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Ich bin der Hüter privaten Wissens und ungezählter Geheimnisse. Du wirst niemals wissen, was ich weiß! Ich würde dich bemitleiden, wenn du kein Ungläubiger wärst.
Erscheinung auf der Shariat-Straße,
apokrypher Tleilaxu-Text
Im riesigen Heighliner der Gilde ahnte keiner der Passagiere, was der Navigator und der Tleilaxu-Meister in seiner Gefangenschaft gewissermaßen vor den Nasen der anderen taten.
Die Bene-Gesserit-Hexen hatten ihre Gewürzvorräte als Druckmittel benutzt, um die Raumgilde in die Enge zu treiben und sie zur Suche nach drastischen Alternativen zu zwingen. Angesichts des drohenden Todes durch Gewürzentzug drängte die Fraktion der Navigatoren den Tleilaxu-Meister Waff zu größerer Eile bei der Bewältigung seiner Aufgabe. Waff verspürte ebenfalls den Drang, sich zu beeilen, da auch er zu sterben drohte, wenn auch aus anderen Gründen.
Waff wandte der Beobachtungslinse den Rücken zu und schluckte heimlich eine weitere Dosis Melange. Das zimtartige Pulver wurde ihm ausschließlich für wissenschaftliche Zwecke zur Verfügung gestellt. Auf Lippen und Zunge spürte er die brennende Substanz, und er schloss vor Ekstase die Augen. Bereits eine so geringe Menge – weniger als eine Prise – genügte heutzutage, um sich davon ein Haus auf einer Kolonialwelt zu kaufen! Der Tleilaxu spürte, wie neue Energie seinen kränklichen Körper durchströmte. Edrik würde ihm bestimmt nicht dieses bisschen Melange missgönnen, das ihm half, wieder klar zu denken.
Normalerweise lebten die Tleilaxu-Meister in immer neuen Körpern und erlangten durch die Gholas eine Form von Unsterblichkeit. Der Große Glaube hatte sie Geduld und die Fähigkeit zur Langzeitplanung gelehrt. Hatte nicht Gottes Bote selbst dreieinhalb Jahrtausende lang gelebt? Doch Waffs Wachstum im Axolotl-Tank war durch verbotene Techniken beschleunigt worden. Die Zellen seines Körpers verbrannten schneller als unter normalen Umständen, sodass er in nur wenigen Jahren von der Kindheit zur Reife gelangt war. Waffs Gedächtnisrekonstruktion war unvollständig gewesen und hatte nur Fragmente seiner früheren Leben und seiner Erfahrung zurückgebracht.
Auf der Flucht vor den Geehrten Matres war Waff gezwungen gewesen, sich in die Obhut der Navigatoren zu begeben. Schließlich hatten Edrik und seine Gefährten die finanziellen Mittel beigesteuert, damit er überhaupt als Ghola wiederbelebt werden konnte. Warum sollte er also nicht bei ihnen um Asyl ersuchen? Obwohl der kleine Mann sich nicht erinnerte, wie man Melange in Axolotl-Tanks herstellte, behauptete er, das Unmögliche bewerkstelligen zu können – er würde die angeblich ausgestorbenen Sandwürmer zurückbringen. Eine wesentlich spektakulärere und dringender benötigte Lösung.
Im isolierten Labor an Bord des Heighliners hatte Edrik ihm alle Forschungsinstrumente, technischen Systeme und Genproben zur Verfügung gestellt, die er nach menschlichem Ermessen brauchte. Waff tat, was die Navigatoren von ihm verlangten. Die Rekonstruktion der großartigen Würmer, die auf Rakis ausgerottet worden waren, ermöglichte ihm die Verwirklichung gleich zweier Ziele: die Herstellung von Gewürz und die Wiederauferstehung seines Propheten.
Ich muss es schaffen! Ein Scheitern kommt nicht in Frage.
Angesichts seiner beschleunigten körperlichen Entwicklung würde Waff nur noch für kurze Zeit in bester Verfassung sein, was seine Gesundheit und seine geistige Klarheit betraf. Bevor die unvermeidliche schnelle Degeneration einsetzte, musste er noch sehr viel leisten. Die gewaltige Verantwortung trieb ihn an.
Konzentriere dich!
Er stieg auf einen Hocker und lugte in einen Tank aus Plazwänden, der mit Originalsand von Rakis gefüllt war. Der Wüstenplanet. Aufgrund der religiösen Bedeutung des Planeten begnügten sich Pilger, die sich die interstellare Reise nicht leisten konnten, mit Reliquien, Steintrümmern von Muad'dibs Palast oder aus Gewürzfasern gewobenen Stofffetzen, die mit den Weisheiten Letos II. bestickt waren. Selbst die ärmsten der frommen Anhänger wollten eine Probe vom Rakis-Sand, um damit die Fingerspitzen zu bestäuben und sich vorzustellen, dem Zerlegten Gott näher zu sein. Die Navigatoren hatten mehrere hundert Kubikmeter echten Sandes vom Wüstenplaneten erworben. Obwohl es zweifelhaft war, dass der Ursprung der Sandkörner irgendeinen Einfluss auf die Sandwurmexperimente hatte, zog Waff es vor, möglichst viele potenzielle Störfaktoren zu eliminieren.
Er beugte sich über den offenen Tank, sammelte Speichel in der Mundhöhle und ließ einen Tropfen in den weichen Sand fallen. Wie Piranhas in einem Aquarium rührte sich etwas unter der Oberfläche und schlängelte sich auf die plötzlich aufgetauchte Feuchtigkeit zu. An einem anderen Ort vor langer Zeit war Spucken – die Opferung eigener Körperflüssigkeit – unter den Fremen ein Zeichen von Respekt gewesen. Waff benutzte es nun, um die Sandforellen ans Licht zu locken.
Kleine Bringer. Sandforellen, die weitaus kostbarer waren als der Sand vom Wüstenplaneten.
Vor Jahren hatte die Gilde ein geheimes Schiff der Bene Gesserit abgefangen, das im Frachtraum Sandforellen transportiert hatte. Als sich die Hexen an Bord geweigert hatten, über ihre Mission zu reden, waren alle getötet und die Sandforellen konfisziert worden, und auf Ordensburg wusste niemand, was geschehen war.
Als Waff erfahren hatte, dass die Gilde ein paar der unausgereiften Sandwurmlarven besaß, hatte er verlangt, sie für seine Arbeit benutzen zu dürfen. Obwohl er sich nicht erinnern konnte, wie man mit einem Axolotl-Tank Melange herstellte, hatte dieses Experiment ein viel größeres Potenzial. Wenn er neue Würmer erschaffen konnte, würde er nicht nur das Gewürz, sondern den Propheten selbst zurückbringen!
Ohne Furcht vor den Sandforellen griff er mit der Hand ins Terrarium. Er packte eins der ledrigen Geschöpfe und zog das zappelnde Lebewesen aus dem Sand. Als sie die Feuchtigkeit auf Waffs Haut spürte, wickelte sich die Sandforelle um seine Finger, die Handfläche und das Handgelenk. Sie veränderte ständig ihre Gestalt, während er gegen die weiche Oberfläche stupste.
»Kleine Sandforelle, welche Geheimnisse kannst du mir verraten?« Er ballte die Hand zur Faust, und das Wesen umfloss sie, bis es sich wie ein geleeartiger Handschuh anfühlte. Waff spürte, wie seine Haut langsam austrocknete.
Er trug die Sandforelle zu einem sauberen Labortisch und stellte eine flache Schale bereit. Er versuchte das Geschöpf von der Hand zu ziehen, doch jedes Mal floss die Membran wieder zurück. Inzwischen fühlte sich seine Hand wie ausgedörrt an. Also goss er etwas Wasser in die Schale. Die Sandforelle ließ sich von der größeren Feuchtigkeitsmenge anlocken und hineinfallen.
Für Sandwürmer war Wasser ein tödliches Gift, aber nicht für das Larvenstadium dieser Lebewesen. Die Sandforellen hatten eine völlig andere Biochemie, bevor ihre Metamorphose zum Erwachsenenstadium einsetzte. Es war paradox. Wie konnte etwas in einem Stadium des Lebenszyklus geradezu gierig nach Wasser sein, während es später davon getötet wurde?
Waff spannte die Finger, um das unnatürliche Gefühl der Trockenheit zu vertreiben, während er fasziniert beobachtete, wie das Wesen das Wasser umschloss. Instinktiv hortete die Larve Feuchtigkeit, um eine völlig trockene Umwelt für die erwachsenen Exemplare der Spezies zu schaffen. Aus Erinnerungen an frühere Leben, die ihm geblieben waren, wusste er von uralten Experimenten der Tleilaxu zur Überwachung und Umsiedlung von Sandwürmern. Normale Versuche, ausgewachsene Würmer auf trockene Planeten zu verpflanzen, waren jedes Mal gescheitert. Selbst die extremsten Trockenregionen waren immer noch zu feucht für eine so empfindliche Lebensform wie die Sandwürmer.
Doch nun verfolgte er eine andere Strategie. Statt die Welten zu verändern, auf denen Sandwürmer angesiedelt werden sollten, konnte er vielleicht etwas an den Würmern im Larvenstadium ändern, damit sie sich besser an ihre Umgebung anpassten. Die Tleilaxu verstanden die Sprache Gottes, und mit ihrem genetischen Talent hatten sie schon viele Male scheinbar Unmögliches hervorgebracht. War Leto II. nicht Gottes Prophet gewesen? Es war Waffs heilige Pflicht, Ihn in die Welt zurückzubringen.
Das Prinzip und die Chromosomenmechanik schienen sehr einfach zu sein. An irgendeinem Punkt der Entwicklung der Sandforellen veränderte ein biochemischer Schalter die Reaktion des Organismus auf etwas so Simples wie Wasser. Wenn er diesen Schalter fand und ihn blockieren konnte, müsste die Sandforelle nach der Metamorphose nicht mehr so empfindlich darauf reagieren. Das wäre in der Tat ein Wunder!
Aber würde sich eine Raupe, wenn man sie daran hinderte, einen Kokon zu spinnen, immer noch in einen Schmetterling verwandeln? Waff würde äußerst behutsam vorgehen müssen.
Wenn er verstand, was die Hexen auf Ordensburg getan hatten, wäre er einen großen Schritt weiter. Sie hatten eine Möglichkeit gefunden, Sandforellen in einer planetaren Umwelt freizusetzen – der Heimatwelt der Bene Gesserit. Dort vermehrten sich die Wurmlarven und lösten einen Prozess aus, mit dem das komplette Ökosystem verändert wurde. Aus einer grünen Welt wurde eine Trockenzone. Am Ende würden sie den ganzen Planeten in eine Wüste verwandelt haben, in der die Sandwürmer überleben konnten.
Auf diese Fragen folgten viele weitere, eine nach der anderen. Warum hatten die Bene-Gesserit-Schwestern Sandforellen an Bord ihrer Flüchtlingsschiffe? Wollten sie sie zu anderen Welten bringen und auf diese Weise noch mehr Wüstenplaneten erschaffen? Weitere Lebensräume für die Würmer? Ein solcher Plan konnte nur in einer großen gemeinsamen Anstrengung bewältigt werden. Es würde Jahrzehnte dauern, bis er Früchte trug, und dazu musste das gesamte einheimische Leben eines Planeten geopfert werden. Sehr ineffektiv.
Waff war auf eine viel schnellere Lösung gekommen. Wenn er eine Variante der Sandwürmer züchten konnte, die Wasser vertrug, vielleicht sogar darin gedieh, konnten die Geschöpfe auf zahllose Welten gebracht werden, wo sie heranwachsen und sich vermehren würden. Die Würmer mussten nicht die komplette Ökologie eines Planeten umstrukturieren, bevor sie mit der Produktion von Melange beginnen konnten. Allein dadurch ließen sich Jahrzehnte überspringen, die Waff nicht hatte. Seine modifizierten Würmer würden mehr Gewürz produzieren, als die Navigatoren der Gilde jemals verbrauchen konnten – und gleichzeitig würden sie Waffs Zwecken dienen.
Hilf mir, Prophet!
Die Sandforelle hatte sämtliches Wasser absorbiert, das sich in der Schale befunden hatte, und bewegte sich nun zum Rand, um die Grenzen des Gefäßes zu erkunden. Waff holte Forschungsinstrumente und Chemikalien – Alkohole, Säuren, Brenner und seine Probenextraktoren.
Der erste Schnitt war der schwierigste. Dann machte er sich an die Arbeit, dem formlosen, sich windenden Geschöpf auf jede erdenkliche Art die genetischen Geheimnisse zu entreißen.
Er hatte die besten DNS-Analysegeräte und Gensequenzierer, die die Gilde hatte beschaffen können ... und sie waren in der Tat äußerst leistungsfähig. Es dauerte sehr lange, bis die Sandforelle gestorben war, aber Waff war davon überzeugt, dass der Prophet sein Tun gutheißen würde.