«
»Höchst beeindruckend.« Der Baron verachtete die Musik, weil sie zu glatt und friedlich war. Ihm wäre ein kakophones Stück mit mehr Dissonanzen lieber gewesen.
»Im Laufe der Jahrtausende habe ich wundervolle Kunstwerke und zahllose Illusionen geschaffen.« Erasmus' Gesicht und Körper veränderten sich, und er nahm eine völlig menschliche Gestalt an. Selbst die bunte und überflüssige Kleidung transformierte sich, bis der Roboter als matronenhafte alte Frau im Blümchenkleid mit einer Gartenschaufel in der Hand vor ihnen stand. »Das ist eine meiner Lieblingsgestalten. Ich habe sie immer mehr perfektioniert, indem ich immer mehr Informationen eingearbeitet habe, die wir von den Gestaltwandlern bekommen.«
Mit der Schaufel stach sie in ein simuliertes Beet neben der Bank und entfernte Unkraut. Der Baron war sich ganz sicher, dass es wenige Augenblicke zuvor noch nicht da gewesen war. Ein Wurm kroch aus der dunklen Erde, und die alte Frau zerteilte ihn mit der Schaufel in zwei Hälften. Beide Teile des sich windenden Tieres gruben sich wieder ein.
Ein sanfter Unterton lag nun in ihrer Stimme, ähnlich wie bei einer Großmutter, die ihren Enkeln eine Gutenachtgeschichte erzählte. »Vor langer Zeit – während deiner ersten Lebenszeit, mein lieber Baron – erschuf ein Tleilaxu-Forscher namens Hidar Fen Ajidica ein künstliches Gewürz, das er als Amal bezeichnete. Obwohl sich herausstellte, dass diese Substanz erhebliche Nachteile hatte, konsumierte Ajidica sie in großen Mengen. Das hatte zur Folge, dass er immer mehr dem Wahnsinn verfiel, was schließlich zu seinem Ableben führte.«
»Klingt nach einem Versager«, sagte Paolo.
»Oh, Ajidica scheiterte auf spektakuläre Weise, aber er hat etwas sehr Bedeutendes vollbracht. Man könnte es als Nebeneffekt bezeichnen. Als seine Sonderbotschafter erschuf er verbesserte Gestaltwandler, mit denen er neue Raumsektoren besiedeln wollte. Er schickte sie als Erkunder in den unbekannten Weltraum, als Kolonisten, als Wegbereiter. Er starb, bevor er ihnen folgen konnte. Dieser arme, dumme Mann.«
Die alte Frau hob die Schaufel auf, die in der Erde steckte. Als sie sich aufrichtete, hielt sie sich den Rücken, als hätte sie Schmerzen. »Die neuen Gestaltwandler fanden unser Maschinenimperium, und Omnius erlaubte mir, sie zu studieren. Ich habe über viele Generationen mit ihnen gearbeitet und gelernt, wie ich ihre Erfahrungen anzapfen kann. Es sind reizende biologische Maschinen, ihren Vorgängern weit überlegen. Ja, sie erweisen sich als äußerst hilfreich, diesen finalen Krieg zu gewinnen.«
Der Baron blickte sich im illusionären Garten um und sah andere Gestalten, einfache Arbeiter, die wie Menschen aussahen. Waren es die neuen Gestaltwandler? »Also habt ihr euch mit ihnen verbündet.«
Die alte Frau schürzte die Lippen. »Kein Bündnis. Sie sind Diener, nicht unsere Partner. Die Gestaltwandler wurden zum Dienen erschaffen. Für sie sind Omnius und ich Götter, größere Meister, als es die Tleilaxu je waren.« Erasmus schien einem Gedanken nachzuhängen. »Ich wünschte, sie hätten einen ihrer Meister mitgebracht, bevor die Geehrten Matres sie fast vollständig ausgerottet haben. Ein Gespräch mit ihnen wäre höchst aufschlussreich gewesen.«
Paulo brachte das Gespräch auf ein Thema zurück, das ihn interessierte. »Als finaler Kwisatz Haderach werde auch ich wie ein Gott sein.«
Erasmus lachte gackernd. »Hüte dich vor Größenwahn, junger Mann. Daran sind schon etliche Menschen zugrunde gegangen, zum Beispiel Hidar Fen Ajidica. Ich erwarte, bald den Schlüssel in der Hand zu haben, der dir hilft, dein Potenzial zu realisieren. Wir müssen den Gott befreien, der sich in dir verbirgt. Und dazu ist ein starker Katalysator nötig.«
»Welcher?«, wollte der junge Mann wissen.
»Ich vergesse ständig, wie ungeduldig ihr Menschen seid!« Die alte Frau klopfte sich das Blümchenkleid sauber. »Deshalb habe ich so viel Freude an den Gestaltwandlern. In ihnen sehe ich das Potenzial zur Perfektion der Menschen. Gestaltwandler sind möglicherweise die Sorte Mensch, die selbst Denkmaschinen dulden könnten.«
Der Baron schnaufte. »Menschen werden niemals perfekt sein! Glaub mir, ich habe viele gekannt, und alle waren in irgendeiner Hinsicht enttäuschend.« Rabban, Piter ... selbst Feyd hatte schließlich versagt.
Klammer dich selbst nicht aus, Großvater. Denk daran, dass du von einem kleinen Mädchen mit einer Giftnadel getötet wurdest. Ha ha!
Sei still! Der Baron kratzte sich nervös die Schädeldecke, als wollte er sich durch Fleisch und Knochen graben und seinen Quälgeist herausreißen. Alia verstummte.
»Ich fürchte, da könntest du recht haben, Baron. Es mag sein, dass die Menschen nicht zu retten sind, aber wir wollen nicht, dass Omnius das glaubt, weil er dann alle ausrotten würde.«
»Ich dachte, die Maschinen wären schon dabei, das zu tun«, sagte der Baron.
»Bis zu einem gewissen Grad. Omnius gibt sich alle Mühe, aber wenn wir das Nicht-Schiff finden, wird er zweifellos zur Sache kommen.« Die alte Frau grub Löcher in die Erde und setzte Sämlinge ein, die in ihrer Hand erschienen.
»Was ist so besonders an einem verlorenen Schiff?«, fragte der Baron.
»Unsere mathematischen Extrapolationen deuten darauf hin, dass sich der Kwisatz Haderach an Bord befindet.«
»Aber ich bin doch der Kwisatz Haderach!«, protestierte Paolo. »Ihr habt mich doch schon!«
Die alte Frau bedachte ihn mit einem ironischen Lächeln. »Du bist unser Ausweichplan, junger Mann. Omnius zieht stets die Sicherheit einer redundanten Lösung vor. Wenn es zwei mögliche Kwisatz Haderachs gibt, will er beide haben.«
Sein Gesicht war eine Maske des Missfallens, als der Baron die Finger knacken ließ. »Also glaubt ihr, dass sich ein weiterer Ghola von Paul Atreides in diesem Schiff befindet? Das ist nicht sehr wahrscheinlich!«
»Ich behaupte nur, dass sich ein anderer Kwisatz Haderach im Nicht-Schiff aufhält. Aber wenn wir einen Ghola von Paul Atreides haben, könnte es durchaus einen zweiten geben.«